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TVR 2024 Nr. 15

Opferhilferechtliche Genugtuung nach Sexualdelikt.


Art. 23 OHG


Festlegung der Höhe der opferhilferechtlichen Genugtuung nach sexueller Nötigung mit erzwungenem Oralverkehr.


Mit einem Urteil aus dem Jahr 2023 wurde B (nachfolgend Täter) durch das Bezirksgericht A unter anderem der sexuellen Nötigung gemäss Art. 189 Abs. 1 StGB für schuldig befunden. Vom Vorwurf der Vergewaltigung gemäss Art. 190 Abs. 1 StGB sprach es ihn frei. Das Bezirksgericht verpflichtete B unter anderem, der Beschwerdeführerin eine Genugtuung von Fr. 10'000.-- zuzüglich 5% Zins seit (…) zu bezahlen. Dieser Entscheid ist rechtskräftig. Am 23. Mai 2023 stellte die Beschwerdeführerin beim DJS (Vorinstanz) ein Gesuch um Genugtuung nach OHG, wobei sie einen Betrag von Fr. 10'000.-- zuzüglich 5% Zins seit 18. Juni 2022 geltend machte. Mit Entscheid vom 20. Juni 2023 hiess die Vorinstanz das Gesuch teilweise gut und sprach der Beschwerdeführerin eine Genugtuung in der Höhe von Fr. 3'000.-- zu. Im Mehrbetrag wies die Vorinstanz das Gesuch ab. Das Verwaltungsgericht weist die hiergegen erhobene Beschwerde ab.

 

Aus den Erwägungen:

 

5.

5.1 Der OHG-Gesetzgeber hat sich dafür entschieden, die Genugtuung auch nach der Totalrevision 2009 an die zivilrechtlichen Regeln von Art. 47 und 49 OR zu binden, aber deren Höhe durch einen Höchstbetrag zu beschränken. Die opferhilferechtliche Genugtuung unterscheidet sich zwar als öffentlich-rechtlicher Anspruch des Bundesrechts ihrer Rechtsnatur nach von den zivilrechtlichen Ansprüchen gemäss Art. 47 und 49 OR. Ihre Ausrichtung unterliegt jedoch den gleichen Zweckbestimmungen wie Genugtuungen nach Art. 47 bzw. 49 OR. Sie soll primär die immaterielle Unbill abgelten, die dem Opfer aus der Straftat und deren Folgen erwächst. Im Bereich der Opferhilfe sind deshalb nach Art. 22 Abs. 1 OHG die von den Zivilgerichten entwickelten Grundsätze zur Bemessung der Genugtuung sinngemäss heranzuziehen. Die Opferhilfe gewährt nach oben nicht weitergehende Ansprüche, als das Opfer zivilrechtlich gegen den Täter geltend machen könnte. Zu beachten ist, dass es sich bei der Genugtuung nach OHG um eine staatliche Hilfeleistung handelt. Die unterschiedliche Ausgestaltung von zivilrechtlicher und opferhilferechtlicher Genugtuung ändert nichts daran, dass darauf ein Rechtsanspruch besteht und nicht nur aus Billigkeit geleistet wird. Auch unter altem Recht wurde berücksichtigt, dass die Genugtuung nicht vom Täter, sondern von der Allgemeinheit bezahlt wird. Ist die Schädigung nicht dauernd, so ist ein Anspruch auf Genugtuung nur gegeben, wenn besondere Umstände vorliegen, wie etwa eine lange Leidenszeit, Arbeitsunfähigkeit oder ein längerer Spitalaufenthalt. Es wird indessen auch nicht verlangt, dass die Folgen der Straftat das ganze Leben lang anhalten (Gomm in: Gomm/Zehntner [Hrsg.], Opferhilferecht, 4. Aufl. 2020, Art. 22 OHG N. 5 ff.).

 

