TVR 2024 Nr. 24
Keine Baubewilligung für übermässigen Ausnützungstransfer in Kombination mit einer Ausnahmebewilligung zur Unterschreitung des Grenzabstandes.
§ 81 Abs. 1 PBG, § 92 Abs. 1 PBG
§ 81 PBG stellt eine Bestimmung des kantonalen Rechts und nicht der kommunalen Bauordnung dar. Bei der Auslegung ist die Gemeindeautonomie daher nicht zu beachten. In diesem Bereich kommt der Gemeinde somit lediglich ein gewisses Ermessen zu. Dieses Ermessen wird bei einer Erhöhung der anrechenbaren Grundstücksfläche bzw. der zulässigen Geschossfläche um 52% zufolge Ausnützungstransfer klar überschritten. Auch wenn sich die effektive Geschossfläche nur um 36% erhöht, ist ein Bauprojekt, welches für seine Realisierung auch noch auf eine Ausnahmebewilligung zur Unterschreitung des Grenzabstandes angewiesen ist, nicht bewilligungsfähig.
Die Liegenschaft Nr. X (im Eigentum der Verfahrensbeteiligten) wurde von der Liegenschaft Nr. Y abparzelliert. Ihre Eigentümer vereinbarten ein Näherbaurecht und einen Ausnützungstransfer von der Liegenschaft Y auf die Liegenschaft Nr. X im Umfang von 200 m2 (Grunddienstbarkeit). Die Politische Gemeinde Warth-Weiningen (verfahrensbeteiligte Gemeinde) erteilte den Verfahrensbeteiligten am 5. Mai 2021 eine Baubewilligung für die Erstellung eines Einfamilienhauses auf der Liegenschaft Nr. X. Dabei gewährte sie eine Ausnahmebewilligung zur Unterschreitung des Grenzabstandes zur Liegenschaft Y der Beschwerdeführerin. Die gegen das Baugesuch erhobene Einsprache wies die verfahrensbeteiligte Gemeinde ab. Das DBU (Vorinstanz) bestätigte den Einspracheentscheid und die Baubewilligung. Das Verwaltungsgericht heisst eine dagegen von der Beschwerdeführerin (Eigentümerin der Liegenschaft Nr. Z) erhobene Beschwerde gut und hebt die erteilte Baubewilligung auf.
Aus den Erwägungen:
2.
2.1 Die Beschwerdeführerin beanstandet den Nutzungstransfer von der Liegenschaft Nr. Y (…) auf die Liegenschaft Nr. X (…) der Verfahrensbeteiligten im Umfang von 200 m2 und begründet dies insbesondere mit dessen negativer Auswirkung auf die Gesamtwirkung.
2.2 Die Gemeindebehörde bewilligt die Inanspruchnahme von angrenzenden oder durch unbedeutende Unterbrüche getrennten Grundstücken in derselben Nutzungszone zur Berechnung der Nutzungsziffern, wenn die betroffenen Grundeigentümer sich schriftlich zu einem Verzicht auf die Nutzung im vereinbarten Umfang verpflichten und keine öffentlichen Interessen entgegenstehen. Die Gemeindebehörde lässt den Transfer im Grundbuch als Eigentumsbeschränkung anmerken (§ 81 PBG). Für einen Nutzungstransfer können nur direkt anstossende Grundstücke in Anspruch genommen werden, die sich in derselben Nutzungszone befinden (vgl. auch Michael Janser, Wegweiser durch das Thurgauer Planungs- und Baugesetz, 2021, S. 288 f.; Urteil des Bundesgerichts 1C_413/2013 vom 29. August 2013 E. 5.2).
2.3 Sowohl die Liegenschaft Nr. X der Verfahrensbeteiligten als auch die Liegenschaft Nr. Y befinden sich in der Bauzone, wobei es sich bei diesen zwei Liegenschaften früher um ein einziges Grundstück gehandelt hat. Im Grundsatz ist ein Transfer daher zulässig. Um eine unerwünschte Baudichte zu verhindern und den Zonencharakter zu wahren, muss das Mass der Nutzungsübertragung allerdings von untergeordneter Bedeutung bleiben (Janser, a.a.O., S. 288; vgl. auch Urteil des Bundesgerichts 1P.459/2004 vom 9. Februar 2005). Im vorliegenden Fall beträgt die ursprünglich anrechenbare Grundstücksfläche 384 m2. Bei einer Geschossflächenziffer (GFZ) in der Wohnzone W2a (vgl. Baureglement der verfahrensbeteiligten Gemeinde, Art. 5) von 0.6 ergibt sich somit eine Geschossfläche von 230.4 m2. Bei einem Transfer von 200 m2 wird die Grundstücksfläche auf 584 m2 erhöht. Die zulässige Geschossfläche beträgt somit neu 350.4 m2 (584 x 0.60), womit sie sich um 52% erhöht hat.
