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RBOG 1994 Nr. 25

Rechtliches Gehör; Prozessvorbereitung durch den Richter


Art. 2 Abs. 2 ZGB, § 93 ZPO, § 104 ZPO, § 106 ZPO


1. Die Berufungsklägerin rügt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs durch die Vorinstanz, da ein Bezirksrichter ersatzweise so kurzfristig aufgeboten worden sei, dass ihm ein Aktenstudium nicht möglich gewesen sei.

2. a) Die Prozessparteien haben von Bundesrechts wegen einen Anspruch darauf, dass kein Richter urteilt, der nicht Kenntnis von ihren Vorbringen und einem allfälligen Beweisverfahren hat. Indessen verstösst die Tatsache, dass ein Richter an einem Urteil mitgewirkt hat, ohne an sämtlichen Verhandlungen teilgenommen zu haben, nicht gegen die Garantie des verfassungsmässigen Richters (BGE 96 I 323). Entscheidend ist nur, dass einem neu mitwirkenden Richter der Prozessstoff durch Aktenstudium zugänglich gemacht werden kann und er über dieselben Kenntnisse wie die übrigen Richter verfügt (BGE 117 Ia 134 f.). Wie im einzelnen die Vermittlung der Kenntnisse über den Prozessstoff vor sich geht, ist dem Richter bzw. dem Gericht selber überlassen.

b) Das thurgauische Prozessrecht kennt keine Vorschrift, welche das kurzfristige Aufgebot eines Ersatzrichters für einen krankheitshalber ausgefallenen Bezirksrichter ausschlösse. Erforderlich ist die vorgeschriebene Anzahl der Richter, ihre Pflicht, das Urteil zu beraten (§ 104 ZPO) und an den Abstimmungen teilzunehmen (§ 106 ZPO).

Was die Vorbereitung der Richter angeht, beruft sich die Berufungsklägerin vergeblich auf § 93 ZPO. Zwar sieht diese Vorschrift vor, dass die Akten in der Regel vor der Verhandlung bei den Gerichtsmitgliedern in Zirkulation gesetzt werden sollen; für den gegenteiligen Fall ordnet die Norm das Vorlesen der Rechtsbegehren und der wesentlichen Akten vor den Parteivorträgen an (§ 93 Abs. 2 ZPO). Jedoch ist diese Vorschrift vorab darauf zugeschnitten, dass allen - jedenfalls allen nicht in die Prozessleitung einbezogenen - Richtern bisher Kenntnisse von Rechtsbegehren und Akten fehlen. Insofern zielt die Vorschrift, wie sich aus der Entwicklung über § 117 aZPO schliessen lässt, auf eine andere Ausgangslage ab.

c) Die Vorbereitung eines Prozesses und einer Verhandlung ist dem Richter weitgehend selbst überlassen. Er muss sich in die Lage versetzen, die rechtlichen Zuordnungen aufgrund der massgebenden Informationen und Zusammenhänge in tatbeständlicher Hinsicht vornehmen zu können. Gewiss verlangt dies eine Sichtung der Akten und eine Prüfung ihm wichtig scheinender Dokumente. Jedoch ist nicht ausgeschlossen, die Einarbeitung in den Prozessstoff durch eine Instruktion des mit dem Prozess vertrauten Gerichtspräsidenten zu erleichtern. Es bedarf nicht zum vornherein einer akribischen Durchsicht der Akten Wort für Wort. Wenn selbst kurzzeitige Aufnahmeabsenzen eines Richters - in der Form kurzen Einnickens - anlässlich der Verhandlung die vorschriftsgemässe Besetzung des Gerichts nicht zu beeinträchtigen vermögen (NJW 1986 S. 2721), so kann auch keine völlig lückenlose Durchsicht aller Schriftsätze und Aktenstücke verlangt sein. Abzustellen ist vielmehr darauf, ob der Richter befähigt war, die wesentlichen Vorbringen und Vorgänge aufzunehmen und einzuordnen. Wo der Richter allerdings nicht informiert ist, wird der Anspruch auf die vorschriftsgemässe Besetzung des Gerichts verletzt.

d) Es trifft zu, dass der Ersatzrichter erst kurzfristig beigezogen werden musste. Jedoch darf aufgrund der hohen Publizität, welche dem Fall schon vor der gerichtlichen Austragung vorausging, davon ausgegangen werden, dass dem Ersatzrichter aus der Berichterstattung zum Sachverhalt einiges bekannt war. Das dürfte die Einarbeitung in den Prozessstoff erleichtert haben. Im weiteren mag zur Durchsicht der Schriftsätze und interessierenden Akten im damaligen Verfahrensstadium eine Stunde genügt haben. Selbst wenn ferner, wie von der Berufungsklägerin behauptet, zuträfe, dass der Ersatzrichter noch am Morgen vor der auf den Nachmittag angesetzten Verhandlung seiner hauptberuflichen Tätigkeit nachging, hätte ihm über die Mittagszeit eine genügende Frist zum notwendigen Aktenstudium zur Verfügung gestanden. Es genügt auch noch ein Nachlesen vor der Urteilsberatung am Prozesstag. Wann die detaillierte Einarbeitung stattfindet und ob dies durch eine Einführung des Gerichtspräsidenten erleichtert wird, ist nicht massgeblich. Jedenfalls verfügte der Ersatzrichter am Prozesstag selber über ausreichende Möglichkeit, sich diejenigen Informationen anzueignen, die er für seine Entscheidfindung benötigte. Vorliegend deutet nichts darauf hin, dass es am erforderlichen Prozesswissen des Ersatzrichters gefehlt oder dass er seine Richterpflichten verletzt habe, und dass der Berufungsklägerin dadurch das rechtliche Gehör verweigert sein könnte.

Im übrigen ist nicht zu übersehen, dass der Gerichtspräsident zu Beginn der Verhandlung darauf aufmerksam machte, es habe anstelle des krankheitshalber kurzfristig ausgefallenen Bezirksrichters ein Ersatzrichter aufgeboten werden müssen. Die Berufungsklägerin brachte damals keine Einwendungen vor, obwohl es ihr bei Bedenken gegen das Prozesswissen des Ersatzmitglieds offen gestanden hätte, eine Vertagung zu beantragen. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung hält im Zusammenhang mit Ablehnungsgründen in konstanter Strenge fest, ein Richter sei so früh wie möglich abzulehnen, ansonsten - bei rechtzeitiger Kenntnis des Ablehnungsgrundes - der Anspruch auf spätere Anrufung verloren gehe (BGE 117 Ia 323). Diese Rechtsprechung darf vorliegend herangezogen werden und führt ohnehin zum Verlust der Anrufungsmöglichkeit, selbst wenn noch eine Verletzung verfassungsrechtlicher Garantien überhaupt in Betracht zu ziehen wäre. Schliesslich gilt ein solcher Verfahrensmangel nach ständiger Praxis mit der Verhandlung vor Obergericht als geheilt, da der Berufungsklägerin kein wesentlicher Nachteil erwächst und dem Obergericht dieselbe Ueberprüfungsbefugnis wie der ersten Instanz zukommt.

Obergericht, 27. Januar 1994, ZB 93 89


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