5.2 Die Genugtuung beträgt höchstens Fr. 70'000.-- für das Opfer und Fr. 35'000.-- für Angehörige (Art. 23 Abs. 2 lit. a und b OHG). Mit der Einführung dieser Höchstbeträge brachte der Gesetzgeber den Willen zum Ausdruck, dass die opferhilferechtliche Genugtuungen klar tiefer bemessen werden sollen als die zivilrechtlichen Genugtuungen, womit insoweit eine Abkoppelung vorgesehen wurde. Gemäss den Erläuterungen des Bundesrats in der Botschaft vom 9. November 2005 zur Totalrevision des OHG sollte der Praxis überlassen werden, für opferhilferechtliche Genugtuungen einen Tarif zu entwickeln. Daher kann aus der bundesrätlichen Angabe, der Höchstbetrag von Fr. 70'000.-- entspreche ungefähr zwei Dritteln des üblichen haftpflichtrechtlichen Grundbetrags von Fr. 100'000.-- bei dauernder Invalidität, keine zwingende "Zwei-Drittel-Regel" im Verhältnis zu zivilrechtlichen Genugtuungen abgeleitet werden. Dies schliesst indessen nicht aus, dass kantonale Gerichte aufgrund des Vergleichs des Höchstbetrags mit den im Zivilrecht zugesprochenen Höchstsummen zivilrechtliche Genugtuungen ermessensweise um 40% herabsetzen. So führte der Bundesrat in der Botschaft zur Totalrevision des OHG aus, im Jahr 2004 habe die durchschnittliche Genugtuung Fr. 9'700.-- und der Median (das heisst der Wert, der die Gesamtzahl der Fälle in zwei gleich grosse Hälften teile) Fr. 5'000.-- betragen; proportional auf die neuen Höchstwerte angewendet, sollte der Median bei etwa Fr. 3'000.-- liegen. Die Genugtuung soll nicht so tief angesetzt werden, dass sie für das Opfer als lächerlich erscheint. Die Integritätsentschädigung gemäss Art. 24 f. UVG bemisst sich grundsätzlich nach der medizinisch-theoretischen Invalidität gemäss der Skala im Anhang 3 der UVV und entspricht im Regelfall dem angegebenen Prozentsatz des Höchstbetrags des versicherten Verdienstes. Die versicherungsrechtliche Integritätsentschädigung kann für die Bemessung der zivil- und opferhilferechtlichen Genugtuungen nicht bindend sein, weil für diese teilweise andere Kriterien massgebend sind. Die Integritätsentschädigung kann jedoch bei der Bemessung der Genugtuung einen sachlichen Anhaltspunkt zur Beurteilung der objektiven Schwere der Beeinträchtigung bilden und im Sinne eines Richtwerts berücksichtigt werden, der im Verhältnis zu anderen Bemessungskriterien unterschiedlich gewichtet werden kann. Die in Weiterentwicklung der bundesrätlichen Skala der Integritätsentschädigung von der Suva in tabellarischer Form erarbeiteten Bemessungsgrundlagen stellen zwar keine Rechtssätze dar, können aber bei der Bewertung der objektiven Schwere der immateriellen Unbill ebenfalls ein Orientierungspunkt sein (Urteil des Bundesgerichts 1C_320/2019 vom 23. April 2020 E. 4.3 mit zahlreichen Hinweisen).

 

5.3

5.3.1 In der Praxis haben sich bei der Bemessung der opferhilferechtlichen Genugtuung kantonale Unterschiede entwickelt. Je nach angewandter Methode können sich im Ergebnis unterschiedliche Höhen von opferhilferechtlichen Genugtuungen ergeben. Das Bundesgericht hat die unterschiedlichen Methoden im Rahmen des den Vor­instanzen zustehenden Ermessensbereichs nicht kritisiert. Die meisten kantonalen Entschädigungsbehörden wenden den Leitfaden zur Bemessung der Genugtuung nach Opferhilfegesetz des Bundesamts für Justiz vom 3. Oktober 2019 (nachfolgend Leitfaden) an. Dieser ist so konzipiert, dass die Genugtuung eigenständig eruiert werden kann. Er weist jedoch keine Gesetzes- oder Verordnungsqualität auf und muss deshalb nicht zwingend beachtet werden (Gomm, a.a.O., Art. 23 OHG N. 9 mit Hinweisen).

 

5.3.2 Der Leitfaden Genugtuung hat verschiedene Anliegen der kantonalen Opferhilfebehörden aufgenommen. So wurde beispielsweise die Obergrenze für Sexualdelikte angepasst und es wurde eine zusätzliche Kategorie für Beeinträchtigungen der psychischen Integrität geschaffen. Dem Leitfaden ist unschwer die Absicht zu entnehmen, künftig höhere Genugtuungen für sexuelle Gewalt zu sprechen, sowie auch psychische Folgen von Delikten besser entschädigen zu können. In diesem Bereich unterscheidet er sich denn auch deutlich von den Anspruchsberechtigungen der Integritätsentschädigung nach UVG. Insgesamt findet durch den neuen Leitfaden eine detaillierte Umschreibung der Anspruchsberechtigung statt. Er geht auch insofern in die richtige Richtung, als er den Entschädigungsbehörden ein dem zivilen Haftpflichtrecht entnommenes Manual an Bemessungsgründen mitgibt, die es erlauben, eine eigenständige Gewichtung vorzunehmen (Gomm, a.a.O., Art. 23 OHG N. 17).

