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RBOG 1996 Nr. 37

Kein Anspruch des Opfers auf amtliche Verteidigung bei Aussichtslosigkeit der Rechtsbegehren


§ 55 Abs. 2 StPO


1. a) Bei Bedürftigkeit kann einem Opfer die amtliche Vertretung gewährt werden, sofern die Wahrung seiner Interessen dies rechtfertigt und seine Zivilansprüche glaubhaft gemacht sind (§ 55 Abs. 2 StPO).

b) Die Wahrung der Interessen eines Opfers rechtfertigt im Sinn von § 55 Abs. 2 StPO die Ernennung eines Offizialvertreters dann nicht, wenn die von ihm gestellten Anträge und Rechtsbegehren aussichtslos sind; die Frage der Aussichtslosigkeit ist auch im Opferhilferecht zu prüfen (vgl. Gomm/Stein/Zehntner, Kommentar zum Opferhilfegesetz, Art. 3 N 61; Pra 85, 1996, Nr. 45 S. 126 und 85, 1996, Nr. 110 S. 348; BGE 121 II 120). In diesem Bereich können unter der Geltung von § 55 Abs. 2 StPO dieselben Grundsätze wie bei § 80 Abs. 1 ZPO herangezogen werden: Als aussichtslos gelten Rechtsbegehren, bei denen die Gewinnaussichten erheblich geringer sind als die Verlustgefahren und daher kaum mehr als ernsthaft bezeichnet werden können. Massgebend ist, ob eine Partei, die über die nötigen Mittel verfügt, sich bei vernünftiger Überlegung zu einem Prozess entschliessen oder davon absehen würde. Es soll verhindert werden, dass eine Partei auf Staatskosten ein Verfahren durchführt, das ein anderer auf eigene Kosten nicht unternehmen würde, weil es sie nichts kostet (BGE 119 Ia 253, 109 Ia 9, 105 Ia 113 f.; Sträuli/Messmer, Kommentar zur Zürcherischen Zivilprozessordnung, 2.A., § 84 N 5; Stähelin/Sutter, Zivilprozessrecht, § 15 N 22; Studer/Rüegg/Eiholzer, Der Luzerner Zivilprozess, § 131 N 5; Müller, Kommentar zur Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Art. 4 N 125). Ueber das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung ist aufgrund der Verhältnisse zu entscheiden, die im Zeitpunkt seiner Einreichung gegeben sind (BGE 101 Ia 37; Düggelin, Das zivilprozessuale Armenrecht im Kanton Luzern, Zürich 1986, S. 107 f.; Sträuli/Messmer, § 84 ZPO N 5; Studer/Rüegg/ Eiholzer, § 131 ZPO N 5). Der Richter kann die unentgeltliche Prozessführung auch dann verweigern, wenn allenfalls noch Beweiserhebungen in Betracht zu ziehen wären; er hat das Gesuch dahingehend zu prüfen, ob die Aussichten auf einen Prozessgewinn aufgrund der bisher vorliegenden Akten weit geringer als diejenigen auf einen Verlust sind (BGE 105 Ia 114). Die Rechtsprechung verlangt indessen nicht, dass der in Aussicht genommene Prozess überhaupt keine Gewinnaussichten haben dürfe, wenn dem Kläger die unentgeltliche Prozessführung verweigert werden soll. Ein Anspruch auf Bewilligung derselben besteht vielmehr schon dann nicht, wenn bei objektiver Würdigung des Sachverhalts und der Rechtslage keine ernsthaften Gewinnaussichten bestehen (ZR 69, 1970, Nr. 29). Die Prüfung des geltend gemachten Anspruchs muss notgedrungen summarisch ausfallen und darf den Hauptentscheid nicht präjudizieren. Dabei wird nicht untersucht, ob der Anspruch schon bei Prozessbeginn bewiesen ist und somit besteht. Vielmehr wird nur untersucht, ob die erhobenen Rechtsbegehren aus den behaupteten Tatsachen rechtlich begründet werden können. Umgekehrt ist nicht erforderlich, dass der Prozess bereits zur Zeit der Gesuchsbehandlung zuungunsten des Ansprechers entschieden werden könnte. An die Vorausbeurteilung der Prozessaussichten darf in jedem Fall kein strenger Massstab angelegt werden (Düggelin, S. 104; Ries, Die unentgeltliche Rechtspflege nach der aargauischen Zivilprozessordnung vom 18. Dezember 1984, Diss. Zürich 1990, S. 102 f.).

