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TVR 2023 Nr. 12

Disziplinarmassnahme wegen Verfehlungen während eines Sprachaufenthalts im Ausland; Sonderstatusverhältnis.


§ 37 Abs. 1 GBM, § 16 RRV Organisation der Mittelschulen


Eine Schülerin/ein Schüler steht auch während eines Sprachaufenthalts im Ausland in einem Sonderstatusverhältnis zur Bildungsinstitution, von welcher der Sprachaufenthalt organisiert wurde, unabhängig davon, ob dieser Sprachaufenthalt freiwillig war oder nicht. Die Disziplinargewalt bezieht sich dabei auch auf das Verhalten der Schülerin/des Schülers in der Freizeit.


Der Beschwerdeführer, geboren am xx. Mai 2004, besuchte die Pädagogische Maturitätsschule in Kreuzlingen (PMS, Verfahrensbeteiligte). Im Januar 2022 nahm er - damals noch als Minderjähriger - an einem von der Verfahrensbeteiligten organisierten Fremdsprachenaufenthalt an einer Sprachschule in Bristol, England, teil. Am Samstag, 8. Januar 2022, begab sich der Beschwerdeführer zusammen mit drei Schulkollegen in eine Bar und später in einen Nachtclub, um Alkohol zu konsumieren und den Abend zu verbringen. Ein Mitglied der Gruppe war am Ende des Abends nicht mehr auffindbar. Nach anfänglichen Suchbemühungen beschlossen die übrigen Mitglieder der Gruppe, darunter der Beschwerdeführer, zurück in ihre Unterkünfte zu gehen. Behörden, Schulverantwortliche oder Angehörige des Verschwundenen wurden nicht orientiert. Dieser tauchte am nächsten Tag mit einigen Blessuren wieder auf, wobei nicht rekonstruiert werden konnte, was ihm widerfahren war. Mit Entscheid des Konventes der Verfahrensbeteiligten vom 24. Februar 2022 wurde gegenüber dem Beschwerdeführer die Androhung der Wegweisung ausgesprochen. Das Ultimatum wurde bis Ende des Schuljahres 2022/2023, das heisst bis 31. Juli 2023, befristet und mit Disziplinwidrigkeiten begründet. Ihm wurden der illegale Clubbesuch und der Konsum von Alkohol sowie die unterlassene Alarmierung vorgeworfen. Gegen den Entscheid des Konvents vom 24. Februar 2022 liess der Beschwerdeführer Rekurs beim DEK erheben, der abgewiesen wurde. Eine gegen den Rekursentscheid erhobene Beschwerde weist das Verwaltungsgericht ebenfalls ab.

Aus den Erwägungen:

2. Streitgegenstand bildet vorliegend die Frage, ob die von der Verfahrensbeteiligten gegenüber dem Beschwerdeführer mit Entscheid vom 24. Februar 2022 ausgesprochene Disziplinarmassnahme in Form einer bis 31. Juli 2021 befristeten Androhung der Wegweisung rechtens war. Strittig ist dabei, ob der Beschwerdeführer während seines Sprachaufenthaltes in England in der Nacht vom 8. auf den 9. Januar 2022 in einem Sonderstatusverhältnis mit der Verfahrensbeteiligten stand und damit ihrer Disziplinargewalt unterstand (…).

3.

3.1 Nach § 37 Abs. 1 GBM können Schüler und Schülerinnen bei Verstössen gegen die Rechtsordnung durch Verweis, Ausschluss aus Freifächern oder -kursen oder durch vorübergehende Wegweisung von der Schule bestraft werden. Nach erfolgloser letzter Warnung (Ultimatum) kann die endgültige Wegweisung angeordnet werden (§ 37 Abs. 2 GBM). Ebenfalls möglich ist die Erhebung von Bussen von bis zu Fr. 200.-- (§ 37 Abs. 3 GBM). Der Regierungsrat regelt das Verfahren und die Bussenerhebung (§ 37 Abs. 4 GBM).

3.2 Gemäss § 16 Abs. 2 der Verordnung des Regierungsrates über die Organisation der Mittelschulen (RRV Organisation der Mittelschulen; RB 413.142) ist der Konvent zuständig für die Verhängung folgender Disziplinarmassnahmen: Geldbussen bis Fr. 200.-- (Ziff. 1), schriftlicher Verweis (Ziff. 2), letzte Warnung (Ultimatum; Ziff. 3) und Ausschluss von der Schule (Ziff. 4). § 16 Abs. 1 RRV Organisation der Mittelschulen setzt für die Anordnung von Disziplinarmassnahmen ein den Schulbetrieb störendes Verhalten oder eine Pflichtvernachlässigung voraus. Gemäss § 16 Abs. 3 RRV Organisation der Mittelschulen setzt der Ausschluss von der Schule ein Ultimatum voraus, ausser wenn der Verbleib an der Schule nicht mehr zumutbar oder möglich ist oder ein Ultimatum zwecklos ist.