2.4 § 81 Abs. 1 PBG legt keine zulässigen Grenzwerte fest. Einem Transfer dürfen gemäss § 81 Abs. 1 PBG aber keine öffentlichen Interessen entgegenstehen. Eine Verletzung solch öffentlicher Interessen an der Beibehaltung der in einer Zone zulässigen Ausnutzung sowie der Einordnung ist aber ohne weiteres zu bejahen, wenn ein Transfer einen massgeblichen Prozentsatz der ursprünglichen Grundstücksfläche ausmacht. Mit der dadurch massiv erhöhten Ausnützung auf dem Empfängergrundstück verändert sich die räumliche Wirkung der Bebauung im baulichen Umfeld klar. Eine solche Ausnützungsübertragung kann somit auch nicht mehr als untergeordnet bezeichnet werden. Zwar kann das Baureglement die entsprechende Wirkung abfedern, indem es der Bebauung in masslicher Hinsicht Grenzen setzt. Wenn aber ein Transfer in der vorliegenden Grössenordnung noch durch eine Ausnahmebewilligung und ein Näherbaurecht ergänzt wird, führt dies zu einer massiv erhöhten Überbauung des entsprechenden Grundstückes, was dem öffentlichen Interesse und insbesondere dem Interesse der Nachbarn entgegenstehen kann. So verwies denn auch das Bundesgericht in seinem Urteil 1C_351/2012 vom 12. Februar 2013 in E. 8.2 auf die schützenswerten Interessen der Nachbarn im Rahmen eines Ausnützungstransfers. Im zitierten Entscheid erachtete es diese aber nicht als verletzt, weil der Transfer die Ausnützung um höchstens einen Viertel erhöhen durfte. Vorliegend handelt es sich jedoch um einen Transfer, mit welchem sich die zulässige Geschossfläche um 52% erhöht.
2.5 Daran ändert auch die Berechnung der Verfahrensbeteiligten nichts. Der effektiv vereinbarte Nutzungstransfer erhöht die zulässige Geschossfläche grundsätzlich um mehr als 50%. Die geplante Baute hat eine Geschossfläche von 313.2 m2. Die zulässige Geschossfläche des Grundstückes an sich beträgt lediglich 230.4 m2. Ohne Transfer wäre das Bauprojekt daher nicht zu realisieren und durch den Transfer würde die effektiv durch das Bauprojekt geplante Geschossfläche um 36% (von 230.4 m2 auf 313.2 m2) erhöht, was ebenfalls nicht mehr als untergeordnet bezeichnet werden kann. In einem späteren Zeitpunkt wäre zudem auch eine vollständige Ausnützung der zulässigen Geschossfläche von 350.4 m2 möglich. Folglich kann ein Nutzungstransfer nicht bloss aufgrund des tatsächlich beanspruchten Ausmasses beurteilt werden, wenn insgesamt ein darüber liegender Wert übertragen wird.
2.6 Bei § 81 PBG handelt es sich um eine Bestimmung des kantonalen Rechts, nicht der kommunalen Bauordnung. Bei der Auslegung ist daher die Gemeindeautonomie nicht zu beachten. Der verfahrensbeteiligten Gemeinde kommt daher in diesem Bereich lediglich ein gewisses Ermessen zu. Bei einem Ausnützungstransfer von 52% (und selbst bei 36% effektiv beanspruchter zusätzlicher Geschossfläche) wurde dieses Ermessen klar überschritten. Auch bei effektiv nur 36% beanspruchter zusätzlicher Geschossfläche ist das vorliegende Bauprojekt, welches für seine Realisierung auch noch auf eine Ausnahmebewilligung betreffend Grenzabstand angewiesen ist (siehe dazu E. 4 nachstehend), nicht bewilligungsfähig. Ob die geplante Geschossfläche auch mit möglichen Privilegierungen gemäss § 34 f. PBV erreicht werden könnte, braucht vorliegend nicht beurteilt zu werden, da eine solche Privilegierung aufgrund des bestehenden Bauprojekts nicht ersichtlich ist und somit die entsprechenden Möglichkeiten nicht genutzt wurden, was auch nicht behauptet wird.
