RBOG 1994 Nr. 2
Rechtsmissbräuchliche Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen während des Scheidungsverfahrens bei Konkubinat
Art. 2 Abs. 2 ZGB, Art. 137 Abs. 2 (Art. 145 aZGB) ZGB
1. Der Rekursgegner verlangt, es sei davon abzusehen, der Rekurrentin für die Dauer des Scheidungsverfahrens einen Unterhaltsbeitrag zuzusprechen. Sie lebe im Konkubinat, und die Geltendmachung eines Unterhaltsanspruchs sei daher rechtsmissbräuchlich.
2. Nach Art. 145 Abs. 2 ZGB trifft der Richter für die Dauer des Scheidungsverfahrens die nötigen vorsorglichen Massnahmen, namentlich in bezug auf die Wohnung und den Unterhalt der Familie, die güterrechtlichen Verhältnisse und die Obhut über die Kinder. Diese Bestimmung eröffnet dem Richter einen weiten Ermessensspielraum. Generell gilt der Grundsatz, dass der Ehemann und die Ehefrau auch während der Dauer des Scheidungsprozesses weiterhin gemeinsam - prinzipiell entsprechend der bisher geltenden Rollen- und Aufgabenverteilung (Art. 163 Abs. 2 ZGB) - für den gebührenden Unterhalt der Familie aufzukommen haben. Das Verschulden eines Ehegatten spielt dabei keine Rolle; es kann im Massnahmeverfahren in aller Regel ohnehin nicht genügend abgeklärt werden. Sofern die Voraussetzungen gegeben sind, hat die Ehefrau somit während des Scheidungsprozesses unabhängig davon, in welchem Ausmass sie das eheliche Zerwürfnis zu verantworten hat, Anspruch auf einen angemessenen Unterhaltsbeitrag (RBOG 1990 Nr. 4 E. 2a).
a) Dieser Anspruch steht, wie jede Rechtsausübung, unter dem Verbot des Rechtsmissbrauchs nach Art. 2 Abs. 2 ZGB: Der offenbare Missbrauch eines Rechts findet keinen Rechtsschutz. Diese Bestimmung dient als Notbehelf in jenen Fällen, in denen durch die Ausübung eines behaupteten Rechts offenbares Unrecht geschaffen würde (Merz, Berner Kommentar, Art. 2 ZGB N 21). Im Interesse der Rechtssicherheit darf jedoch nur das schlechthin nicht mehr zu Billigende des Rechtsschutzes beraubt werden (Merz, Art. 2 ZGB N 40).
b) Im Zusammenhang mit der Aufhebung einer Unterhaltsrente im Sinne von Art. 151 und 152 ZGB wies das Bundesgericht verschiedentlich darauf hin, das Festhalten des Anspruchsberechtigten an einer Rente sei dann rechtsmissbräuchlich, wenn dieser mit einem Partner des anderen Geschlechts in einer auf längere Zeit, wenn nicht auf Dauer, angelegten umfassenden Lebensgemeinschaft mit grundsätzlich Ausschliesslichkeitscharakter zusammenlebe, die sowohl eine geistig-seelische als auch eine körperliche und eine wirtschaftliche Komponente aufweise (Wohn-, Tisch- und Bettgemeinschaft). Das Bundesgericht stellte eine Tatsachenvermutung in dem Sinne auf, dass bei einem Konkubinat, welches im Zeitpunkt der Einleitung der Abänderungsklage bereits fünf Jahre dauerte, grundsätzlich davon auszugehen ist, es handle sich um eine Schicksalsgemeinschaft ähnlich einer Ehe (BGE 118 II 237 f. mit Hinweisen).
c) Die Rekurskommission äusserte sich in RBOG 1990 Nr. 4 einlässlich zur rechtsmissbräuchlichen Geltendmachung von Unterhaltsbeiträgen eines im Konkubinat lebenden Ansprechers während des Scheidungsverfahrens. Sie kam zum Schluss, im Bereich von Art. 145 ZGB könne der vom Bundesgericht angenommene Zeitraum für den Verlust einer Scheidungsrente zufolge Konkubinats nicht analog massgebend sein (RBOG 1990 Nr. 4 S. 68; ZR 90, 1991, S. 122). Hingegen komme der Dauer des Konkubinats auch im Rahmen des vorsorglichen Massnahmeverfahrens eine gewisse Bedeutung zu. Insbesondere müsse aber dessen Auswirkungen sowie den Gründen, welche zur Wohngemeinschaft geführt hätten, Beachtung geschenkt werden. Im Falle eines viermonatigen Zusammenlebens einer Ehefrau mit ihrem Freund, der zugleich auch die gesamten Wohnkosten bezahle und von dem die Ehefrau schwanger sei, müsse die Missbräuchlichkeit bejaht und der Anspruch auf Unterhaltsbeiträge seitens des Ehemannes verneint werden.