2. a) Das Bezirksgericht stellte zu Recht fest, dass der Berufungskläger als Opfer im Sinn des OHG gelten muss, und dass die beiden Berufungsbeklagten ihm gegenüber zumindest dem Grundsatz nach haften. Gleichzeitig führte die Vorinstanz indessen einlässlich aus, aus welchen Gründen im vorliegenden Fall die Notwendigkeit besteht, die Ansprüche des Berufungsklägers auf den Zivilweg zu verweisen. Im wesentlichen ging das Bezirksgericht davon aus, die Eingabe des Berufungsklägers sei nicht genügend substantiiert; insbesondere reiche das medizinische Gutachten bei weitem nicht aus, die sich dem Gericht stellenden Fragen, vorab nach der Kausalität, der Dauer der Behandlungsbedürftigkeit und der vorher bestandenen gesundheitlichen Beeinträchtigung, zu beantworten. Es falle auf, dass jener Bericht von einem Arzt verfasst worden sei, der den Berufungskläger erst seit kurzem kenne und sich daher noch nicht intensiv mit ihm habe auseinandersetzen können; insofern sei seltsam, dass kein Gutachten von Dr.med. X eingefordert worden sei. Aufgrund der langen Dauer und der allem Anschein nach bis anhin erfolglosen Therapie stelle sich die Frage, ob der Berufungskläger nicht bereits vor dem besagten Ereignis an psychischen Beschwerden gelitten habe. Demnach wäre noch abzuklären, inwiefern bestehende gesundheitliche Beeinträchtigungen gegeben seien; ausserdem sei unklar, welche Versicherung gestützt auf welche Rechtsgrundlage welche Leistungen erbringe. Somit würde eine genaue Abklärung der Situation ein umfassendes Beweisverfahren erfordern, in dem Zeugen gehört und Gutachten eingeholt werden müssten. Schliesslich müsste auch der Frage nachgegangen werden, ob die Kündigung des Arbeitsvertrags überhaupt rechtsgenüglich gewesen sei, da sie offensichtlich innert der Sperrfrist erfolgt sei. Eine genaue Abklärung würde zu einer ungebührlich langen Verzögerung des Strafprozesses führen, was sich nicht rechtfertige. Zudem leide der Berufungskläger keine soziale Not, weil Taggelder geflossen seien. Diese Erwägungen der Vorinstanz erscheinen als durchaus zutreffend.

b) Im Berufungsverfahren wird nunmehr der Antrag gestellt, dem Berufungskläger sei einstweilen ein Betrag von Fr. 32'913.90 zuzusprechen, unter Einräumung eines Nachklagerechts für weiteren Schaden. Als ergänzendes Aktenstück wird einzig ein Schreiben der Externen Psychiatrischen Dienste eingereicht, welches indessen nicht für eine Beurteilung der Forderungen des Berufungsklägers im Strafverfahren spricht, sondern die Begründung für den vorinstanzlichen Entscheid stützt: Dr.med. X weist in diesem Brief darauf hin, die Schwierigkeiten des Berufungsklägers nach der Umbesetzung an seinem Arbeitsplatz seien nicht unbedingt allein Folge des Raubüberfalls, sondern es träten schon vorher bestehende Schwierigkeiten seiner Persönlichkeit zutage, welche durch den Überfall in verstärkter Form manifest geworden seien; insoweit zeige sich eine Vermischung einmal der Folgen des Raubüberfalls und zum andern seiner persönlichen Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen. Nachdem im Berufungsverfahren keine zusätzlichen Akten eingereicht werden, ist davon auszugehen, dass der Berufungskläger im zweitinstanzlichen Verfahren auch nicht mehr vorzubringen vermag, als was er bereits vor Vorinstanz vortrug; insoweit ist nicht zu erkennen, wie der Berufungskläger angesichts der ausführlichen und offensichtlich zutreffenden Begründung der Vorinstanz für ihren Entscheid, seine Zivilansprüche an den Zivilrichter zu verweisen, seinen Antrag auf Abänderung dieses Entscheids begründen will.

