TVR 2023 Nr. 1
Widerruf einer Niederlassungsbewilligung und Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung, Rückstufung.
Art. 58 a AIG, Art. 63 Abs. 2 AIG , Art. 62 a VZAE
Eine ohne formelle Verwarnung erfolgte Rückstufung infolge ungenügender Teilnahme am Wirtschaftsleben erscheint vorliegend als angemessen und angezeigt. Es ist nicht ersichtlich, weshalb die Beschwerdeführerin, welcher in medizinischer Hinsicht eine 100%ige Arbeitsfähigkeit attestiert wurde, nicht einer Erwerbstätigkeit nachgehen könnte.
Die Beschwerdeführerin, türkische Staatsangehörige, reiste im Juli 1999 in die Schweiz ein. Seit Dezember 2002 wird sie von der Sozialhilfe unterstützt. Im Juli 2004 erhielt sie die Niederlassungsbewilligung. Am 7. August 2019 ermahnte das Migrationsamt (verfahrensbeteiligtes Amt) sie aufgrund ihres Sozialhilfebezugs. Am 20. Oktober 2020 wies es sie unter Gewährung des rechtlichen Gehörs darauf hin, dass es den Widerruf der Niederlassungsbewilligung und die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung (Rückstufung) beabsichtige. Mit Entscheid vom 18. August 2021 widerrief das verfahrensbeteiligte Amt die Niederlassungsbewilligung und erteilte der Beschwerdeführerin eine Aufenthaltsbewilligung. Dabei wurde der Aufenthalt an folgende Bedingungen geknüpft (Ziff. 3 des Dispositivs): Beachten von behördlichen Auflagen und Vorgaben; Bemühen um eine Anstellung im ersten Arbeitsmarkt und Aufnahme einer dauerhaften Erwerbstätigkeit; Ablösung von Sozialhilfe und bestmögliche Reduktion der Sozialhilfeschuld. Einen dagegen erhobenen Rekurs wies die Vorinstanz mit Entscheid vom 20. April 2022 ab. Dabei ersetzte sie Ziff. 3 des Dispositivs des verfahrensbeteiligten Amtes wie folgt:
"3.
a) [Die Beschwerdeführerin] erfüllt das Integrationskriterium "Teilnahme am Wirtschaftsleben oder am Erwerb von Bildung" (Art. 58a lit. d AIG) nicht.
b) Die Aufenthaltsbewilligung [der Beschwerdeführerin] gemäss Ziffer 2 wird im Sinne der Erwägungen an folgende Bedingungen geknüpft:
a) Beachten von behördlichen Auflagen und Vorgaben
b) Bemühen um eine Anstellung im ersten Arbeitsmarkt und Aufnahme einer dauerhaften Erwerbstätigkeit
c) Ablösung von der Sozialhilfe und bestmögliche Reduktion der Sozialhilfeschuld
c) Hält [die Beschwerdeführerin] die Bedingungen gemäss Ziffer 3. b) nicht ein, kann die Aufenthaltsbewilligung widerrufen und [die Beschwerdeführerin] aus der Schweiz weggewiesen werden."
Das Verwaltungsgericht weist die hiergegen erhobene Beschwerde ab.
Aus den Erwägungen:
2.2
2.2.1 Die Niederlassungsbewilligung kann laut Art. 63 Abs. 2 AIG widerrufen und durch eine Aufenthaltsbewilligung ersetzt werden, wenn die Integrationskriterien nach Art. 58a AIG nicht erfüllt sind. Art. 58a Abs. 1 AIG nennt als Integrationskriterien die Beachtung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (lit. a), die Respektierung der Werte der Bundesverfassung (lit. b), die Sprachkompetenzen (lit. c) und die Teilnahme am Wirtschaftsleben oder am Erwerb von Bildung (lit. d). Der Situation von Personen, welche die Integrationskriterien von Art. 58a Abs. 1 lit. c und d AIG aufgrund einer Behinderung oder Krankheit oder anderen gewichtigen persönlichen Umständen nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen erfüllen können, ist angemessen Rechnung zu tragen (Art. 58a Abs. 2 AIG).
2.2.2 Die Verfügung über den Widerruf der Niederlassungsbewilligung und deren Ersetzung durch eine Aufenthaltsbewilligung (Rückstufung) kann mit einer Integrationsvereinbarung oder einer Integrationsempfehlung nach Art. 58b AIG verbunden werden (Art. 62a Abs. 1 VZAE). Wird die Verfügung nicht mit einer Integrationsvereinbarung oder Integrationsempfehlung verbunden, so muss sie laut Art. 62a Abs. 2 VZAE mindestens folgende Elemente enthalten: a. die Integrationskriterien (Art. 58a Abs. 1 AIG), die die Ausländerin oder der Ausländer nicht erfüllt hat; b. die Gültigkeitsdauer der Aufenthaltsbewilligung; c. die Bedingungen, an die der weitere Verbleib in der Schweiz geknüpft wird (Art. 33 Abs. 2 AIG); d. die Folgen für den Auf-enthalt in der Schweiz, wenn die Bedingungen nach Art. 62a Abs. 2 lit. c VZAE nicht eingehalten werden (Art. 62 Abs. 1 lit. d AIG). Diese Voraussetzungen sind durch den Entscheid des verfahrensbeteiligten Amtes vom 18. August 2021 und die Präzisierungen im angefochtenen Entscheid vom 20. April 2022 (Ziff. 2 des Dispositivs) erfüllt.