 

5.4 Die zusätzliche Aufführung der sexuellen Integrität ist eine Besonderheit des Opferhilferechts. Opfer von Sexualdelikten haben oft besondere Schwierigkeiten, die Straftat an sich, aber auch deren psychische Folgen direkt nachzuweisen. Im Zusammenhang mit der Ermittlung von Genugtuung für Opfer von Sexualdelikten kann abgeleitet werden, dass die ausdrückliche Nennung der sexuellen Integrität mit der Vermutung einhergeht, dass Opfer solcher Übergriffe es in der Regel auch schwer haben, diese zu überwinden und deshalb die notwendigen Hilfestellungen und Leistungen der Allgemeinheit geboten sind. Die Schwere einer Unbill kann in der Regel nicht direkt bewiesen werden, weil sie von der Empfindung der geschädigten Person abhängt. Ist die seelische Verletzung nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet, eine schwere Unbill zu verursachen, so genügt der Beweis dieser Verletzung; die Schwere der Verletzung muss dann nicht mehr bewiesen werden, hingegen sind die Umstände darzulegen, die auf subjektiv schweres Empfinden schliessen lassen (Gomm, a.a.O., Art. 23 OHG N. 19). Gemäss Leitfaden (S. 14 f.) entspricht es der Praxis, für die Bestimmung der Schwere der Beeinträchtigung der sexuellen Integrität - und damit der Genugtuungshöhe - von der Schwere der Straftat auszugehen und von dieser auf notorisch auftretende Auswirkungen zu schliessen. Sofern vorhanden, können auch Arzt- und Therapieberichte beigezogen werden. Gemäss Leitlinien gibt es drei Bandbreiten: Ausserordentlich schwere Beeinträchtigungen mit einer möglichen Genugtuung von Fr. 20'000.-- bis Fr. 70'000.--, sehr schwere Beeinträchtigungen mit einer möglichen Genugtuung von Fr. 8'000.-- bis Fr. 20'000.-- sowie schwere Beeinträchtigungen mit einer möglichen Genugtuung bis Fr. 8'000.--. Zu berücksichtigende Bemessungskriterien sind die direkten Folgen der Tat, der Tathergang und die Begleitumstände sowie die Situation des Opfers.

 

5.5 Die Festsetzung der Höhe der Genugtuung ist eine dem Einzelfall anzupassende Entscheidung nach Billigkeit. Den kantonalen Behörden steht daher bei der Festsetzung der Genugtuung ein weiter Ermessensspielraum zu, in den das Gericht nur eingreift, wenn grundlos von den in Lehre und Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen abgewichen wird, wenn Tatsachen berücksichtigt werden, die für den Entscheid im Einzelfall keine Rolle spielen dürfen oder wenn umgekehrt Umstände ausser Betracht geblieben sind, die hätten beachtet werden müssen, oder wenn sich der Entscheid als offensichtlich ungerecht erweist (Urteil des Bundesgerichts 1C_320/2019 vom 23. April 2020 E. 4.3 mit Hinweisen).

 

6.

6.1 In der mündlichen Urteilsbegründung führte die Präsidentin des Bezirksgerichts A im Wesentlichen aus, aus Sicht des Gerichts sei erstellt, dass es zum Oralverkehr gekommen sei. Aufgrund der Umstände sei erstellt, dass die Beschwerdeführerin nicht freiwillig mit dem Angeklagten in den Park zurückgekehrt sei. Wenn man die Aussagen der Beschwerdeführerin werte, sei es so, dass nicht zweifelsfrei erwiesen sei, dass sie gewürgt oder geschlagen worden sei, weil es keine entsprechenden Abklärungen in den Akten gebe. Das Institut für Rechtsmedizin sage, die Verletzungen könnten auch von einem Sturz herrühren. Das Gericht sei aber gestützt auf diese Aussagen der Ansicht, dass sich die Beschwerdeführerin bedroht gefühlt habe, teilweise vielleicht auch Todesangst gehabt habe, sich in einer ausweglosen Situation befunden habe und sich nicht habe wehren können bzw. der Meinung gewesen sei, dass sie sich in einer ausweglosen Situation befunden habe und es sich nicht lohnen würde bzw. sie nicht so reagiert habe, wie sie vielleicht ausgesagt habe oder wie dies zumindest aufgrund der Akten nicht belegt werden könne. Aus Sicht des Gerichts sei aber klarerweise kein einvernehmlicher Oralverkehr gegeben gewesen und gestützt auf diese Umstände sei der Straftatbestand der sexuellen Nötigung erfüllt. Im Zusammenhang mit dem Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten" sei es für das Gericht nicht zweifelsfrei erstellt, dass es zu den von der Beschwerdeführerin geltend gemachten zwei bis drei Penetrationen bzw. dieser eigentlichen Vergewaltigung gekommen sei. Bezüglich der Genugtuung bzw. Basisgenugtuung sei es so, dass das Gericht trotz allem an den unteren Rand der geltend gemachten Genugtuungsforderung (Fr. 20'000.--) gegangen sei. Dies unter Berücksichtigung, dass es bei einer Penetration ohne Kondom noch einen Zuschlag von Fr. 5'000.-- gebe. Das Gericht sei nicht ganz sicher, ob sich dieser Zuschlag auf alle Arten beziehe. Berücksichtigt habe es zudem, dass es übereinstimmend nicht zum Samenerguss gekommen sei. Das Gericht sei der Ansicht, dass insgesamt mit der Basisgenugtuung von Fr. 10'000.-- eine adäquate Abgeltung zugesprochen werde.

