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TVR 2022 Nr. 4

Gesuch um Kantonswechsel bei hängigem Verfahren betreffend Widerruf der Aufenthaltsbewilligung im Vorkanton; keine Verfahrenssistierung


Art. 37 AIG


Bei hängigem Widerrufsverfahren im Vorkanton ist auf ein Gesuch um Kantonswechsel nicht einzutreten. Eine Sistierung des Verfahrens betreffend Gesuch um Kantonswechsel rechtfertigt sich nicht.


F, Staatsangehörige von Nordmazedonien, reiste am 2018 in die Schweiz ein und heiratete den Schweizer Bürger S. In der Folge erhielt sie vom Kanton Zürich eine Aufenthaltsbewilligung im Rahmen des Familiennachzugs zum Verbleib beim Ehemann. Am 11. Februar 2021 wurde F aufgrund der Aufgabe der ehelichen (Wohn-) Gemeinschaft der Widerruf der Aufenthaltsbewilligung in Aussicht gestellt. Seit Februar 2021 wohnt F im Kanton Thurgau bei der Familie Z. Am 27. April 2021 ersuchte sie das Migrationsamt des Kantons Thurgau um Bewilligung des Kantonswechsels. Mit Verfügung vom 15. Juli 2021 widerrief das Migrationsamt des Kantons Zürich die Aufenthaltsbewilligung von F und wies sie aus der Schweiz weg. Dagegen erhob F Rekurs. Das Verfahren ist hängig. Mit Entscheid vom 13. September 2021 trat das Migrationsamt des Kantons Thurgau auf das Gesuch von F um Bewilligung des Kantonswechsels nicht ein. Sie wurde verpflichtet, den Kanton Thurgau umgehend zu verlassen und in den bisherigen Bewilligungskanton zurückzukehren. Sie habe das hängige ausländerrechtliche Widerrufsverfahren dort abzuwarten. Den dagegen erhobenen Rekurs von F wies das DJS ab. Das Verwaltungsgericht weist die Beschwerde ab.

 

Aus den Erwägungen:

 

2.

2.1 Strittig ist, ob die Vorinstanz den Nichteintretensentscheid des verfahrensbeteiligten Amtes zu Recht bestätigt hat oder ob das Gesuch um Kantonswechsel vom verfahrensbeteiligten Amt materiell-rechtlich zu prüfen bzw. das Verfahren zu sistieren gewesen wäre.

 

2.2 Die ausländerrechtlichen Aufenthaltsbewilligungen werden von den Kantonen erteilt (Art. 40 Abs. 1 AIG). Personen mit einer Kurzaufenthaltsbewilligung, einer Aufenthalts- oder einer Niederlassungsbewilligung können ihren Wohnort innerhalb des Kantons, der die Bewilligung erteilt hat, frei wählen (Art. 36 AIG). Ausländerinnen und Ausländer können nur in einem Kanton eine Kurzaufenthalts-, Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung besitzen. Die Bewilligungen gelten für das Gebiet des Kantons, der sie ausgestellt hat (Art. 66 VZAE). Wollen Personen mit einer Kurzaufenthaltsbewilligung oder einer Aufenthaltsbewilligung ihren Wohnort in einen anderen Kanton verlegen, so müssen sie im Voraus eine entsprechende Bewilligung des neuen Kantons beantragen (Art. 37 Abs. 1 AIG). Personen mit einer Aufenthaltsbewilligung haben Anspruch auf den Kantonswechsel, wenn sie nicht arbeitslos sind und keine Widerrufsgründe nach Art. 62 Abs. 1 AIG vorliegen (Art. 37 Abs. 2 AIG). Für einen vorübergehenden Aufenthalt in einem anderen Kanton ist keine Bewilligung erforderlich (Art. 37 Abs. 4 AIG). Aus diesen Bestimmungen ergibt sich zwingend, dass der Wohnortskanton zuständig ist für die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung (Urteil des Bundesgerichts 2C_322/2019 vom 15. April 2019 E. 3.1). Wer vorsätzlich oder fahrlässig ohne erforderliche Bewilligung den Wohnort in einen anderen Kanton verlegt, wird mit Busse bestraft (Art. 120 Abs. 1 lit. c AIG).

 

2.3 Nach Art. 61 Abs. 1 AIG erlischt die Aufenthaltsbewilligung unter anderem mit der Erteilung einer Bewilligung in einem anderen Kanton (lit. b) oder mit Ablauf der Gültigkeitsdauer der Bewilligung (lit. c).

 

3. (…)

 

4.

4.1 Die Vorinstanz erwog, das Gesuch der Beschwerdeführerin könne materiell-rechtlich nicht geprüft werden, weil ihre Aufenthaltsbewilligung am 24. Oktober 2021 erloschen sei. Dem ist mit der Beschwerdeführerin entgegenzuhalten, dass die Voraussetzung der gültigen Aufenthaltsbewilligung (hierzu nachstehend E. 4.3.1) im Zeitpunkt des erstinstanzlichen Entscheids und nicht auch noch im Zeitpunkt des Rekursentscheids vorzuliegen hat (vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_322/2019 vom 15. April 2019 E. 3.3). Im Zeitpunkt des Entscheids des verfahrensbeteiligten Amtes am 13. September 2021 verfügte die Beschwerdeführerin über eine gültige Aufenthaltsbewilligung (gültig bis 24. Oktober 2021).

