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TVR 2023 Nr. 5

Devolutiveffekt; Nichtigkeit des Widerrufs eines angefochtenen Entscheids nach Erlass eines Rechtsmittelentscheids in derselben Sache; nur bedingte Zulässigkeit der Abschreibung des Verfahrens zufolge Gegenstandslosigkeit.


§ 23 Abs. 2 VRG


  1. Rekurs und Beschwerde stellen devolutive Rechtsmittel dar. Nach dem Prinzip des Devolutiveffekts geht die Zuständigkeit zum Entscheid über eine angefochtene Verfügung grundsätzlich auf die Rechtsmittelinstanz über. Der Devolutiveffekt bewirkt zudem, dass der Entscheid der Rechtsmittelinstanz prozessual die angefochtene Verfügung ersetzt und damit alleiniger Anfechtungsgegenstand für einen nachfolgenden Instanzenzug bildet (E. 1.3.1).

  2. Wird ein angefochtener Entscheid durch die Behörde, die ihn erlassen hat, widerrufen, nachdem der Entscheid der Rechtsmittelbehörde in derselben Sache ergangen ist, ist der Widerrufsentscheid zufolge fehlender funktioneller Zuständigkeit der widerrufenden (Verwaltungs-)Behörde nichtig (E. 1.3.2 - 1.3.4).

  3. Auch die rechtzeitig - das heisst noch vor Eröffnung des Entscheids durch die Rechtsmittelinstanz im Sinne von § 23 Abs. 2 VRG - ergangene Wiedererwägung eines Entscheids führt nur soweit zur Abschreibung des Rekurs-/Beschwerdeverfahrens zufolge Gegenstandslosigkeit, als mit dem neuen Entscheid den Anträgen der anfechtenden Partei entsprochen wurde (E. 1.3.5).


Die Verfahrensbeteiligte 1 ist Eigentümerin eines landwirtschaftlichen Gewerbes und beabsichtigte, diesen an die Verfahrensbeteiligten 2 zu verkaufen. Auf Gesuch hin bewilligte das Landwirtschaftsamt des Kantons Thurgau (verfahrensbeteiligtes Amt) mit Bodenrechtsentscheid vom 8. Dezember 2020 gestützt auf das BGBB unter anderem die Abtrennung des X-Hofes bzw. einzelner Teilflächen vom übrigen Grundeigentum der Verfahrensbeteiligten 1 sowie den Erwerb des X-Hofes durch die Verfahrensbeteiligten 2 zu einem Preis von höchstens Fr. xx.--. Gegen diesen Entscheid des verfahrensbeteilgten Amtes erhob das Bundesamt für Landwirtschaft (Beschwerdeführer) Rekurs beim DIV, der mit Entscheid vom 29. November 2021 abgewiesen wurde. Auf eine dagegen vom Beschwerdeführer beim Bundesverwaltungsgericht erhobene Beschwerde trat dieses mit Urteil B-96/2022 vom 5. April 2022 mangels Zuständigkeit nicht ein. Gegen dieses Urteil erhob das Eidgenössische Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung Beschwerde beim Bundesgericht.
Während des hängigen Beschwerdeverfahrens vor Bundesgericht erliess das verfahrensbeteiligte Amt am 7. Juni 2023 in derselben Sache einen weiteren Entscheid, mit welchem es seinen Entscheid vom 8. Dezember 2020 widerrief und erneut diverse Abtrennungen von Teilflächen bewilligte.
Mit Urteil 2C_391/2022 vom 4. August 2023 wies das Bundesgericht die Beschwerde des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung ab und überwies die Akten zur Prüfung der Zuständigkeit an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau.
Nach Durchführung des Schriftenwechsels heisst das Verwaltungsgericht die Beschwerde teilweise gut.

Aus den Erwägungen:

1.3 Mit Entscheid vom 7. Juni 2023 widerrief das verfahrensbeteiligte Amt seinen ersten Entscheid vom 8. Dezember 2020. Die Vorinstanz führte in ihrer Vernehmlassung vom 7. September 2023 aus, dass damit der angefochtene Entscheid vom 29. November 2021 ebenfalls aufgehoben und die dagegen erhobene Beschwerde des Beschwerdeführers vom 12. Januar 2021 (recte 7. Januar 2022) als gegenstandslos geworden abgeschrieben werden könne. Auch die Verfahrensbeteiligte 1 beantragte am 18. September 2023, es sei die Beschwerde des Beschwerdeführers zufolge Gegenstandslosigkeit am Protokoll abzuschreiben. In formeller Hinsicht ist zu prüfen, ob das vorliegende Beschwerdeverfahren als gegenstandslos betrachtet werden kann.

