RBOG 1995 Nr. 25
Kein Grundsatzentscheid über die Zivilansprüche des Opfers bei Freispruch des Angeklagten
1. Innerhalb einer Ortschaft geriet der Berufungskläger mit seinem Personenwagen auf einem geraden und übersichtlichen Strassenstück auf die Gegenfahrbahn und kollidierte dort frontal mit dem von X gelenkten Personenwagen. X und deren Mitfahrerin, Y, wurden dabei verletzt, X lebensgefährlich.
2. Das Bezirksgericht sprach den Berufungskläger von der Anklage der schweren fahrlässigen Körperverletzung sowie der Verkehrsregelverletzung frei, anerkannte aber die Haftung des Freigesprochenen für den Schaden von X und Y dem Grundsatz nach, verwies indessen die Höhe der Schadenersatzforderung auf den Zivilweg. Damit setzt sich das Bezirksgericht über den Wortlaut von Art. 9 OHG hinweg: Gemäss Abs. 1 dieser Bestimmung entscheidet das Strafgericht auch über die Zivilansprüche des Opfers, aber nur, solange der Täter nicht freigesprochen oder das Verfahren nicht eingestellt ist. Nach Abs. 3 kann das Strafgericht über die Ansprüche nur dem Grundsatz nach entscheiden und das Opfer im übrigen an das Zivilgericht verweisen, wenn die vollständige Beurteilung der Zivilansprüche einen unverhältnismässigen Aufwand erfordern würde.
a) Mit Art. 9 Abs. 3 OHG soll verhindert werden, dass Zivilansprüche des Opfers leichthin auf den Zivilweg verwiesen werden (vgl. Gomm/Stein/Zehntner, Kommentar zum Opferhilfegesetz, Art. 9 N 15). Die Kompetenz des Strafgerichts steht indessen ebenfalls unter dem Vorbehalt, dass grundsätzlich die Voraussetzungen von Art. 9 Abs. 1 OHG erfüllt sind, d.h. dass der Täter nicht freigesprochen oder das Verfahren nicht eingestellt ist. Daran mangelt es vorliegend.
b) Die Vorinstanz stützt sich darauf, es würde Sinn und Zweck des OHG widersprechen, wenn in einem Verfahren wie dem vorliegenden die Opfer auf den Zivilweg verwiesen werden müssten, denn die beiden geschädigten Frauen hätten das Geschehen, das gewissermassen einfach über sie hereingebrochen sei, überhaupt nicht beeinflussen können. Obwohl keine strafrechtliche Verurteilung wegen Verursachung des Unfalls erfolgen könne - infolge der medizinisch begründeten Urteilsunfähigkeit des Berufungsklägers im Unfallzeitpunkt -, sei völlig klar, in wessen Bereich der Unfall entstanden sei. Diese Erwägungen vermögen nicht über das grundsätzliche Fehlen der Zuständigkeit des Strafrichters für die Beurteilung der Zivilansprüche hinwegzuhelfen.
3. a) Sinn und Zweck des OHG ist es nach dessen Art. 1, den Opfern von Straftaten wirksame Hilfe zu leisten und ihre Rechtsstellung zu verbessern. Diese Hilfe soll in erster Linie Beratung, Schutz des Opfers und Wahrung seiner Rechte im Strafverfahren sowie Entschädigung und Genugtuung umfassen (Art. 1 Abs. 1 und 2 OHG). Die vom Gesetz angestrebte Besserstellung des Opfers soll vor allem in unbürokratischer, rasch einsetzender und durch qualifizierte Fachpersonen zu erbringender wirksamer Unterstützung bestehen, mit dem Ziel der Wiedereingliederung des Opfers in die Gesellschaft und der Wiedergutmachung der negativen Folgen der Straftat (Gomm/Stein/Zehntner, Art. 1 OHG N 10). Wie die Besserstellung im einzelnen erfolgen soll, ist in den Bestimmungen des OHG konkret festgelegt. Eine über diese Vorschriften hinausgehende Privilegierung des Opfers findet im OHG keine Grundlage. Das OHG kennt keinen allgemeinen Grundsatz der Begünstigung bzw. "Meistbegünstigung" des Opfers. Vielmehr zählt Art. 1 OHG die Hilfe, welche dem Opfer gewährt werden soll, im einzelnen und abschliessend auf. Insbesondere mit Bezug auf die Verfahrensrechte werden in Art. 9 OHG Minimalstandards festgelegt, über die hinauszugehen kein Grund (und auch keine rechtliche Möglichkeit) besteht.
b) Zwar erlaubt die bundesgerichtliche Rechtsprechung dem Richter, ausnahmsweise über den Wortlaut des Gesetzes hinauszugehen, wenn feststeht, dass dessen Wortlaut den wahren Sinn einer Vorschrift nicht richtig wiedergibt (vgl. BGE 116 II 578 sowie 103 Ia 117). Ein solcher Fall ist hier aber nicht gegeben.
