TVR 2022 Nr. 32
Anspruchsberechnung; Reinvermögen; Berücksichtigung des Rückforderungsbetrags für unrechtmässig bezogene Ergänzungsleistungen als Schuld
Ein Rückforderungsbetrag für unrechtmässig bezogene Ergänzungsleistungen (Art. 25 Abs. 1 ATSG) ist in der Anspruchsberechnung vom Vermögen in Abzug zu bringen. Der Abzug ist vorzunehmen, sobald die Rückerstattungsschuld verfügungsweise festgestellt und beziffert ist.
Die Ausgleichskasse berechnete den Anspruch auf Ergänzungsleistungen von R neu und forderte einen Betrag von insgesamt Fr. 101'333.-- für zu viel bezogene Ergänzungsleistungen (EL) zurück. Mit Einspracheentscheid vom 28. Februar 2022 vereinigte sie diverse Verfahren und hiess die erhobenen Einsprachen teilweise gut. Sie berechnete den EL-Anspruch von R neu und stellte einen Rückforderungsbetrag für die Perioden vom 1. September 2017 bis 30. Juni 2021 und vom 1. September 2021 bis 30. November 2021 im Umfang von Fr. 102'451.-- fest. Das Verwaltungsgericht heisst die Beschwerde gut, hebt den angefochtenen Einspracheentscheid auf und weist die Sache zur Neuberechnung an die Ausgleichskasse zurück.
Aus den Erwägungen:
3.
3.1 Strittig ist der EL-Anspruch der Beschwerdeführerin ab 1. Juli 2021 und ab 1. Januar 2022, wobei die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerde einzig noch geltend macht, der Rückforderungsbetrag für zu Unrecht bezogene Ergänzungsleistungen (Art. 25 Abs. 1 ATSG) sei als Schuld in der Anspruchsberechnung zu berücksichtigen. Den Rückerstattungsanspruch der Beschwerdegegnerin stellt sie nicht in Frage, ebenso wenig die übrigen im angefochtenen Entscheid beurteilten Berechnungspositionen.
3.2 - 3.3 (…)
3.4 Bei der Bestimmung des Reinvermögens nach Art. 11 Abs. 1 lit. c ELG sind gemäss der Rechtsprechung die Schulden des EL-Ansprechers oder -Bezügers vom rohen Vermögen abzuziehen. Dazu zählen unter anderem Hypothekarschulden, Kleinkredite bei Banken und Darlehen zwischen Privaten sowie Steuerschulden. Die Schuld muss tatsächlich entstanden sein, ihre Fälligkeit ist nicht vorausgesetzt. Ungewisse Schulden oder Schulden, deren Höhe noch nicht feststeht, können nicht abgezogen werden. Die Schuld muss einwandfrei belegt sein. Nach Art. 17 Abs. 1 ELV (i.V. mit Art. 9 Abs. 5 lit. b ELG) ist das anrechenbare Vermögen nach den Grundsätzen der Gesetzgebung über die direkte kantonale Steuer für die Bewertung des Vermögens im Wohnsitzkanton zu bewerten. Auf derselben Grundlage beurteilt sich, naheliegenderweise, ob eine Schuld vom rohen Vermögen abzuziehen ist. Gemäss Art. 13 Abs. 1 StHG und § 41 Abs. 1 StG unterliegt das gesamte Reinvermögen der Vermögenssteuer. Der Begriff des gesamten Reinvermögens ist bundesrechtlicher Natur und somit für die Kantone verbindlich. Darunter ist die positive Differenz zwischen den Aktiven und den Schulden der steuerpflichtigen Person zu verstehen. Alle Schulden können abgezogen werden, soweit sie im massgebenden Zeitpunkt tatsächlich und nicht bloss möglicherweise bestehen und ihr Rechts- und Entstehungsgrund erfüllt ist; Fälligkeit ist nicht vorausgesetzt. Weiter können lediglich Schulden berücksichtigt werden, welche die wirtschaftliche Substanz des Vermögens belasten. Das trifft zu, wenn der Schuldner ernsthaft damit zu rechnen hat, dass er sie begleichen muss (BGE 142 V 311 E. 3.1 und 3.3).
3.5 (…)
4.
4.1 Die Beschwerdegegnerin vertritt die Auffassung, Rückforderungen von unrechtmässig bezogenen Ergänzungsleistungen seien nicht als Schulden vom Vermögen abzugsfähig, dies aus folgenden Gründen: Berücksichtige man die offene EL-Rückforderung seit dem Zeitpunkt der Verfügung der Rückforderung als Schuld, wäre das in der EL-Berechnung berücksichtigte Vermögen und dementsprechend der EL-Anspruch gleich hoch, wie wenn die Rückforderung bereits beglichen worden wäre. Gleichzeitig würden Versicherte, welche die EL-Rückforderung nicht begleichen, effektiv über ein höheres Vermögen verfügen, da der Rückforderungsbetrag nicht bezahlt worden sei. Weiter würde die Berücksichtigung der EL-Rückforderung als Schuld zu einem höheren Anspruch auf Ergänzungsleistungen führen. Im Falle von zu Unrecht bezogenen Ergänzungsleistungen wäre ein solches Ergebnis stossend, zumal die Rückerstattung der zu Unrecht bezogenen Leistungen nicht sichergestellt sei. Dies würde den falschen Anreiz schaffen, eine Rückforderung nicht zu begleichen. Vor diesem Hintergrund rechtfertige es sich, bei der EL-Berechnung ausschliesslich bereits zurückbezahlte Ergänzungsleistungen vermögensmindernd zu berücksichtigen.