 

6.2 Orientiert man sich allein am Leitfaden (S. 14), so stellt die gegenüber der Beschwerdeführerin begangene sexuelle Nötigung eine schwere Beeinträchtigung dar, die zu einer Genugtuung in Höhe von bis zu Fr. 8'000.-- führt. Eine Einstufung als schwere sexuelle Nötigung und damit als sehr schwere Beeinträchtigung (Genugtuung Fr. 8'000.-- bis Fr. 20'000.--) erscheint mit Blick auf die bedingt erlassene Freiheitsstrafe von 24 Monaten bei einer möglichen Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren (Art. 189 Abs. 1 StGB) nicht gerechtfertigt. Berücksichtigt man die Bemessungskriterien (S. 15 des Leitfadens), ist die Genugtuung für die Beschwerdeführerin eher im unteren Rahmen anzusetzen. So sind keine direkten Folgen der Tat (wie etwa Psychotherapie, Arbeitsunfähigkeit, erhebliche Veränderung der Lebensweise, Lebensgefahr, Auswirkungen auf das Berufs- oder Privatleben, Ansteckung mit einer Krankheit, Schwangerschaft oder Verlust des Fötus) ersichtlich und auch nicht behauptet, wobei festzuhalten ist, dass die Beschwerdeführerin IV-Rentnerin ist, keiner Arbeit nachgeht und sich zum Tatzeitpunkt unbestrittenermassen an sich im Rahmen einer fürsorgerischen Unterbringung in der Psychiatrischen Klinik C aufhielt, jedoch abgängig war, und sich nach der Tat vom (…) bis (…) dort aufhielt. Letzteres ist im Rahmen des Bemessungskriteriums "Situation des Opfers" zu berücksichtigen. In Bezug auf das Bemessungskriterium "Tathergang und Begleitumstände" ist festzuhalten, dass die meisten im Leitfaden aufgezählten Punkte nicht erfüllt sind. So ist keine qualifizierte Tatbegehung ersichtlich. Bezüglich Intensität und Ausmass der Gewalt ist insbesondere der erzwungene Oralverkehr von Bedeutung, der mit einer gewissen Gewaltanwendung verbunden war. Im Übrigen waren Intensität und Ausmass der Gewalt nicht sonderlich ausgeprägt, zumal das Bezirksgericht A die von der Beschwerdeführerin gemachten Angaben (Schlagen und Würgen) nicht als zweifelsfrei erwiesen erachtete und den Täter vom Vorwurf der (versuchten) Vergewaltigung freisprach. Auch wenn sich die Beschwerdeführerin den gesamten Abend vom Täter belästigt fühlte und die Tat an sich nachvollziehbarer Weise als lang und quälend empfand, ist doch festzuhalten, dass es sich um eine einmalige Tat handelte, die sich in einem Zeitraum von (gemäss Anklageschrift) etwa 14 Minuten abspielte, in denen der Täter die Beschwerdeführerin gegen ihren Willen küsste, an den Haaren zog, ihre Brüste tastete, ihre Vagina sowie ihr Gesäss berührte und sie zwang, ihn oral zu befriedigen, wobei der Oralverkehr rund drei Minuten dauerte. Objektiv betrachtet sind Zeitraum, Dauer und Häufigkeit der Tatbegehung daher als gering zu bezeichnen. Sodann liegt weder eine Tatbegehung durch mehrere Täter bzw. Täterinnen noch eine Tatbegehung an einem geschützten Ort noch Ausübung von Druck auf die Beschwerdeführerin, damit sie die Tat geheim hält, vor. Beim Bemessungskriterium "Situation des Opfers" ist, wie bereits erwähnt, zu berücksichtigen, dass die Beschwerdeführerin offenbar an psychischen Einschränkungen litt, war sie zur Tatzeit doch eigentlich im Rahmen einer fürsorgerischen Unterbringung in der Psychiatrischen Klinik C hospitalisiert. Aufgrund dieses Umstands ist von einer besonderen Verletzlichkeit der Beschwerdeführerin auszugehen. Orientiert man sich ausschliesslich am Leitfaden, erscheint die von der Vorinstanz ermittelte Genugtuung in Höhe von Fr. 3'000.-- angesichts der wenigen relevanten Bemessungskriterien und bei einer maximal infrage kommenden Genugtuung von Fr. 8'000.-- angemessen.