3. - 5.1 (…)
5.2 (…) Wenn die Vorinstanzen aufgrund der genannten Umstände (…) in Ausübung ihres Ermessens auf einen Widerruf und eine Wegweisung verzichtet haben, ist dies nicht zu beanstanden. Folglich ist die verfügte Rückstufung zu beurteilen.
6., 6.1, 6.2 (…)
6.3 Aufgrund der schriftlichen Ermahnung vom 7. August 2019 und des erfolgten Telefonats mit dem verfahrensbeteiligten Amt musste der Beschwerdeführerin somit bewusst sein, dass nach der Gesetzesänderung eine dauerhafte und massgebliche Sozialhilfeabhängigkeit zu einem Widerruf (mit Wegweisung) oder zu einer Rückstufung führen könnte. Zwar ist der Hinweis im Schreiben teilweise standardisiert erfolgt, jedoch wurde die Beschwerdeführerin explizit auf ihre massive Sozialhilfeschuld von Fr. 502'000.-- hingewiesen. Im anschliessenden Telefonat wurde ihr zudem explizit und bezogen auf ihren konkreten Fall erklärt, dass sie sich darum bemühen müsse, dass die Sozialhilfeschuld nicht noch weiter steige und dass sie sich nach einer Arbeit umsehen müsse. Somit war ihr spätestens seit August 2019 klar, dass eine Rückstufung erfolgen könnte, wenn die Sozialhilfeabhängigkeit fortgesetzt wird, was vorliegend der Fall ist. Eine formelle Verwarnung vor der Rückstufung hatte daher nicht zwingend zu erfolgen und es ist auch nicht davon auszugehen, dass eine solche eine höhere Wirkung als die erfolgte Ermahnung erzielt hätte bzw. von der Beschwerdeführerin anders wahrgenommen worden wäre. Durch die Erteilung der Aufenthaltsbewilligung wurde der Beschwerdeführerin zu-dem nunmehr eine zweite Chance für den Verbleib in der Schweiz gewährt.
7. (…)
8.
8.1 Auch die Rückstufung verlangt wie der Widerruf der Niederlassungsbewilligung mit Wegweisung nach einer sorgfältigen Verhältnismässigkeitsprüfung. Steht der Vorwurf eines dauerhaften und erheblichen Sozialhilfebezugs im Sinn von Art. 63 Abs. 1 lit. c AIG im Raum, sind in diesem Zusammenhang insbesondere die Ursachen des Bezugs (eingeschlossen das Verschulden und die Möglichkeiten einer Reduktion bzw. Loslösung), die bisherige Anwesenheitsdauer der ausländischen Person und der Grad ihrer Integration in der Schweiz zu berücksichtigen.
8.2 Die Beschwerdeführerin lebt seit Juli 1999 in der Schweiz. Diese lange Anwesenheitsdauer führte unter anderem dazu, dass die Vorinstanzen von einem Wider-ruf der Niederlassungsbewilligung mit Wegweisung aus der Schweiz abgesehen haben. Von einer gelungenen Integration ist hingegen nicht auszugehen. So spricht die Beschwerdeführerin offenbar eher schlecht deutsch. Den Deutschtreff besucht sie erst seit Anfang 2020. Dass sie sich vorher jemals darum bemüht hätte, die notwendigen Sprachkenntnisse zu erlangen, ist nicht ersichtlich. Selbst nach der schriftlichen Ermahnung vom 7. August 2019 sind nochmals mehrere Monate vergangen, bis sie diesbezüglich irgendwelche Anstrengungen unternommen hat-te. Zudem ist fraglich, ob ein gelegentliches Besuchen des Deutschtreffs ausreichend ist, um tatsächlich zu besseren Sprachkenntnissen und zu einer damit verbundenen massgeblichen Verbesserung der Integration zu führen.