d) Allein die Tatsache, dass eine Ehefrau während des Scheidungsverfahrens im Konkubinat lebt, ist unbestrittenermassen nicht geeignet, ihren grundsätzlichen Anspruch auf Unterhaltsleistungen zunichte zu machen. Die Herabsetzung oder der Verzicht auf den ihr während des Scheidungsprozesses an sich zustehenden Unterhaltsbeitrag ist nur dann angebracht, wenn sie aufgrund eines nachgewiesenen, offenkundigen, einer umfassenden faktischen Lebensgemeinschaft gleichkommenden Konkubinatsverhältnisses zur Beibehaltung des ehelichen Lebensstandards des angesprochenen Unterhaltsbeitrags nicht oder nicht mehr vollumfänglich bedarf und dieser daher nicht mehr, seinem gesetzlichen Zweck entsprechend, zur Bestreitung des Lebensunterhalts der Ehefrau im Rahmen des bisherigen Lebensstandards, sondern zweckentfremdet als Zusatzeinkommen zur Anhebung des Lebensstandards der mit dem Konkubinen geführten Lebensgemeinschaft verwendet wird (AGVE 1984 S. 19 f.; ZR 90, 1991, Nr. 39; RBOG 1990 Nr. 4 S. 66 mit Hinweisen). Ihr nunmehriges Zusammenleben muss von einer Verflechtung der beidseitigen Rechte und Pflichten begleitet sein, wie sie sonst nur unter Ehegatten vorkommt. Indizien, die für eine solche eheähnliche Gemeinschaft sprechen können, sind neben dem gemeinsamen Wohnen die mehr oder weniger regelmässigen geschlechtlichen Beziehungen sowie insbesondere die Verteilung der Aufgaben in der Gemeinschaft. Der wirtschaftlichen Verflechtung kommt auch nach BGE 118 II 226 f. eine entscheidende Bedeutung zu. Danach ist die Geltendmachung eines Unterhaltsanspruchs während der Dauer des Scheidungsverfahrens namentlich dann rechtsmissbräuchlich, wenn die unterhaltsberechtigte Ehegattin vollumfänglich von ihrem Lebenspartner unterstützt wird.
e) Die Prüfung dieser Verhältnisse muss im Rahmen des Verfahrens nach Art. 145 ZGB eine beschränkte sein (ZBJV 123, 1987, S. 239; § 162 ZPO). Dem angesprochenen Ehegatten wird es im Massnahmeverfahren überdies schwer fallen, das Vorliegen einer eheähnlichen Gemeinschaft lückenlos zu beweisen. Entsprechend können die für die Aufhebung einer Bedürftigkeits- oder Unterhaltsersatzrente aufgestellten Beweisregeln bzw. die Beweislastverteilung (vgl. BGE 118 II 238 ff.) nicht ohne weiteres übernommen werden. Zwar hat grundsätzlich derjenige, der sich auf die rechtsmissbräuchliche Geltendmachung von Unterhaltsbeiträgen während des Scheidungsverfahrens beruft, das Vorliegen eines qualifizierten Konkubinats zu beweisen (Art. 8 ZGB). Im Massnahmeverfahren gemäss Art. 145 ZGB kommt Art. 8 ZGB in seinem eigentlichen Ausmass indessen gar nicht zum Tragen; vielmehr genügt es, die behaupteten Tatsachen glaubhaft zu machen (Pra 83, 1994, Nr. 77). Bringt der Unterhaltspflichtige somit glaubhaft gewichtige Anhaltspunkte bezüglich einer eheähnlichen Gemeinschaft vor, liegt es - insbesondere im zweitinstanzlichen Verfahren - auch an der Unterhaltsberechtigten, diese Anhaltspunkte zu entkräften bzw. selbst Hinweise zu liefern, dass keine eheähnliche Gemeinschaft mit dem Konkubinatspartner gelebt wird.
3. Die Vorinstanz kam bei der hier zur Diskussion stehenden Streitsache zum Schluss, die Dauer des Konkubinats spreche noch nicht für eine umfassende eheliche Gemeinschaft.
a) Mitte November 1992 lernte die Rekurrentin X kennen. Mitte Januar 1993 kam es erstmals zu geschlechtlichen Beziehungen. Am 23. September 1993 zog die Rekurrentin für rund vier Wochen zu ihrem Freund, kehrte in der Folge allerdings wieder zu ihrem Ehemann (Rekursgegner) zurück. Nachdem es erneut zu Spannungen zwischen den Parteien gekommen war, zog die Rekurrentin wiederum aus der ehelichen Wohnung aus. Seit ca. 20. November 1993, d.h. seit rund vier Monaten, lebt sie nun mit ihrem Freund zusammen und unterhält eine geschlechtliche Beziehung zu ihm.