 

6.3

6.3.1 Sodann ist ein Vergleich mit Präjudizien anzustellen, wobei nachfolgend lediglich Fälle aufgeführt werden, die nach Erlass der neuen Richtlinien ergangen sind.

 

6.3.2  

6.3.2.1 In dem dem Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau SST.2021.168 (Landolt, Genugtuungsrecht, Datenbank, Urteil Nr. 3191) vom 4. Mai 2022 zugrundeliegenden Fall betreffend sexuelle Nötigung, Beschimpfung lag das Opfer im Rahmen einer vom Beschuldigten durchgeführten Klangschalentherapie nackt auf dem Bauch auf seinem (des Opfers) Bett. Der Beschuldigte sprang auf dessen Brust, blockierte dessen Arme und führte seinen erigierten Penis während fünf bis 15 Minuten in dessen Mund ein, wobei er dessen Kopf vor und zurück bewegte. Das Gericht verurteilte den Beschuldigten zu einer (zivilrechtlichen) Genugtuung in Höhe Fr. 5'000.--. In E. 7.3 führte das Gericht diesbezüglich im Wesentlichen aus, es handle sich bei der erzwungenen oralen Penetration um eine schwerwiegende Beeinträchtigung der psychischen und sexuellen Integrität des Opfers. Auch wenn es keine physischen Verletzungen davongetragen habe und sich auch nicht in eine Therapie habe begeben müssen, so stehe doch fest, dass der Vorfall keinesfalls spurlos an ihm vorbeigegangen sei. Der Beschuldigte habe mit direktem Vorsatz gehandelt und sein Verschulden wiege unter Genugtuungsgesichtspunkten schwer. Ein Selbstverschulden des Opfers sei nicht auszumachen. Unter diesen Umständen erscheine mit der Vorinstanz eine Genugtuung von Fr. 5'000.-- als angemessen und könne nicht reduziert werden. Das Urteil der Vorinstanz datierte hierbei vom 19. Januar 2021.

 

6.3.2.2 In dem dem Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau SST.2021.216 (Landolt, a.a.O., Urteil Nr. 3429) vom 10. November 2022 zugrundeliegenden Fall betreffend sexuelle Handlungen mit einem Kind nahm der Beschuldigte nach Mitternacht mit dem damals 14-jährigen Opfer in seiner Wohnung sexuelle Handlungen vor. Zu Beginn hat er das Opfer auf dem Sofa im Wohnzimmer über und dann unter den Kleidern unter anderem an den Brüsten berührt. In der Folge hat er dessen Hose und Unterhose ausgezogen, dessen Vagina massiert, mit seinen Fingern dessen Scheide penetriert und dessen Brüste abgeleckt. Anschliessend begab er sich mit dem Opfer ins Schlafzimmer, wo es zu gegenseitigem Oralverkehr kam. In Bezug auf die (zivilrechtliche) Genugtuung führte das Gericht in E. 6.3 im Wesentlichen aus, auch wenn sich das Opfer den Handlungen nicht widersetzt habe, erachte das Gericht die Voraussetzungen für die Zusprechung einer Genugtuung (knapp) als erfüllt. Denn Sinn und Zweck von Art. 187 StGB sei es, die ungestörte Entwicklung des Kinds zu schützen, bis es die notwendige Reife erreicht habe, die es zur verantwortlichen Einwilligung in sexuelle Handlungen befähige. Sei das Kind unter 16 Jahre alt, werde ihm die notwendige Reife von Gesetzes wegen abgesprochen. Insofern sei es auch nur von untergeordneter Natur, ob dieses in die Handlungen eingewilligt habe oder nicht. Vorliegend falle erschwerend ins Gewicht, dass es sich beim Beschuldigten um eine Vertrauensperson des Opfers gehandelt habe. Dieser habe mit ihm denn auch vergleichsweise schwere sexuelle Handlungen vorgenommen, welche ohne weiteres geeignet gewesen seien, in schwerer Art und Weise dessen ungestörte sexuelle Entwicklung zu beeinflussen. Dies gelte umso mehr, als das Opfer vorgängig zur Tat über keine sexuelle Erfahrung verfügt habe und der Beschuldigte deutlich älter sei als es. Das Opfer habe im Nachgang zur Tat gemäss eigenen Angaben sogenannte Flashbacks und Ekelgefühle gegenüber seinem eigenen Körper erlitten. Das Opfer habe sich nach der Tat - mit Ausnahme eines einmaligen Besuchs - nicht in psychologische Behandlung begeben oder anderweitige Hilfsangebote in Anspruch genommen, sondern versucht, den Vorfall zu verdrängen, weswegen nicht von einer schwerwiegenden Traumatisierung ausgegangen werden könne. Auch wohne es nach eigenen Angaben unter der Woche mit seinem Freund zusammen, was zumindest darauf schliessen lasse, dass die sexuellen Handlungen mit dem Beschuldigten nicht zu einer nachhaltigen Beziehungsunfähigkeit geführt hätten. In einer Gesamtbetrachtung erweise sich eine (zivilrechtliche) Genugtuung von Fr. 3'000.-- als angemessen.