1.3.1 Rekurs und Beschwerde stellen devolutive Rechtsmittel dar. Nach dem Prinzip des Devolutiveffekts geht die Zuständigkeit zum Entscheid über eine angefochtene Verfügung grundsätzlich an die Rechtsmittelinstanz über; mit der Rechtshängigkeit wird der Verwaltung mit andern Worten die Herrschaft über den Streitgegen-stand, insbesondere auch in Bezug auf die tatsächlichen Verfügungs- und Entscheidungsgrundlagen, grundsätzlich entzogen. Der Devolutiveffekt bewirkt zudem, dass der Entscheid der Rechtsmittelinstanz prozessual die angefochtene Verfügung ersetzt und damit alleiniger Anfechtungsgegenstand für einen nachfolgenden Instanzenzug bildet (BGE 130 V 138 E. 4.2). Die Rechtsauffassung der Vorinstanz und der Verfahrensbeteiligten 1, wonach das verfahrensbeteiligte Amt am 7. Juni 2023 seinen Entscheid vom 8. Dezember 2020 widerrufen habe und über die Bewilligung einer Ausnahme vom Zerstückelungsverbot nach Art. 102 LwG neu habe entscheiden dürfen, obwohl die Vorinstanz am 29. November 2021 ihren Entscheid bereits eröffnet hatte, steht daher im Widerspruch zu § 23 Abs. 2 VRG. Gemäss dieser Bestimmung kann ein Entscheid, der durch ein ordentliches Rechtsmittel angefochten wurde, (in teilweiser Durchbrechung des grundsätzlich bereits ab Rechtshängigkeit eines Rechtsmittels geltenden Devolutiveffekts) nur geändert oder widerrufen werden, bis die Rechtsmittelinstanz ihren Entscheid eröffnet hat (vgl. hierzu auch Fedi/Meyer/Müller, Kommentar zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege des Kantons Thurgau, 2014, § 23 N. 7).

1.3.2 Die Voraussetzungen für einen Widerruf seines ersten Entscheids vom 8. Dezember 2020 durch das verfahrensbeteiligte Amt waren im Zeitpunkt des (Widerrufs-)Entscheids vom 7. Juni 2023 nicht (mehr) gegeben. In jenem Zeitpunkt hatte die Vorinstanz - auf Rekurs des Beschwerdeführers vom 12. Januar 2021 gegen den Entscheid des verfahrensbeteiligten Amtes vom 8. Dezember 2020 hin - bereits einen Rekursentscheid gefällt (Rekursentscheid vom 29. November 2021). Das Verfahren war mittlerweile (seit der Erhebung der Beschwerde vom 7. Januar 2022) schon beim Bundesgericht hängig. Das verfahrensbeteiligte Amt war am 7. Juni 2023 somit - aufgrund von § 23 Abs. 2 VRG bzw. des Devolutiveffekts der gegen den Entscheid vom 8. Dezember 2020 erhobenen Rechtsmittel - nicht mehr berechtigt, seinen Entscheid vom 8. Dezember 2020 zu widerrufen. Die Herrschaft über die Streitsache lag mit anderen Worten ab der Fällung des Rekursentscheids der Vorinstanz vom 29. November 2021 nicht mehr beim verfahrensbeteiligten Amt. Dessen funktionelle Zuständigkeit war mit anderen Worten im Zeitpunkt des (Widerrufs-)Entscheids vom 7. Juni 2023 nicht mehr gegeben, womit dieser Entscheid an einem formellen Mangel leidet.

