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TVR 2022 Nr. 31

Drittauszahlung bzw. Verrechnung von Rentennachzahlungen der IV mit Lohnzahlungen des Arbeitgebers


Art. 85bis IVV Art. 22 Abs. 2 ATSG


Arbeitgeber, welche im Hinblick auf eine Rente der Invalidenversicherung Vorschussleistungen erbracht haben, können verlangen, dass die Nachzahlung dieser Rente bis zur Höhe ihrer Vorschussleistung verrechnet und an sie ausbezahlt wird (Art. 22bis Abs. 1 IVV). Als Vorschussleistungen gelten insbesondere vertraglich oder aufgrund eines Gesetzes erbrachte Leistungen, soweit aus dem Vertrag oder dem Gesetz ein eindeutiges Rückforderungsrecht infolge der Rentennachzahlung abgeleitet werden kann. Die Nachzahlung darf der bevorschussenden Stelle (i.c. Arbeitgeber) höchstens im Betrag der Vorschussleistung und für den Zeitraum, in welchem diese erbracht worden ist, ausbezahlt werden. § 105 Abs. 1 der Vollzugsverordnung zum Personalgesetz des Kantons Zürich (VVO PG ZH; LS 177.111) statuiert ein eindeutiges Rückforderungsrecht im Sinne von Art. 85bis Abs. 2 lit. b IVV. Auch die Voraussetzung der Periodizität ist bezüglich der infolge Krankheit der Beschwerdeführerin ausgerichteten Lohnzahlungen gegeben, weshalb dem Verrechnungsantrag des Arbeitgebers im vorliegenden Fall zu Recht stattgegeben wurde.     


A, geboren am 26. Oktober 1967, war seit 1. Mai 1996 als diplomierte Pflegefachfrau beim Spital S (Verfahrensbeteiligter) tätig. Ab dem 27. November 2017 wurde ihr eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit attestiert. Mit Schreiben vom 8. Januar 2019 kündigte das Spital S das Arbeitsverhältnis per 31. Juli 2019. Zuvor, am 9. Mai 2018, hatte sich A bereits bei der IV-Stelle des Kantons Thurgau zum Leistungsbezug angemeldet. Mit Verfügungen vom 30. November 2021 sprach ihr die IV-Stelle vom 1. November 2018 bis 30. Juni 2020 eine ganze Rente und vom 1. Juli bis 30. November 2020 eine Dreiviertelsrente der Invalidenversicherung samt Kinderrente für ihren Sohn B zu. Die Nachzahlung der Rentenbetreffnisse verrechnete die Verwaltung im Umfang von Fr. 2'858.-- mit einer Rückforderung des Spitals S (Lohnfortzahlung November 2018). Dagegen erhob A Beschwerde und beantragte, es sei die Direktzahlung an den Arbeitgeber gestützt auf die Auszahlungsabrechnung für den Monat November 2018 aufzuheben. Das Verwaltungsgericht als Versicherungsgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.

 

Aus den Erwägungen:

 

1.2 Von der Beschwerdeführerin wird einzig die vorgenommene Verrechnung der nachbezahlten Rentenbetreffnisse mit einer Rückforderung des Verfahrensbeteiligten in der Höhe von Fr. 2'858.-- (Lohnfortzahlung November 2018) in Frage gestellt. Soweit im Zusammenhang damit der Bestand respektive die Höhe der Rückerstattungsforderung - was folglich das Rechtsverhältnis zwischen der Beschwerdeführerin und dem Verfahrensbeteiligten betrifft - im Streit liegt, ist darauf hinzuweisen, dass dies grundsätzlich nicht im IV-Verfahren zu überprüfen ist. Der Beschwerdegegnerin fehlt es insbesondere an einer diesbezüglichen Verfügungsbefugnis, weshalb - wie vorliegend - im Bestreitungsfall auch das hiesige Gericht nicht befugt ist, über den geltend gemachten Ersatzanspruch materiell zu entscheiden (vgl. Urteil des EVG I 296/03 vom 21. Oktober 2004 E. 4.2 bis 4.4 mit weiteren Hinweisen). Die Beschwerdeführerin kann folglich auch keine eigenen Forderungen aus arbeitsrechtlichen Streitigkeiten der - durch den Verfahrensbeteiligten verrechnungsweise geltend gemachten - Rückerstattungsforderung entgegenhalten (vgl. Urteil des Bundesgerichts 9C_794/2020 vom 19. April 2021 E. 6.2). Auf die entsprechenden Rechtsbegehren kann damit (…) nicht eingetreten werden.

 

1.3 und 1.4 (…)

 

2.

2.1 Die Zulässigkeit der hier zur Diskussion stehenden Drittauszahlung an den Verfahrensbeteiligten (…) als vormaligen Arbeitgeber der Beschwerdeführerin, beurteilt sich nach Art. 85bis IVV, der seine gesetzliche Grundlage nunmehr in Art. 22 Abs. 2 ATSG findet (vgl. BGE 136 V 286 E. 5.2). Abs. 1 der Verordnungsbestimmung sieht vor, dass unter anderem Arbeitgeber, welche im Hinblick auf eine Rente der Invalidenversicherung Vorschussleistungen erbracht haben, verlangen können, dass die Nachzahlung dieser Rente bis zur Höhe ihrer Vorschussleistung verrechnet und an sie ausbezahlt wird (Satz 1). Die bevorschussenden Stellen haben ihren Anspruch mit besonderem Formular frühestens bei der Rentenanmeldung und spätestens im Zeitpunkt der Verfügung der IV-Stelle geltend zu machen (Satz 3). Nach Abs. 2 von Art. 85bis IVV gelten als Vorschussleistungen freiwillige Leistungen, sofern die versicherte Person zu deren Rückerstattung verpflichtet ist und sie der Auszahlung der Rentennachzahlung an die bevorschussende Stelle schriftlich zugestimmt hat (lit. a), sowie vertraglich oder aufgrund eines Gesetzes erbrachte Leistungen, soweit aus dem Vertrag oder dem Gesetz ein eindeutiges Rückforderungsrecht infolge der Rentennachzahlung abgeleitet werden kann (lit. b). Die Nachzahlung darf nach Abs. 3 der bevorschussenden Stelle höchstens im Betrag der Vorschussleistung und für den Zeitraum, in welchem diese erbracht worden ist, ausbezahlt werden.