Die Rekurrentin bestreitet nicht, mit X in einer Gemeinschaft mit einer seelisch-geistigen und körperlichen Komponente zusammenzuleben. Es sind denn auch keinerlei Anhaltspunkte vorhanden, wonach dieses Verhältnis von den Konkubinatspartnern ohne jegliche Zukunftsperspektive eingegangen wurde, so dass von allem Anfang an von dessen provisorischem Charakter ausgegangen werden müsste. Die Rekurrentin macht auch nicht substantiiert geltend, sie lebe bloss bei X, um die Lebenshaltungskosten möglichst tief halten zu können; eine Beteiligung am Mietzins jedenfalls genügt hiefür nicht. Sie vermochte ferner die glaubhafte Darstellung des Rekursgegners nicht zu widerlegen, wonach sie im wesentlichen für sich und ihren Partner den Haushalt führe; angesichts der zumindest seit ihrer Arbeitslosigkeit natürlichen Vermutung genügt blosses Bestreiten nicht. Gleiches gilt für ihre Behauptung, sie komme für ihre Lebenshaltungskosten weitgehend selbst auf: Abgesehen vom Beleg für die Februarmiete liegen keine Beweise vor, dass sie - von Anfang an - die Hälfte des Mietzinses bezahlte. Die von ihr ins Recht gelegten Kontoauszüge beweisen zwar, dass sie seit dem Auszug aus der ehelichen Wohnung Geld abhob. Sie führt indessen nicht substantiiert aus, wofür sie diese finanziellen Mittel verwendete. Es wäre der Rekurrentin nun aber ein leichtes gewesen, anhand einer Aufstellung über ihre tatsächlichen Ausgaben bzw. ihrer wirklichen Lebenshaltungskosten zumindest glaubhaft zu machen, in welchem Umfange sie ihre Bedürfnisse mit den Bezügen finanzierte. Sie begnügt sich indessen mit der Feststellung, so weit als möglich trage sie ihre Kosten selbst, und unterlässt es darzulegen, wer sie in welchem Umfange unterstützt, wenn ihre finanziellen Mittel nicht ausreichen. Gleichzeitig macht sie aber auch nicht glaubhaft, dass sie aufgrund eigenen Erwerbseinkommens oder aufgrund allfälliger Arbeitslosenentschädigungen in der Lage ist, ohne Unterstützung ihres Lebenspartners für ihren Unterhalt aufzukommen.
b) Da die Rekurrentin mit X erst relativ kurze Zeit zusammenlebt, kann die Frage, ob und in welchem Umfange sie von ihrem Konkubinatspartner finanziell unterstützt wird, teilweise nur aufgrund einer Prognose beantwortet werden. Aufgrund der Ausführungen der Rekurrentin liegen nun aber keinerlei Anhaltspunkte vor, dass X ihr nicht auch in wirtschaftlicher Hinsicht Beistand gewährt und gewähren wird. Die Rekurrentin vermochte nicht substantiiert auszuführen, dass und in welchem Umfang sie ihren Lebensunterhalt selbst finanziert. Trotz der zugegebenermassen kurzen Dauer des Konkubinats ist daher davon auszugehen, dass sie bei X faktisch bereits die Stellung der Ehefrau einnimmt und dabei nicht nur die Pflichten, sondern auch die Rechte einer solchen geniesst. Zwar ist dem Rekursgegner hiefür der volle Beweis nicht gelungen; eines solchen bedarf es im Massnahmeverfahren indessen auch nicht. Vielmehr genügt es, dass die Rekurrentin die natürliche Vermutung für den Bestand einer eheähnlichen Gemeinschaft mit einer seelisch-geistigen, körperlichen und wirtschaftlichen Komponente nicht zu entkräften vermochte, obwohl ihr dies aufgrund ihrer Nähe zum Beweisthema ohne weiteres - falls ihre Angaben tatsächlich zuträfen - möglich und zumutbar gewesen wäre.
4. Zusammenfassend ist daher der von der Rekurrentin geltend gemachte Unterhaltsanspruch für die Dauer des Scheidungsverfahrens rechtsmissbräuchlich, weil glaubhaft erscheint, dass sie von ihrem Freund Unterstützung und Beistand erfährt, wie es auch unter Eheleuten üblich ist.
Rekurskommission, 21. Februar 1994, ZR 94 12