3.3 Die Anordnung einer Disziplinarmassnahme muss den Grundsatz der Verhältnismässigkeit beachten (vgl. etwa BGE 129 I 12 E. 9). (…)

3.4 Die Disziplinargewalt der Bildungseinrichtung über Schülerinnen und Schüler fliesst aus dem besonderen Rechtsverhältnis zwischen diesen und der Schule (vgl. hierzu Plotke, Schweizerisches Schulrecht, 2. Aufl. 2003, S. 68 f.). Disziplinarmassnahmen bezwecken die Aufrechterhaltung der Ordnung sowie die Wahrung des Ansehens und der Vertrauenswürdigkeit der betreffenden Institution. Disziplinarische Massnahmen sollen bewirken, dass Personen, welche der Disziplinargewalt unterliegen, ihre Pflichten erfüllen (Urteil des Bundesverwaltungsgerichts [BVGer] B-3375/2019 vom 2. Dezember 2019 E. 2.3). Die schulische Disziplinargewalt er-streckt sich über den direkten Unterricht hinaus und gilt beispielsweise auch auf Schulreisen oder in Schullagern (vgl. Plotke, a.a.O., S. 416 f.).

3.5 Auch im Sonderstatusverhältnis gilt das Legalitätsprinzip gemäss Art. 5 Abs. 1 BV. An die Voraussetzungen der Bestimmtheit des Rechtssatzes und des Erfordernisses der Gesetzesform sind allerdings keine allzu hohen Anforderungen zu stellen, wenn die zu disziplinierende Person in einem Sonderstatusverhältnis steht (vgl. Häfelin/Müller/Ullmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 8. Aufl. 2020, Rz. 1505 und 1514). Disziplinarmassnahmen müssen sich aus dem zwischen der Bildungseinrichtung und den Schülerinnen und Schülern bestehenden Sonderstatusverhältnis ergeben bzw. sie müssen mit diesem in Zusammenhang stehen (vgl. Urteil des Verwaltungsgerichts Zürich AN.2021.00007, AN.2021.00008 vom 8. Juli 2021 E. 6).

4.

4.1 Zu prüfen ist als erstes die Frage, ob der Beschwerdeführer im Rahmen seines Sprachaufenthaltes in Bristol bzw. während des Besuches der entsprechenden Sprachschule in einem Sonderstatusverhältnis zur Verfahrensbeteiligten stand und damit der Disziplinargewalt derselben unterstand. Insbesondere ist auch zu prüfen, ob eine Ausnahme von dieser Unterstellung unter die Disziplinargewalt der Verfahrensbeteiligten erfolgt ist, weil die Mutter des damals noch unmündigen Beschwerdeführers diesem erlaubt hatte, die Nacht vom 8. auf den 9. Januar 2022 nicht bei der Gastmutter zu verbringen, wobei zu diesem Zweck von der Mutter eine sogenannte Overnight-stay-out-Bewilligung erteilt worden war.

4.2 Beim Beschwerdeführer handelt es sich um einen Schüler der Verfahrensbeteiligten. Damit steht er grundsätzlich in einem Sonderstatusverhältnis zu dieser Bildungseinrichtung und unter deren Disziplinargewalt. Das Sonderstatusverhältnis bzw. die Disziplinargewalt gilt - wie dargestellt - insbesondere auch für Schulreisen und Schullager, was grundsätzlich unbestritten ist (vgl. E. 3.4 vorstehend und Plotke, a.a.O., S. 416 f.). Es gibt keinen Grund, davon auszugehen, dass sich das Sonderstatusverhältnis und die damit verbundene Disziplinargewalt nicht auch auf Sprachaufenthalte erstreckt. Dabei ist unerheblich, ob ein Schüler oder eine Schülerin den entsprechenden Sprachkurs vor Ort freiwillig oder obligatorisch absolviert. Der Sprachaufenthalt wurde im Rahmen der Ausbildung des Beschwerdeführers bei der Verfahrensbeteiligten und über diese organisiert. Vor diesem Hintergrund kann insbesondere auch nicht von einer Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 8 Abs. 1 BV ausgegangen werden, wenn Schülerinnen und Schüler, welche den Sprachaufenthalt von zu Hause aus absolviert haben, an Abenden oder Wochenende nicht der Disziplinargewalt der Bildungseinrichtung unterstanden. Auch in einem Schullager oder auf einer Schulreise bleibt der Verantwortlichkeitsbereich der Bildungseinrichtung für den gesamten Zeitraum der entsprechenden Schulveranstaltung erhalten, und zwar unabhängig davon, ob die Teilnahme obligatorisch oder freiwillig erfolgt. Dabei kann auch nicht unterschieden werden, ob die einzelnen Lebensverrichtungen und Vorgänge der Freizeitgestaltung oder der Vermittlung von Bildungsinhalten zuzuweisen sind. Eine solche Abgrenzung ist unpraktikabel und häufig auch kaum möglich. Sodann erstreckt sich die Verantwortung der Bildungseinrichtung während einer Schulreise, eines Schullagers oder eben eines Sprachaufenthaltes auf sämtliche Lebensbereiche der Schülerinnen und Schüler. Die Bildungseinrichtung trägt insbesondere für unmündige Schülerinnen und Schüler auch die Verantwortung, und zwar nicht nur mit Bezug auf Vermittlung von Bildungsinhalten, sondern insbesondere auch mit Bezug auf Unterkunft, Gesundheit, Sicherheit etc. Dies ergibt sich insbesondere auch aus dem abgegebenen Merkblatt zum Englandaufenthalt vom Januar 2022, in welchem Verhaltensanweisungen erteilt wurden, die nicht nur für den eigentlichen Bildungsbetrieb in der Sprachschule galten, sondern auch für Freizeitgestaltung bzw. das Verhalten in der Freizeit etc. Diese Verhaltensanweisungen waren zweifelsohne verbindlich. Das Sonderstatusverhältnis und die Disziplinargewalt kann in einer solchen Konstellation (Schulreise, Schullager oder Sprachaufenthalt) weder an eine örtliche Sprachschule delegiert noch durch Einwilligungen oder Massnahmen der Eltern eingeschränkt oder gar aufgehoben werden. Auch wenn ein Lager oder ein Sprachaufenthalt ausserkantonal oder im Ausland stattfindet, sind überdies für die Bemessung des Umfangs des Sonderstatusverhältnisses und damit auch die Klärung der Grenzen der Disziplinargewalt ausschliesslich die Bestimmungen der organisieren-den Bildungseinrichtung entscheidend bzw. anwendbar. Nicht massgebend sind also beispielsweise Vorschriften oder Vorgaben der örtlichen Sprachschule, wobei diese selbstverständlich bei der Beurteilung des Vorliegens einer Pflichtverletzung herangezogen werden können.