 

6.3.2.3 Im Urteil des Kantonsgerichts von Graubünden SK1 19 34 (Landolt, a.a.O., Urteil Nr. 3038) vom 3. Dezember 2021 betreffend sexuelle Handlungen mit Kindern, in dem das Gericht in E. 6.1 auch Bezug auf den Leitfaden nahm, führte es in E. 6.2 im Wesentlichen aus, der Beschuldigte habe zwischen Dezember 2011 und Sommer 2012 am damals 15-jährigen Opfer einmal Oralverkehr bis zum Samenerguss vorgenommen und sich dadurch der sexuellen Handlungen mit Kindern gemäss Art. 187 Ziff. 1 StGB strafbar gemacht hat. Es treffe zu, dass das Opfer im Rahmen seiner polizeilichen Einvernahme im Jahre 2017 ausgesagt habe, dass es die Taten gut habe verarbeiten können. Dies könne zwar einen Einfluss auf die Höhe der Genugtuung haben, schliesse diese aber nicht per se aus. Gerade bei sexuellen Handlungen mit Kindern dürfe eine vermeintliche Einwilligung nicht den durch Art. 187 StGB gewährten Schutz aushebeln. So gehe denn aus der polizeilichen Befragung vom 31. März 2017 auch hervor, dass das Opfer sich bis zur Befragung kaum mit den Geschehnissen befasst und niemandem davon erzählt habe, was eher auf eine Verdrängung als auf eine Verarbeitung hindeute. Zudem habe es bereits dort ausgeführt, dass es das Gefühl habe, sexuell missbraucht worden zu sein, wenn es jetzt darüber nachdenke. Es erscheine daher nachvollziehbar, dass sich die psychische Belastung erst im Lauf des Verfahrens manifestiert habe. Auch wenn sich das Opfer zurzeit nicht in Therapie befinde, sei es nachvollziehbar und glaubhaft, dass es durch das Erlebte nachhaltig in seiner sexuellen Entwicklung beeinträchtigt worden sei. Die von ihm geschilderten Probleme (Schwierigkeiten beim Eingehen von Liebesbeziehungen und Aufbau von Vertrauen anderen Menschen gegenüber sowie Mühe mit menschlicher Nähe) seien typisch für Opfer von sexueller Gewalt. Gerade bei Kindern, die Opfer von sexuellem Missbrauch geworden seien, seien Langzeitfolgen, welche erst im Erwachsenenalter aufträten, keine Seltenheit. Die vom Opfer geforderte (zivilrechtliche) Genugtuung von Fr. 1'500.-- bewege sich im unteren Bereich der gemäss Praxis in diesen Fällen zu leistenden Zahlungen und erweise sich daher als angemessen.

 