Der Grundgedanke von Art. 9 Abs. 1 OHG liegt darin, dass lediglich bei Zuständigkeit des Strafrichters zu einer materiellen Beurteilung eines strafbaren Verhaltens im Sinn von Art. 2 Abs. 1 OHG auch die sachliche Zuständigkeit zur Beurteilung der Zivilforderung des Opfers gegeben ist. Gemäss Gomm/Stein/Zehntner (Art. 9 OHG N 4) fehlt diese Voraussetzung beispielsweise bei Einstellung des Verfahrens zufolge eingetretener Verjährung, auch wenn die Straftat durch den Beschuldigten tatsächlich begangen worden war. Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass der Unfall letztlich im Verantwortlichkeitsbereich des Berufungsklägers verursacht wurde. Dem Strafrichter ist indessen auch hier eine materielle Beurteilung des strafbaren Verhaltens des Berufungsklägers verwehrt, da das Verfahren wegen der medizinisch begründeten Zurechnungsunfähigkeit mit einem Freispruch endete.
Bei dieser Situation darf der Strafrichter nicht entgegen dem Wortlaut von Art. 9 Abs. 1 OHG über die Zivilansprüche der Opfer auch nur dem Grundsatz nach befinden. Die Geschädigten haben nicht darzutun vermocht, dass der klare Wortlaut der vorgenannten Gesetzesbestimmung ihrem wahren Sinn und Zweck widersprechen würde. Weder die teleologische noch die systematische Auslegung zeitigen ein Ergebnis, welches zu einer anderen Beurteilung Anlass gäbe. In teleologischer Hinsicht ist insbesondere auch an das Interesse der Strafverfolgungsbehörden und des Beschuldigten an einer raschen Beurteilung der Straftat bzw. der Vermeidung von ungebührlichen Komplikationen und Verzögerungen des Verfahrens im Strafpunkt zu erinnern (vgl. Gomm/Stein/Zehntner, Art. 9 OHG N 2).
c) Würde der Auffassung der Vorinstanz gefolgt, könnten sich zudem erhebliche Probleme bezüglich der örtlichen und sachlichen Zuständigkeit ergeben. Es bestünde die Gefahr der Verletzung der Garantie des Wohnsitzgerichtsstands nach Art. 59 BV (vgl. Gomm/Stein/ Zehntner, Art. 9 OHG N 3; BGE 101 Ia 143 f.; BJM 1987 S. 167; SJZ 69, 1973, S. 242). Hinzu kommt, dass Art. 58 BV den Anspruch auf den verfassungsmässig zuständigen Richter schützt. Vor diesem Hintergrund betrachtet, stellt Art. 9 Abs. 1 OHG einen Eingriff in die kantonale Prozesshoheit dar. Derartige gesetzliche Bestimmungen sind nach ständiger Praxis restriktiv auszulegen. Auch unter diesem Aspekt erweist sich die Auffassung der Vorinstanz als unzutreffend.
d) Niemand käme auf den Gedanken, das Opfer könne zur Beurteilung seiner Zivilansprüche den Strafrichter auch dann anrufen, wenn die Strafuntersuchung eingestellt worden ist. Spricht jedoch der Strafrichter selbst nach Prüfung der Angelegenheit frei oder stellt er das Verfahren ein, so ist nicht einzusehen, warum er alsdann über die Zivilansprüche sollte urteilen können, denn damit würde gegenüber den Fällen frühzeitiger Verfahrenserledigung eine unerträgliche Rechtsungleichheit geschaffen.
e) Eine Auslegung, wie sie die Vorinstanz traf, kommt schliesslich schon aus Gründen der Praktikabilität nicht in Betracht. Die Tendenz, Zivilansprüche möglichst durch den Strafrichter erledigen zu lassen (und damit die verfassungsmässig gegebene Kompetenzaufteilung zugunsten des Strafrichters zu verschieben), ist unverkennbar. Auch mit Rücksicht auf diesen Umstand sollte das OHG in diesem Zusammenhang einschränkend ausgelegt werden.
f) Entgegen der Auffassung der Geschädigten ist es schliesslich nicht möglich, den Begriff des Freispruchs nach Art. 9 Abs. 1 OHG unterschiedlich zu handhaben, je nach den Gründen, aus welchen er erfolgt ist. Es gibt, wie heute anerkannt ist, nur eine Art von Freispruch. Auf dessen Begründung kommt es gerade nicht an; sie erscheint auch regelmässig nicht mehr im Dispositiv.
Obergericht, 16. November 1995, SB 95 2