4.3 Der Vorfall vom 8. auf den 9. Januar 2022 erfolgte somit im Rahmen eines Sprachaufenthaltes, bei welchem es sich um eine schulische Veranstaltung handelte. Der Beschwerdeführer unterstand - entgegen seiner Auffassung - in jenem Zeitpunkt, das heisst auch in der Freizeit, einem Sonderstatusverhältnis zur Verfahrensbeteiligten und damit auch deren Disziplinargewalt. Daran änderte die Bewilligung der Mutter des Beschwerdeführers, die Nacht nicht bei der Gastfamilie verbringen zu müssen (Overnight-stay-out-Bewilligung), nichts, zumal dem Beschwerdeführer vorliegend überhaupt nicht vorgeworfen wird, ohne Bewilligung über Nacht der Gastfamilie ferngeblieben zu sein. Die Disziplinargewalt kann, wie er-wähnt, nicht durch einseitige Anordnung oder Bestätigung des Erziehungsberechtigten unterlaufen oder eingeschränkt werden. Zu berücksichtigen ist auch, dass sich während des Sprachaufenthaltes die Disziplinargewalt erweitert und auch auf Lebensbereiche ausserhalb der unmittelbaren Vermittlung von Bildungsinhalten erstreckt. Dasselbe ist, wie dargestellt, auch bei Schulreisen oder Schullagern der Fall. Der Umfang und damit die Grenzen der Disziplinargewalt ergeben sich damit nicht zuletzt auch aus den entsprechenden Bedürfnissen, so insbesondere zwecks Aufrechterhaltung eines ordnungsgemässen Schulbetriebs. Zudem ersetzt die Verantwortung der Bildungseinrichtung zumindest teilweise auch die elterliche Aufsicht, was einhergehen muss mit entsprechender Disziplinargewalt. Auch wenn vom Beschwerdeführer und seinen Eltern mit der Sprachschule der ELC Bristol ein sogenanntes Parental Agreement unterzeichnet wurde, ändert dies an der grundsätzlichen Disziplinargewalt der Verfahrensbeteiligten, von welcher der Sprachaufenthalt organisiert worden war, nichts, nachdem diese Disziplinargewalt wie er-wähnt grundsätzlich nicht delegiert oder durch Erklärung der Erziehungsberechtigen eingeschränkt oder unterlaufen werden kann. Ebenfalls unmassgeblich ist in diesem Zusammenhang, dass von der Sprachschule (ELC Bristol) bzw. vom dortigen Schulleiter - gemäss Darstellung des Beschwerdeführers - eine Disziplinarmassnahme (in Form eines mündlichen Verweises) ausgesprochen worden sein soll. Auch mit einer derartigen Massnahme wurde das Sonderstatusverhältnis zur Verfahrensbeteiligten nicht aufgehoben.

4.4 Im Sinne eines Zwischenergebnisses ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer am 8./9. Januar 2022 während des Sprachaufenthaltes in Bristol im Sonderstatusverhältnis zur Verfahrensbeteiligten als verantwortlicher Bildungseinrichtung stand und damit ihrer Disziplinargewalt unterstand. In diesem Punkt erweist sich die Beschwerde als unbegründet.

Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2022.85/E vom 18. Januar 2023

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