RBOG 1995 Nr. 42
Im Berufungsverfahren sind Beweismittel, welche vor Vorinstanz wegen Säumnis der beweisbelasteten Partei nicht erhoben wurden, zuzulassen
1. Nachdem die Zahlung der Berufungsklägerin für die beantragte Expertise verspätet eingegangen war, eröffnete die Vorinstanz den Parteien, es werde nunmehr auf Grundlage der Akten entschieden. Im Berufungsverfahren verlangt die Berufungsklägerin erneut eine Expertise. Es stellt sich vorliegend die Frage, ob die Berufungsklägerin ihre Säumnis vor Vorinstanz durch Anrufung des gleichen Beweismittels im Berufungsverfahren heilen kann.
2. a) Unter der Herrschaft der alten, bis zum 31. Dezember 1988 gültigen Zivilprozessordnung waren neue Beweismittel im Berufungsverfahren nur insoweit zulässig, als eine Partei es zur Wahrscheinlichkeit zu erstellen vermochte, dass sie die Noven früher entweder nicht gekannt oder trotz aller Anstrengung nicht habe anrufen können (§ 287 aZPO). Bei der Revision der Zivilprozessordnung wurde diese Einschränkung fallengelassen und neue Beweismittel wurden in der Begründung bzw. Beantwortung der Berufung generell als zulässig erklärt (§ 231 Abs. 1 ZPO). Eine Partei hat somit die Möglichkeit, bei Säumnis im erstinstanzlichen Verfahren den Mangel durch erneute Anrufung des gleichen Beweismittels bzw. Geltendmachung neuer Beweismittel ohne Gefahr eines Rechtsverlustes zu heilen. Ein allfälliges prozessuales Verschulden ist einzig bei den Kosten- und Entschädigungsfolgen zu berücksichtigen (§ 231 Abs. 1 in Verbindung mit § 145 ZPO). Wohl hatte das Obergericht in RBOG 1970 Nr. 15 angenommen, der erstinstanzliche Verzicht des Vaterschaftsbeklagten auf eine Blutgruppenuntersuchung schliesse dieses Beweismittel auch im Berufungsverfahren aus. Dieser Entscheid erging allerdings noch unter der Geltung des alten Rechts, welches bezüglich Noven im Berufungsverfahren wesentlich grössere Einschränkungen vorsah als die heutige Zivilprozessordnung. Somit sind im Berufungsverfahren nicht nur neue, sondern auch solche Beweismittel zulässig, mit denen eine Partei vor erster Instanz wegen Versäumnis einer zerstörlichen Frist ausgeschlossen wurde (Sträuli/Messmer, Kommentar zur Zürcherischen Zivilprozessordnung, 2.A., § 267 N 8 mit Hinweisen; Guldener, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3.A., S. 489 Anm. 49). Mit Recht weist Guldener allerdings darauf hin, dass die Zulassung von Noven einer nachlässigen Prozessführung in den unteren Instanzen Vorschub leisten kann. Diese Gefahr ist nach geltendem Recht wohl nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Indessen kann ihr mit einer strengen Praxis bei der Kostenverlegung im Rahmen von § 231 Abs. 1 in Verbindung mit § 145 ZPO begegnet werden (Guldener, S. 489 Anm. 50).
b) Mit Recht macht auch die Berufungsklägerin nicht geltend, die verspätete Zahlung des Kostenvorschusses für die Expertise vor Vorinstanz sei ohne eigenes Verschulden erfolgt. Diese Säumnis gereicht ihr indessen dank des auch im thurgauischen Zivilprozess geltenden Novenrechts höchstens bei der Kosten- und Entschädigungsfolge zum Nachteil. Soweit der Berufungsbeklagte in diesem Zusammenhang § 231 Abs. 2 ZPO anruft, verkennt er, dass die Berufungsklägerin sich vor Vorinstanz sehr wohl geäussert hat. Dass sie nach Vornahme der Zeugen- bzw. Parteibefragungen auf eine Beweiswürdigung verzichtete, ist dabei ohne Belang. Aus RBOG 1970 Nr. 15 liesse sich allenfalls ableiten, die nicht erfolgte bzw. bloss verspätete Leistung eines Kostenvorschusses impliziere den Verzicht auf dieses Beweismittel. Indessen ist darauf hinzuweisen, dass der damalige Berufungskläger nicht nur den Kostenvorschuss für das serologische Gutachten unterliess, sondern in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung auch jede Blutprobe ablehnte. Ein solcher Verzicht lässt sich dagegen vorliegend aus der verspätet erfolgten Zahlung des Kostenvorschusses durch die Berufungsklägerin nicht herauslesen. Die Berufungsklägerin ist somit im Berufungsverfahren mit ihrem Antrag auf eine Expertise zuzulassen.
Obergericht, 14. Dezember 1995, ZB 95 64