6.3.2.4 In dem dem Urteil des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt SB.2021.9 (Landolt, a.a.O., Urteil Nr. 2919) vom 30. Juli 2021 zugrundeliegenden Fall betreffend Vergewaltigung, versuchte Vergewaltigung sowie sexuelle Nötigung haben der Beschuldigte und der jugendliche Mitbeschuldigte das Opfer im Windfang unter Gewaltanwendung in sexueller Absicht bedrängt. Der jugendliche Mitbeschuldigte hat das Opfer unvermittelt von hinten festgehalten und zu sich gezogen. Weiter hat er ihm unter den Pullover gegriffen und am Büstenhalter gerissen, um ihm an den Busen zu greifen. Der Beschuldigte hat den Kopf an den Haaren auf Hüfthöhe zu sich gezogen und dem Opfer - es weiter am Kopf haltend und zum Oralverkehr zwingend - seinen Penis an und in den Mund gedrängt, wogegen sich das Opfer mit beiden Händen zu wehren versuchte. Gleichzeitig hat der jugendliche Mitbeschuldigte von hinten die Leggins und den Slip des Opfers nach unten gerissen und von hinten ungeschützt eindringend den vaginalen Geschlechtsverkehr am lauthals schreienden Opfer vollzogen. Das Opfer hat zu keinem Zeitpunkt in sexuelle Handlungen mit dem Beschuldigten und dem jugendlichen Mitbeschuldigten eingewilligt. Ohne zum Höhepunkt gekommen zu sein, haben die beiden das Opfer - weiter massiv Gewalt anwendend - bäuchlings zu Boden gedrückt, woraufhin sich nun der Beschuldigte auf das Opfer gelegt und versucht hat, ebenfalls ungeschützt vaginal in es einzudringen. Wegen der heftigen Gegenwehr des Opfers ist ihm indessen trotz hartnäckiger Versuche nicht gelungen. Gleichzeitig ist der jugendliche Mitbeschuldigte onanierend vor dem Opfer gestanden und hat ihm ins Gesicht ejakuliert. In Bezug auf die Genugtuung nahm das Gericht in E. 12.3 auch auf den Leitfaden Bezug. Es führte diesbezüglich im Wesentlichen aus, in Bezug auf die direkten Folgen der Tat sei zunächst festzuhalten, dass es notorisch sei, dass ein Delikt gegen die sexuelle Integrität, wie es vorliegend begangen worden sei, psychische Folgen habe und seelischen Schmerz verursache. Es sei folglich nachvollziehbar, dass das Opfer nach wie vor mit den Folgen der Tat zu kämpfen habe und insbesondere seine Beziehung zu seinen Kindern darunter leide. Im vorliegenden Fall liege dem Gericht allerdings kein aktueller Arztbericht vor, welcher sich zur Intensität und zum Ausmass der psychischen Folgen äussere. Auch sei nicht bekannt, ob und in welchem Ausmass das Opfer seit dem erstinstanzlichen Urteil noch auf Schlaf- und Beruhigungsmedikamente angewiesen sei. Aktuelle ärztliche Verschreibungen lägen nicht vor. Das Opfer habe ferner bereits anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung auf die Frage, ob es noch in den Ausgang gehe und Leute treffe, angegeben, dass es sich wieder ab und an mit Leuten treffe, sodass von einem vollkommenen Rückzug aus dem sozialen Leben nicht auszugehen sei. Schliesslich sei hinsichtlich der Auswirkung der Tat auf die Arbeitsfähigkeit bzw. die berufliche Ausbildung bereits unter dem Titel der Strafzumessung darauf hingewiesen worden, dass - abgesehen davon, dass dem Gericht keine Unterlagen für die geplante Ausbildung vorlägen - aufgrund der bereits vor dem Vorfall langjährigen Arbeitslosigkeit des Opfers nicht davon ausgegangen werden könne, dass die Nichtanhandnahme der Ausbildung einzig auf den vorliegenden Vorfall zurückzuführen sei. Was den Tathergang und die Begleitumstände der Tat betreffe, sei zu konstatieren, dass die Übergriffe nicht über die Gewalt, die einer Vergewaltigung inhärent seien, hinausgegangen seien. Von den aufgeführten Kriterien seien somit einzig die Kriterien der gemeinsamen Tatbegehung und der Tatbegehung an einem geschützten Ort (Tatort im Windfang der Liegenschaft ihrer Wohnung) erfüllt. Zu berücksichtigen sei zusätzlich, dass aus dem Umfeld des Beschuldigten offenbar Druck auf das Opfer ausgeübt worden sei, um den Ausgang des vorliegenden Berufungsverfahrens für ihn günstig zu beeinflussen. Wegen Fehlens der entsprechenden Auszüge könnten die vom Opfer geltend gemachten Anfeindungen auf den Sozialen Medien hingegen nicht berücksichtigt werden. Ebenfalls könne nicht von einer über ein übliches Mass hinausgehende Medienberichterstattung gesprochen werden. In E. 12.4 erachtete das Gericht die von der Vorinstanz zugesprochene Genugtuung von Fr. 12'000.-- als zu hoch. In Anbetracht der dargestellten Umstände und mit Blick auf Vergleichsfälle sowie unter Hinweis auf die Zusammenstellung im Jusletter legte es die (zivilrechtliche) Genugtuung auf Fr. 9'000.-- fest.