8.3 Die Beschwerdeführerin bezieht seit Dezember 2002 Leistungen der Sozialhilfe. Dieser Bezug wurde fortgesetzt, auch nachdem die Kinder selbständig wurden und nicht mehr auf die (umfassende) Betreuung der Beschwerdeführerin angewiesen waren. Der Sozialhilfebezug wurde auch nach dem 1. Januar 2019 und nach der schriftlichen Ermahnung vom 7. August 2019 fortgesetzt. Die Sozialhilfeschuld lag bereits im Mai 2019 bei Fr. 502'000.--. Per 18. August 2018 betrugen die Sozialhilfe-schulden Fr. 547'589.20. Seit 1. Januar 2022 wird die Beschwerdeführerin monatlich mit Fr. 1'495.25 unterstützt. Erst ab Mai 2021 sind gewisse Bemühungen im Hinblick auf eine Arbeitstätigkeit zu erkennen. Dies belegt jedoch noch in keiner Weise eine genügende Teilnahme am Wirtschaftsleben. Zudem ist wiederum fest-zustellen, dass die Beschwerdeführerin nach der schriftlichen Ermahnung vom 7. August 2019 diesbezüglich über Monate hinweg keinerlei Bemühungen unternommen hat. Zudem kann sie nunmehr auch im Rahmen der erteilten Aufenthaltsbewilligung nachweisen bzw. belegen, dass ihr die Teilnahme am Wirtschaftsleben in Zukunft gelingen wird und es ist nicht ersichtlich, weshalb diesbezüglich eine Bewilligung B nicht ausreichen sollte bzw. inwiefern sie dadurch konkret in ihren Bemühungen um eine angemessene Tätigkeit behindert sein sollte.
8.4
8.4.1 Im Weiteren stellt sich die Frage, ob es der Beschwerdeführerin aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich war, eine Tätigkeit aufzunehmen, um ihre Ausgaben ohne Hilfe der Sozialhilfe zu tragen.
8.4.2 Die IV-Stelle des Kantons Thurgau wies ein Leistungsgesuch der Beschwerdeführerin mit Verfügung vom 28. September 2009 ab. Auf eine Neuanmeldung vom April 2010 trat die IV-Stelle mit Verfügung vom 16. Juli 2010 nicht ein. Ein erneutes Gesuch wies sie nach Einholung eines psychiatrischen Gutachtens am 26. Februar 2018 ab. Nachdem sich die Beschwerdeführerin im April 2019 erneut zum Leistungsbezug angemeldet hatte, wies die IV-Stelle den Leistungsanspruch nach Einholung eines polydisziplinären Gutachtens mit Verfügung vom 12. Januar 2021 mit der Begründung ab, dass kein invalidisierender Gesundheitsschaden gegeben sei. Eine dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht am 9. Juni 2021 ab, wobei es im Wesentlichen festhielt, relevante somatische Diagnosen würden keine vorliegen. Auch hätten keine fachspezifischen psychiatrischen Diagnosen mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit festgestellt werden können. Die IV-Stelle habe das neue Leistungsbegehren zu Recht abgewiesen. Aus invalidenversicherungsrechtlicher Sicht ist und war die Beschwerdeführerin somit immer voll arbeitsfähig. Weshalb ihr diese Einschätzung erst seit dem Entscheid vom 9. Juni 2021 bewusst gewesen sein sollte, ist nicht ersichtlich. Vielmehr wurde ihr Rentenanspruch mehrmals abgewiesen oder auf eine Neuanmeldung nicht eingetreten. Die Beschwerdeführerin wusste somit seit langem, dass ihr aus objektiver Sicht eine Arbeitstätigkeit zumutbar war und sie nicht in den Genuss von Sozialversicherungsleistungen kommt, auch wenn ihr die behandelnden Ärzte wiederholt Arbeitsunfähigkeiten attestiert haben, welche jedoch von den Gutachtern und der IV-Stelle zu grossen Teilen als nicht ausgewiesen erachtet wurden. Daran änderte auch eine wiederholte Anmeldung bei der Invalidenversicherung im April 2019 nichts. Im Weiteren stammt das im Rahmen des letzten Gesuchs eingeholte polydisziplinäre Gutachten bereits vom 3. September 2020. Spätestens dann hätte der Beschwerdeführerin auch bewusst sein müssen, dass keine objektivierbare Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes eingetreten ist und dass sie nach wie vor vollständig arbeitsfähig ist. Wiederum änderte die Beschwerdeführerin jedoch lange nichts an ihrer Situation und geht auch nach wie vor nicht einer Tätigkeit nach, welche eine Unterstützung durch die Sozialhilfe obsolet machen und ihr erlauben würde, ihren Lebensunterhalt ohne Sozialhilfe zu bestreiten.
8.4.3 Aus medizinischer Sicht wäre es der Beschwerdeführerin seit Jahren daher ohne weiteres möglich und zumutbar gewesen, am Wirtschaftsleben teilzunehmen - allenfalls auch im Rahmen eines Teilzeitpensums - und selber für ihren Lebens-unterhalt aufzukommen. Im Rahmen einer solchen Tätigkeit hätte sie denn auch bei vorübergehender Krankheit bzw. Arbeitsunfähigkeit Anspruch auf Lohnfortzahlungen oder Taggeldleistungen gehabt und wäre nicht auf Sozialhilfe angewiesen gewesen. Medizinische Gründe für ihre mangelnde Integration und ihren Sozialhilfebezug sind somit nicht - oder höchstens in einem sehr untergeordnetem Rahmen - ausgewiesen.
Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2022.63/E vom 2. November 2022
Das Bundesgericht hat eine dagegen erhobene Beschwerde mit Urteil 2C_1040/2022 vom 18. Januar 2024 abgewiesen.