4.2 Die Beschwerdeführerin bestreitet dies. Insbesondere steuerrechtlich sei die Rückerstattungsschuld abzugsfähig.
4.3 Das Bundesgericht beanstandete im Urteil 9C_556/2016 vom 20. Januar 2017 das (vorinstanzliche) Vorgehen, eine verfügte Rückerstattung von unrechtmässig bezogenen Leistungen nicht zu berücksichtigen. Es führte aus, dass das aus der güter- und erbrechtlichen Auseinandersetzung resultierende Vermögen bei der Berechnung der Ergänzungsleistung vollumfänglich zu berücksichtigen sei. In E. 3.2 hielt es fest, dass die Grundsätze bei der Vorschlagsberechnung, wonach die auf der Errungenschaft lastenden Schulden, wozu unter anderem rechtskräftig verfügte Rückforderungen von Sozialversicherungsleistungen gehören, zu berücksichtigen seien (Art. 210 Abs. 1 ZGB, sinngemäss auch im EL-rechtlichen Kontext geltend). Ferner erachtete das Bundesgericht die vermögensmindernde Berücksichtigung einer in Bestand und Höhe ausgewiesenen Schuld gegenüber der Sozialhilfebehörde als geboten, unabhängig davon, ob sie grundpfandgesichert ist oder nicht (Urteil des Bundesgerichts 9C_365/2018 vom 12. September 2018 E. 5.6 f.). Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund überzeugt die Auffassung der Beschwerdegegnerin nicht. Die Rückerstattungspflicht für die seit 1. September 2017 unrechtmässig bezogenen Ergänzungsleistungen stand mit Verfügung vom 1. Juli 2021 fest und wurde von der Beschwerdeführerin in ihrer Einsprache vom 2. August 2021 nicht angefochten. Sie machte lediglich geltend, auf eine Stundung angewiesen zu sein. Es handelt sich somit um nachgewiesene und nicht ungewisse, betraglich noch nicht feststehende Schulden. Es erweist sich daher als gerechtfertigt, den Rückerstattungsbetrag für unrechtmässig bezogene Ergänzungsleistungen (Art. 25 Abs. 1 ATSG) als Schuld im Rahmen der Bestimmung des Leistungsanspruchs vom rohen Vermögen in Abzug zu bringen. Der Abzug ist vorzunehmen, sobald die Rückerstattungsschuld verfügungsweise festgestellt und beziffert ist (vgl. auch Urteil des Sozialversicherungsgerichts Zürich ZL.2019.00053 vom 28. September 2020 E. 4.3).
4.4 Vorliegend hat die Beschwerdegegnerin den Rückerstattungsbetrag in der Verfügung vom 1. Juli 2021 festgestellt. Die Rückerstattungsschuld ist daher ab diesem Zeitpunkt entstanden und folglich auch ab dann in der Anspruchsberechnung der Beschwerdeführerin von ihrem Vermögen in Abzug zu bringen (Art. 25 Abs. 2 lit. d ELV). Entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin sind nicht nur tatsächlich geleistete Rückzahlungen zu berücksichtigen. Vielmehr vermindert sich die Rückerstattungsschuld in dem Ausmass, wie eine Rückzahlung geleistet wird und im gleichen Umfang bildet sich dann das Wertschriftenvermögen zurück. Daher kann die Berücksichtigung der Rückerstattungsforderung der Beschwerdegegnerin als Schuld nicht mit der Begründung verweigert werden, dies würde den falschen Anreiz schaffen, eine Rückforderung nicht zu begleichen. Damit vermischt die Beschwerdegegnerin die Anwendung von Art. 17 Abs. 1 ELV mit der Vollstreckung ihrer Rückerstattungsforderung. Diese ist gemäss den Vorschriften des SchKG vorzunehmen, sofern und soweit sie nicht bezahlt wird.
4.5 Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und der angefochtene Einspracheentscheid vom 28. Februar 2022 aufzuheben. Die Sache ist an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen, damit sie den Anspruch der Beschwerdeführerin auf jährliche Ergänzungsleistungen ab 1. Juli 2021 und ab 1. September 2021 sowie ab 1. Januar und ab 1. Februar 2022 unter Berücksichtigung des Rückerstattungsbetrags für unrechtmässig bezogene Ergänzungsleistungen ab 1. September 2017 als abzugsfähige Schuld neu berechnet.
Entscheid des Verwaltungsgerichts als Versicherungsgerichts VV.2022.70/E vom 27. April 2022