1.3.3 Fehlerhafte Verwaltungsakte sind in der Regel nicht nichtig, sondern nur anfechtbar und werden durch Nichtanfechtung rechtsgültig. Nichtigkeit, das heisst absolute Unwirksamkeit einer Verfügung, wird nur angenommen, wenn der ihr an-haftende Mangel besonders schwer wiegt, wenn er offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar ist und wenn zudem die Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet wird. Inhaltliche Mängel haben nur in seltenen Ausnahmefällen die Nichtigkeit einer Verfügung zur Folge. Als Nichtigkeitsgründe fallen hauptsächlich funktionelle und sachliche Unzuständigkeit einer Behörde sowie schwerwiegende Verfahrensfehler in Betracht (BGE 132 II 21 E. 3.1 und 132 II 342 E. 2.1 je mit weiteren Hinweisen). Fehlt einer Verfügung jegliche Rechtsverbindlichkeit in diesem Sinne, ist das durch jede Behörde, die mit der Sache befasst ist, jederzeit und von Amtes wegen zu beachten (Urteil des Bundesgerichts 2C_827/2015, 2C_828/2015 vom 3. Juni 2016 E. 3.3; vgl. auch TVR 2017 Nr. 31 E. 2.2).

1.3.4 Der (Widerrufs-)Entscheid des verfahrensbeteiligten Amtes vom 7. Juni 2023 leidet, nachdem die funktionelle Zuständigkeit des verfahrensbeteiligten Amtes in jenem Zeitpunkt nicht mehr gegeben war, an einem derart schweren Mangel, dass der Entscheid vom 7. Juni 2023 als nichtig im Sinne der zitierten Rechtsprechung zu qualifizieren ist. Diesem Entscheid fehlt es damit an jeglicher Rechtsverbindlichkeit, was im vorliegenden Verfahren zu beachten ist (vgl. E. 1.3.3 vorstehend sowie BGE 130 V 138 E. 4.2 und 127 V 228 E. 2b/bb). Daraus folgt, dass der ursprüngliche Entscheid des verfahrensbeteiligten Amtes vom 8. Dezember 2020 nicht rechtswirksam widerrufen wurde und folglich nach wie vor Bestand hat bzw. Gegenstand des vorliegenden Rechtsmittelverfahrens bildet. Damit kann das vorliegende Beschwerdeverfahren aber bereits aus diesem Grund nicht als gegenstandslos betrachtet werden.

1.3.5 Zu beachten ist ausserdem, dass auch eine rechtzeitig - das heisst noch vor Eröffnung des Entscheids durch die Rechtsmittelinstanz im Sinne von § 23 Abs. 2 VRG - ergangene Wiedererwägung eines Entscheids nur soweit zur Abschreibung des Rekurs-/Beschwerdeverfahrens zufolge Gegenstandslosigkeit führt, als mit dem neuen Entscheid den Anträgen der anfechtenden Partei entsprochen wurde (vgl. TVR 2020 Nr. 3 E. 2.5, Urteil des Bundesgerichts 2C_391/2022 vom 4. August 2023 E. 1.2.4). Dies ist vorliegend nicht der Fall, wie bereits vom Bundesgericht im Urteil 2C_391/2022 vom 4. August 2023 festgestellt worden war. So wurde dort (in E. 1.2.4) ausgeführt, dass der Beschwerdeführer (mit seiner Beschwerde vom 7. Januar 2022) vor Bundesverwaltungsgericht beantragt hatte, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Bewilligung einer Ausnahme vom Zerstückelungsverbot sei nicht zu erteilen. Mit dem Entscheid (des verfahrensbeteiligten Amtes) vom 7. Juni 2023 sei der Entscheid vom 8. Dezember 2020 aufgehoben und es seien fünf Ausnahmen vom Zerstückelungsverbot bewilligt worden. Der Wiedererwägungsentscheid des verfahrensbeteiligten Amtes vom 7. Juni 2023 habe daher, so das Bundesgericht, nicht schon aus diesem Grund zur Gegenstandslosigkeit des Verfahrens geführt (wobei das Bundesgericht ausdrücklich offen liess, ob der Entscheid des verfahrensbeteiligten Amtes vom 7. Juni 2023 überhaupt zulässig war; vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_391/2022 vom 4. August 2023 E. 1.2.4). Selbst wenn der Widerrufsentscheid somit nicht als nichtig zu qualifizieren wäre, könnte das vorliegende Beschwerdeverfahren nicht zufolge Gegenstandslosigkeit abgeschrieben werden.

Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2023.97/E vom 6. Dezember 2023

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