3. (…)
4.
4.1 Im Weiteren beanstandet die Beschwerdeführerin die Ausnahmebewilligung in Bezug auf den Grenzabstand gegen Westen.
4.2 Nach § 92 Abs. 1 PBG kann die Gemeindebehörde nach Abwägung der beteiligten privaten Interessen Ausnahmen von kommunalen Vorschriften oder Plänen bewilligen,
bei ausserordentlichen Verhältnissen, insbesondere wenn eine unzumutbare Härte, eine unverhältnismässige Erschwernis oder ein sinnwidriges Ergebnis entstünde oder wenn durch die Abweichung eine bessere Lösung im Sinne der Raumplanung erreicht werden kann;
für Bauten und Anlagen zur Erfüllung gesetzlicher Aufgaben oder Vorschriften;
für befristete Bauten und Anlagen;
in Dorf- und Kernzonen zum Schutze des Ortsbildes und zur Siedlungserneuerung, sofern das Baureglement dies vorsieht.
Der Sinn und Zweck einer Ausnahmebewilligung besteht allgemein darin, im Einzelfall dem Verhältnismässigkeitsprinzip zum Durchbruch zu verhelfen (vgl. Lanter, in: Griffel/Liniger/Rausch/Thurnherr, Fachhandbuch Öffentliches Baurecht, 2016, N. 3.502). Die Ausnahmebewilligung bezweckt immer, im Einzelfall Härten und vom Gesetzgeber offensichtlich nicht gewollte Wirkungen zu vermeiden (Lanter, a.a.O., N. 3.503). Aus dem Begriff der Ausnahmebewilligung ergibt sich bereits, dass diese im Regelfall nicht zur Verfügung stehen soll. Vielmehr soll in Ausnahmefällen von der Anwendung von Bau- oder Nutzungsvorschriften dispensiert werden, um besonderen Verhältnissen gerecht zu werden. Ganz allgemein bildet daher das Vorliegen besonderer Verhältnisse bzw. wichtiger Gründe die zentrale Voraussetzung für jede Ausnahmebewilligung. Die Ausnahmegründe müssen objektiver Natur sein. In erster Linie kommen die Lage und Form der Parzelle, die Beschaffenheit des Baugrunds, der Zweck des Bauvorhabens sowie technische oder planerische Besonderheiten in Betracht. Die Härte muss in einem objektiven Nachteil bestehen, den der Baugesuchsteller im Verhältnis zu anderen Personen in gleicher oder ähnlicher Situation durch die strikte Anwendung der Baunormen erleiden würde. Für die Annahme einer Ausnahmesituation bedarf es nach der Rechtsprechung triftiger Gründe, und an die Erteilung eines Dispenses ist ein strenger Massstab zu legen (Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen B 2012/239 vom 16. April 2014 E. 6.1.1 mit Hinweis auf B 2003/161 vom 18. Dezember 2003; vgl. auch TVR 2020 Nr. 19). Persönliche oder finanzielle Gründe, wie der individuelle Raumbedarf oder der Wunsch nach einer möglichst gewinnbringenden Nutzung des Grundstücks, können dagegen in der Regel die Erteilung einer Ausnahmebewilligung nicht rechtfertigen (Lanter, a.a.O., N. 3.504 f., mit Hinweisen). Eine Ausnahmesituation darf auch dann nicht angenommen werden, wenn sich die Bauherrschaft auf generelle Gründe beruft, die sich praktisch immer anführen lassen. Dadurch würde faktisch das Gesetz bzw. der Nutzungsplan geändert; die Bewilligungsbehörde würde sich also im Ergebnis gesetzgeberische Kompetenzen anmassen. Auch der Umstand, dass das fragliche Projekt in architektonischer oder städtebaulicher Hinsicht eine "bessere Lösung" bietet als ein den Bau- und Nutzungsvorschriften entsprechendes, vermag keine Ausnahmesituation zu begründen. Es müssen Besonderheiten im vorstehend erläuterten Sinn hinzukommen. Vereinzelt sehen die Kantone jedoch ausdrücklich vor, dass auch dann Ausnahmen zugelassen werden können, wenn dank einer Abweichung von Bau- oder Nutzungsvorschriften eine bessere Lösung erzielt werden kann (Lanter, a.a.O., N. 3.506 f., mit Hinweisen). Bei der Erteilung einer Ausnahmebewilligung geht es um offensichtlich ungewollte Wirkungen einer Vorschrift im Einzelfall. Drängt sich eine grundsätzliche Abweichung vom ordentlichen Recht auf, so hat eine Änderung über die planungsrechtlichen Institute zu erfolgen (Änderung der Bau- und Zonenordnung, Sondernutzungspläne). Das auf einen möglichst umfassenden Ausgleich der beteiligten Interessen gerichtete Verfahren der Nutzungsplanänderung darf nicht durch eine large Dispenspraxis umgangen werden (vgl. Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich VB.2017.00019 vom 20. Dezember 2017 E. 6.3 mit Hinweisen).