 

6.3.2.5 Bei Gomm (a.a.O., Art. 23 OHG N. 36) findet sich sodann eine Auflistung mit Entscheiden betreffend opferhilferechtliche Genugtuung bei Sexualdelikten aus den Jahren 2019 und 2020. Opferhilferechtliche Genugtuungen in Höhe von Fr. 10'000.-- wurden hierbei für Fälle von Vergewaltigung bzw. eventueller Vergewaltigung zugesprochen, häufig unter Hinweis auf gesundheitliche bzw. soziale Folgen. In Bezug auf sexuelle Nötigung findet sich eine grosse Bandbreite an Genugtuungen von Fr. 9'000.-- (sexuelle Nötigung, mindestens zehnfache sexuelle Handlungen mit einem Kind im Alter von vier bis fünfeinhalb Jahren) bis Fr. 1'500.-- (sexuelle Nötigung während der Pubertät durch den Stiefvater, Verlust der Lehrstelle, psychische Störungen). Zudem wurde in einem Fall nach jahrelanger sexueller Nötigung in einer Sekte bei dauerhaften psychischen Beschwerden eine Genugtuung von Fr. 12'000.-- (zivilrechtlich Fr. 15'000.--) zugesprochen. Genauere Angaben zur Art und Weise der sexuellen Nötigung finden sich in dieser Übersicht nur teilweise. Oralverkehr wird hierbei bei einem Fall aufgeführt. Demnach wurde dem Opfer nach sexueller Nötigung, Freiheitsberaubung, mehrfach versuchter Nötigung, Oralverkehr gegen den Willen, Drohung Nacktfotos der 16-jährigen über WhatsApp zu verschicken eine (opferhilferechtliche) Genugtuung in Höhe von Fr. 5'000.-- zugesprochen.

 

6.3.3 Mit Blick auf die in E. 6.3.2.1 bis 6.3.2.4 erwähnten Präjudizien ist festzuhalten, dass die vorliegend zu beurteilende Straftat bzw. die daraus resultierenden Folgen am ehesten mit dem in E. 6.3.2.1 geschilderten Fall vergleichbar sind, in dem eine (zivilrechtliche) Genugtuung von Fr. 5'000.-- zugesprochen wurde. Die anderen geschilderten Fälle erscheinen insgesamt eher schwerwiegender, wobei die (zivilrechtlichen) Genugtuungen zweimal unter und einmal über Fr. 5'000.-- lagen; auch im gravierendsten Fall war hierbei eine Genugtuung von weniger als Fr. 10'000.-- zugesprochen worden. Vor diesem Hintergrund erscheint es nachvollziehbar, dass die Vorinstanz zum Schluss gelangt ist, die vom Bezirksgericht A zugesprochene Genugtuung von Fr. 10'000.-- erscheine als sehr hoch angesetzt.

 

6.4 In Würdigung der gesamten Umstände ist festzuhalten, dass die Differenz zwischen der der Beschwerdeführerin zivilrechtlich zugesprochenen Genugtuung in Höhe von Fr. 10'000.-- und der von der Vorinstanz zugesprochenen opferhilferechtlichen Genugtuung von Fr. 3'000.-- zwar erheblich ist. Allerdings gilt diesbezüglich einerseits keine zwingende "Zwei-Drittel-Regel", wie in E. 5.2 dargelegt wurde. Andererseits erscheint die vom Bezirksgericht A zugesprochene Genugtuung, wie dargelegt und auch von der Vorinstanz festgestellt, als sehr hoch, wenn man sie mit ähnlichen Fällen vergleicht. Auch lässt sich mangels Begründung nicht nachvollziehen, wie das Bezirksgericht A zu diesem Betrag gekommen ist. Folgt man den Richtlinien, fällt eine Genugtuung in der Bandbreite von Fr. 0.-- bis Fr. 8'000.-- in Betracht, wobei diesbezüglich wenig Bemessungskriterien erfüllt sind, was eine Genugtuung im tieferen Bereich nahelegt. Die Vorinstanz hat diese Umstände im angefochtenen Entscheid berücksichtigt und die opferhilferechtliche Genugtuung auf Fr. 3'000.-- festgelegt. Sie hat ihr Ermessen hierbei in dem ihr zur Verfügung stehenden Spielraum pflichtgemäss ausgeübt. Das Ergebnis erscheint nicht ungerecht. Würde man die "Zwei-Drittel-Regel" umgekehrt anwenden und von der opferhilferechtlichen- auf die zivilrechtliche Genugtuung schliessen, ergäbe dies eine zivilrechtliche Genugtuung von Fr. 4'800.--, was in etwa vergleichbar wäre mit den aufgeführten Präjudizien. Es gibt somit keinen Grund, von der vorinstanzlichen Einschätzung abzuweichen. (…)

 

Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2023.86/E vom 6. Dezember 2023

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