 

4.2 Der Kantonswechsel ist für Kurzaufenthalter und Aufenthalter "im Voraus" zu beantragen, was ihnen das Abwarten des Bewilligungsverfahrens im bisherigen Kanton vorschreibt (Bolzli, in: Spescha et al. [Hrsg.], Kommentar Migrationsrecht, 5. Aufl., 2019, Art. 37 N. 6). In Lehre und Rechtsprechung wird allerdings nicht ausdrücklich erwähnt, dass das im Voraus einzureichende Gesuch eine eigentliche Voraussetzung für eine Bewilligung des Kantonswechsels darstellt (Lienhard, Kantonswechsel von Drittstaatsangehörigen: Probleme und Handhabung in der Praxis, in: Jusletter vom 20. März 2017, Rz. 15; vgl. hierzu auch Urteil des Bundesgerichts 2C_785/2015 vom 29. März 2016 E. 4.5). Zumindest bei klarer Sach- und Rechtslage kann sich eine Gesuchsabweisung, das heisst der Zwang zur vorübergehenden Rückkehr, allein deswegen als unverhältnismässig erweisen (Bolzli, a.a.O., Art. 37 N. 6 mit Hinweis auf Lienhard, a.a.O., Rz. 45). Eine klare Sach- und Rechtslage bzw. eine routinemässige Bewilligungsverlängerung, wie die Beschwerdeführerin geltend macht, ist vorliegend allerdings ohnehin nicht gegeben.

 

4.3     

4.3.1 Unbestrittene Voraussetzungen für den Kantonswechselanspruch nach Art. 37 AIG sind eine gültige Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung, Erwerbstätigkeit bei Aufenthaltern und Unverhältnismässigkeit eines Widerrufs (Bolzli, a.a.O., Art. 37 N 13; Tremp, in: Caroni/Gächter/Thurnherr, Stämpflis Handkommentar zum Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer, 2010, Art. 37 N. 17 ff.; Urteil des Bundesgerichts 2C_322/2019 vom 15. April 2019 E. 3.3 [zur gültigen Aufenthaltsbewilligung]). Vom neuen Kanton ist zu prüfen, ob ein Widerrufsgrund gegeben ist und eine Wegweisung aus der Schweiz verhältnismässig wäre (Urteil des Bundesgerichts 2C_785/2015 vom 29. März 2016 E. 4.1).

 

4.3.2 Regelmässig stellt die Auflösung der ehelichen Haushaltsgemeinschaft einen Grund dar, dass eine ausländische Person ihren Wohnsitz in einen neuen Kanton verlegen will, so auch vorliegend. In diesen Konstellationen ist jedoch der Widerrufsgrund gemäss Art. 62 Abs. 1 lit. d AIG erfüllt (und damit die Voraussetzung nach Art. 37 Abs. 1 AIG offenkundig nicht erfüllt), da die ausländische Person eine mit der Verfügung verbundene Bedingung nicht mehr einhält. Bei dieser Konstellation stellt sich die Frage, welches Migrationsamt für die Prüfung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts gestützt auf Art. 50 AIG zuständig ist, wenn die vom Ehepartner getrennte ausländische Person um Kantonswechsel ersucht. Die Frage kann zusammen mit dem Kantonswechsel vom neuen Migrationsamt geprüft werden. Das neue Migrationsamt kann sich andererseits aber auch auf den Standpunkt stellen, dass der Vorkanton für die Prüfung von Art. 50 AIG zuständig ist und die ausländische Person im Vorkanton um Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung bzw. Erteilung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts ersuchen muss. Eine gesetzliche Regelung, welche das zuständige Migrationsamt für diese Prüfung bestimmt, gibt es nicht (Lienhard, a.a.O., Rz. 35 f.). Nach der Lehrmeinung von Lienhard und Bolzli ist der neue Kanton zuständig, auch wenn dies für Migrationsämter einen (sehr) grossen Aufwand für die blosse Prüfung eines Kantonswechsels bedeuten kann (Lienhard, a.a.O., Rz. 45, Bolzli, a.a.O., Art. 37 N. 6). Das Bundesgericht beanstandete indes in seinem Urteil 2C_906/2015 vom 22. Januar 2016 E. 3.2 nicht, dass die neue Migrationsbehörde den bisherigen Wohnkanton als zuständig erachtete. Auch im Urteil 2C_208/2011 vom 23. September 2011 E. 1 kam das Bundesgericht zum Schluss, dass der Vorkanton für die Prüfung des Aufenthaltsanspruchs nach Art. 50 AIG zuständig sei.

 

4.4

4.4.1 Vorliegend war im Zeitpunkt der Gesuchstellung zur Bewilligung des Kantonswechsels im Kanton Zürich ein Widerrufsverfahren hängig.