4.3
4.3.1 Im vorliegenden Fall fällt eine Ausnahmebewilligung gestützt auf Ziff. 2 bis 4 von § 92 Abs. 1 PBG von vorneherein ausser Betracht. Zu prüfen ist somit vorliegend ausschliesslich eine Ausnahmebewilligung gestützt auf § 92 Abs. 1 Ziff. 1 PBG.
4.3.2 Die Verfahrensbeteiligten erleiden durch die Anwendung der einschlägigen Baunormen keinen objektiven Nachteil, der sie gegenüber anderen Personen in gleicher oder ähnlicher Situation schlechterstellen würde. Das Baugrundstück weist eine quadratische Form und kein besonderes Gefälle auf. Es ist lediglich recht klein. Die bauliche Situation und damit auch künftige bauliche Möglichkeiten des Grundstücks waren im Zeitpunkt des Liegenschaftserwerbs aber klar abschätzbar (Entscheid des Verwaltungsgerichts St. Gallen B 2021/147 vom 7. Januar 2022, E. 2.3.2). Die Liegenschaft Nr. X wurde zudem durch die Abparzellierung von der Liegenschaft Nr. Y erst so geschaffen und man nahm dadurch in Kauf, dass die Überbauung mit einem Standardeinfamilienhaus aufgrund der Grösse nicht oder nur erschwert möglich sein würde. Ein Nachbar darf durch eine Abweichung von den geltenden Bauvorschriften, die auch ihn schützen, aber nicht unzumutbar benachteiligt werden (Janser, a.a.O., S. 319). Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass bei einer Herabsetzung des (grossen) Grenzabstands die Überbaubarkeit der Liegenschaft der Beschwerdeführerin (Nr. Z) erschwert wird, da bei einer allfälligen weiteren Überbauung der im Baureglement normierte Gebäudeabstand, welcher gemäss Art. 25 des Baureglements der verfahrensbeteiligten Gemeinde der Summe der vorgeschriebenen Grenzabstände entspricht, einzuhalten wäre (vgl. zum Ganzen Schmid/Paydar, Gegenseitige Näherbaurechte und kantonale Vorschriften zum Gebäudeabstand - ein Spannungsverhältnis, in: BR 6/2023, S. 327 ff.). Eine Abwägung der Interessen führt vorliegend dazu, dass der Grenzabstand nicht zulasten der Liegenschaft Nr. Z herabgesetzt werden kann, um eine an sich zu klein abparzellierte Liegenschaft (um jeden Preis) überbaubar zu machen, zumal die Realisierbarkeit des Bauvorhabens auch noch von einem massgeblichen Ausnützungstransfer abhängt. Die verfahrensbeteiligte Gemeinde hat somit zu Unrecht eine Ausnahmebewilligung erteilt.
5. (…)
6. Aufgrund der gleichzeitigen Beanspruchung der Ausnahmebewilligung betreffend Grenzabstand sowie dem übermässigen Ausnützungstransfer ist die Beschwerde im Ergebnis gutzuheissen. Der Rekursentscheid der Vorinstanz vom 3. Januar 2023 und damit auch die durch die verfahrensbeteiligte Gemeinde erteilte Baubewilligung vom 5. Mai 2021 sind aufzuheben. Nicht extra aufzuheben ist der Einspracheentscheid der verfahrensbeteiligten Gemeinde vom 5. Mai 2021, da dieser durch den Rekursentscheid ersetzt wurde.
Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2023.15/E vom 21. Februar 2024