c) Angesichts der Aktenlage entschied das Bezirksgericht zu Recht nur über die grundsätzliche Haftung der Berufungsbeklagten und verwies den Berufungskläger für seine Forderung auf den Zivilweg, da zur Beurteilung seiner Ansprüche ein derart umfangreiches Beweisverfahren notwendig wäre, dass sich der Strafprozess unnötig verzögern würde. Das Problem, dass eine nähere adhäsionsweise Abklärung der Forderungen des Berufungsklägers umfangreiche Beweismassnahmen nach sich ziehen und damit den Strafprozess weiterhin verzögern würde, gilt ohne weiteres auch für das zweitinstanzliche Verfahren, da die Berufung des Opfers nach ständiger Rechtsprechung dazu führt, dass das angefochtene Urteil auch im Straf- und Schuldpunkt nicht in Rechtskraft erwachsen kann (RBOG 1993 Nr. 34). Die zu erwartende Verzögerung rechtfertigt sich insbesondere auch deshalb nicht, weil das angefochtene Urteil im Straf-und Schuldpunkt mittlerweile sowohl von seiten der Angeklagten wie von seiten der Staatsanwaltschaft akzeptiert wurde. Nachdem nicht erkennbar ist, wie im zweitinstanzlichen Verfahren ohne umfangreiche Beweiserhebungen über die Forderungen des Berufungsklägers entschieden werden könnte, wird auch der Berufungsinstanz nichts anderes übrigbleiben, als den vorinstanzlichen Entscheid im angefochtenen Punkt zu bestätigen und den Berufungskläger auf den Zivilweg zu verweisen. Insofern erweist sich der Antrag des Berufungsklägers, es seien ihm unter Vorbehalt des Nachklagerechts einstweilen Fr. 32'913.90 zuzusprechen, als aussichtslos. Dasselbe gilt aufgrund der gleichen Ueberlegungen auch für seinen Eventualantrag, es sei der Staat Thurgau zu verpflichten, die entsprechenden Entschädigungen aufzubringen.

3. Offensichtlich aussichtslos ist aber auch der Antrag des Berufungsklägers, die Entschädigung für das erstinstanzliche Verfahren sei von Fr. 1'500.-- auf Fr. 6'116.95 heraufzusetzen: Nach ständiger Praxis, die vom Bundesgericht bestätigt wurde (Bundesgerichtsurteil 6P.88/1991 vom 10. April/22. Mai 1992, S. 17), werden Parteientschädigungen für Geschädigte und Opfer im Adhäsionsprozess nicht nach dem Streitwert festgelegt, sondern nach dem Aufwand. Die Vorinstanz sprach diesbezüglich eine Entschädigung von Fr. 1'500.-- zu, wobei sie berücksichtigte, dass der Berufungskläger nur zum Teil - mit der Haftung dem Grundsatz nach - durchgedrungen war. Diese Festlegung der Parteientschädigung ist nicht zu beanstanden, um so weniger, als nicht der tatsächlich betriebene, sondern nur der notwendige Aufwand entschädigungsberechtigt ist. Aus dieser Sicht ist es kaum wahrscheinlich, dass die Berufungsinstanz die Parteientschädigung gegenüber dem Opfer erhöhen wird.

Präsident des Obergerichts, 27. November 1996, SB 96 57


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