 

4.4.2 Die Zuständigkeit einer Verwaltungsbehörde wird mit dem Eintritt der Rechtshängigkeit (Litispendenz) fixiert (perpetuatio fori). Die Zuständigkeit bleibt nach ihrer rechtmässigen Begründung bestehen, auch wenn die Voraussetzungen nachträglich wegfallen (Fedi/Meyer/Müller, Kommentar zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege des Kantons Thurgau, 2014, § 5 N. 7). Im vorliegenden Fall hat der Kanton Zürich das Widerrufsverfahren am 11. Februar 2021 und damit noch vor dem Gesuch vom 27. April 2021 um Bewilligung des Kantonswechsels eingeleitet. Mit Verfügung vom 15. Juli 2021 widerrief das Migrationsamt des Kantons Zürich die Aufenthaltsbewilligung der Beschwerdeführerin und wies sie aus der Schweiz weg. Das Rechtsmittelverfahren war sowohl im Zeitpunkt des Entscheids des verfahrensbeteiligten Amtes als auch noch im Zeitpunkt des angefochtenen Entscheids hängig. Mit der Eröffnung des Widerrufsverfahrens am 11. Februar 2021 trat die Litispendenz ein. Ist die örtliche Zuständigkeit einmal begründet, kann sie im Lauf des Instanzenzugs nicht mehr geändert werden (Urteil des Bundesgerichts 2C_155/2014 vom 28. Oktober 2014 E. 3.2). Die Zuständigkeit für die Beurteilung des Aufenthaltsanspruchs der Beschwerdeführerin in der Schweiz und damit insbesondere auch der Verhältnismässigkeit ihrer Wegweisung bleibt (vorerst) beim Kanton Zürich. Das verfahrensbeteiligte Amt durfte nicht parallel über die gleiche Sache entscheiden bzw. den Entscheid der Zürcher Behörden vorwegnehmen. Vor diesem Hintergrund ist nicht zu beanstanden, dass das verfahrensbeteiligte Amt das Gesuch um Kantonswechsel nicht materiell prüfte, sondern auf das Gesuch nicht eintrat.

 

4.5 In seinem Urteil 2C_155/2014 vom 28. Oktober 2014 hielt das Bundesgericht in E. 3.2 fest, dass in einer Konstellation wie der vorliegenden - Gesuch um Kantonswechsel bei bereits hängigem Widerrufsverfahren - nicht nachvollziehbar sei, das Widerrufsverfahren zu sistieren. Vielmehr könne das Verfahren betreffend Kantonswechsel sistiert werden, bis über den Widerruf rechtskräftig entschieden sei. Hierfür spricht sich auch das SEM aus (Weisungen des SEM zum AIG, Ziff. 3.1.8.2.1). Eine Pflicht zur Sistierung kann aus diesem Urteil nicht abgeleitet werden. Die Sistierung eines Verfahrens liegt im Ermessen der Behörde. Sie soll die Ausnahme sein, da sie im Widerspruch zum Beschleunigungsgebot (Art. 29 Abs. 1 BV) steht. Eine Verfahrenssistierung muss zweckmässig sein. Das Interesse an einer vorübergehenden Verfahrenseinstellung muss im konkreten Fall höher wiegen als das Gebot der Verfahrensbeschleunigung, das heisst die Verfahrenssistierung muss unter den gegebenen Umständen als insgesamt verfahrensökonomischer erscheinen als eine unmittelbare Fortführung des Verfahrens (Griffel [Hrsg.], Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich, 3. Aufl., 2014, Vorbemerkungen zu §§ 4-31 38 f.; BGE 135 III 127 E. 3.4, BGE 133 III 139 E. 6.1 [= Pra 96/2007 Nr. 117]; Herzog/Daum, Kommentar zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege im Kanton Bern, 2. Aufl., 2020, Art. 38 N. 25). Die Verfahrenssistierung erweist sich vorliegend nicht als verfahrensökonomischer. Nach Auffassung von Lienhard kann die Sistierung zu unbefriedigenden Ergebnissen führen (z. B. bei Sozialhilfebezug, Zuständigkeit für Ausstellung von Rückreisevisa, Koordinationsaufwand bei negativem Ausgang des Widerrufsverfahrens). Es sei daher sinnvoller, auf das Kantonswechselgesuch nicht einzutreten und die gesuchstellende Person in den Vorkanton wegzuweisen. Sollte das Nichtverlängerungs- bzw. Widerrufsverfahren zu ihren Gunsten entschieden werden, könne sie ein erneutes Gesuch um Kantonswechsel einreichen (Lienhard, a.a.O., Rz. 64). Diese Auffassung vertreten auch die Vorinstanz und das verfahrensbeteiligte Amt, was überzeugt. Eine Verfahrenssistierung hätte der Beschwerdeführerin im Übrigen nicht den Anspruch verliehen, vorerst im Kanton Thurgau wohnhaft zu bleiben. Die Beschwerde ist somit unbegründet und daher abzuweisen.

 

Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2022.1/E vom 25. Mai 2022


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