 

2.2 Gemäss § 43 lit. c des Personalgesetzes des Kantons Zürich (PG ZH; LS 177.10) regelt der Regierungsrat den Anspruch auf Lohnzahlung unter anderem bei Krankheit und Unfall. Gestützt darauf hat er die §§ 99 ff. der Vollzugsverordnung zum Personalgesetz (VVO PG ZH; LS 177.111) betreffend Krankheit und Unfall erlassen. § 99 Abs. 3 VVO PG ZH sieht vor, dass bei ganzer oder teilweiser Arbeitsunfähigkeit vom dritten Dienstjahr an Anspruch auf den vollen Lohn während längstens zwölf Monaten besteht. Wird wegen Krankheit oder Unfalls eine Rente der Invalidenversicherung zugesprochen, hat der Kanton das Recht, den Lohn, den er trotz fehlender oder eingeschränkter Arbeitsfähigkeit geleistet hat, bis zum Betrag der für die entsprechende Periode nachzuzahlenden Rente beim Versicherer zurückzufordern (§ 105 Abs. 1 VVO PG ZH).

 

3.

3.1 Die seit 1996 für den Verfahrensbeteiligten tätige Beschwerdeführerin ist seit 27. November 2017 arbeitsunfähig, weshalb sie Anspruch auf Lohnfortzahlung bis 27. November 2018 hat (§ 99 Abs. 3 VVO PG ZH). Vor diesem Hintergrund ist zu prüfen, ob nach Art. 85bis Abs. 2 lit. b IVV aus dem Gesetz ein eindeutiges Rückforderungsrecht des Verfahrensbeteiligten abgeleitet werden kann. Diesbezüglich hat das Bundesgericht bestätigt, dass § 105 Abs. 1 VVO PG ZH ein eindeutiges Rückforderungsrecht im Sinne von Art. 85bis Abs. 2 lit. b IVV vermittelt (Urteil des EVG I 369/03 vom 22. September 2003 E. 4.3 und Urteil des Bundesgerichts 9C_96/2011 vom 31. März 2011 E. 3.3). Auf die zitierten Urteile des EVG bzw. des Bundesgerichts, die auch für den vorliegenden Fall einschlägig sind, kann verwiesen werden, weshalb sich weitere Ausführungen hierzu erübrigen.

 

3.2 Aus den Akten ist ersichtlich, dass der Verrechnungsantrag des Verfahrensbeteiligten am 15. Oktober 2021 bei der Beschwerdegegnerin eingegangen ist. Er wurde damit vor Erlass der IV-Verfügung und folglich rechtzeitig gestellt (vgl. Art. 85bis Abs. 1 IVV). Der Verrechnungsantrag wurde auch vor dem durch die Ausgleichskasse gesetzten Termin (26. Oktober 2021) zurückgesandt, nach welchem Letztere berechtigt gewesen wäre, mit befreiender Wirkung auszuzahlen. (…)

 

3.3 Aus dem Verrechnungsantrag des Verfahrensbeteiligten geht hervor, dass dieser für vom 1. November 2018 bis 30. November 2018 ausgerichtete Zahlungen gestellt wurde. Diesbezüglich ergibt sich aus den Akten und wird von der Beschwerdeführerin im Grundsatz auch nicht bestritten, dass Letztere für November 2018 eine Lohnzahlung in der Höhe von Fr. 6'274.50 (Auszahlung am 23. November 2018) erhalten hat. Die beantragte und in der Höhe von Fr. 2'858.-- gewährte Verrechnung überschreitet diesen Betrag nicht und gibt auch in zeitlicher Hinsicht zu keinen Beanstandungen Anlass. So ist der Beschwerdeführerin zwar insoweit zuzustimmen, dass die vom Arbeitgeber erbrachte Vorschussleistung bis zum Betrag der für die gleiche Periode nachzuzahlenden Renten direkt zurückerstattet wird. "Die gleiche Periode" respektive "zeitliche Kongruenz" bedeutet indes, dass die gesamte Verrechnungszeitspanne als einheitliches Ganzes zu behandeln und die Rentennachzahlung nicht nach Monaten oder Kalenderjahren aufzuteilen ist (Rz. 10063 und 10063.1 RWL, Stand 1. Juli 2022,). Da die die Beschwerdeführerin betreffenden nachbezahlten Rentenbetreffnisse die Verrechnungsforderung um ein Mehrfaches übersteigen, könnte grundsätzlich auf eine Verrechnung mit der nachbezahlten Kinderrente verzichtet werden. Angesichts des Alters des Sohnes B (geboren am 20. März 2001) wäre aber eine Verrechnung auch mit der Kinderrente ohne weiteres möglich (Rz. 10074 RWL). Sodann besteht im Umstand, dass im Rahmen des Verrechnungsverfahrens die Ausgleichskasse tätig war, entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin kein Verfahrensmangel, zumal die Ausgleichskasse für die Berechnung und Auszahlung der IV-Rente zuständig ist (Art. 44 IVV).

 

Entscheid des Verwaltungsgerichts als Versicherungsgericht VV.2021.291/E vom 6. Juli 2022


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