RBOG 1998 Nr. 17
Die Opfer einer in der Schweiz begangenen Straftat haben auch bei Wohnsitz im Ausland Anspruch auf einen Vorschuss für die Entschädigung
Art. 3 Abs. 4 aOHG, Art. 11 Abs. 1 aOHG
1. Z hat in der Türkei Wohnsitz. Anlässlich einer Schiesserei wurde er in der Schweiz schwer verletzt. Er verlangt gestützt auf Art. 11 ff. OHG einen Vorschuss für die Entschädigung. Die Vorinstanz gab dem Begehren statt, worauf die Staatsanwaltschaft Rekurs erhob.
2. a) Im Rekursverfahren umstritten ist, ob das Opfer trotz seiner Rückkehr in die Türkei Ansprüche gestützt auf Art. 11 ff. OHG geltend machen kann. Die Vorinstanz bejahte dies aufgrund der Gesetzessystematik. Die Staatsanwaltschaft vertritt die Auffassung, gestützt auf BGE 122 II 315 sei die Übernahme von weiteren Kosten (gemäss Art. 3 Abs. 4 OHG) an ein Opfer mit Wohnsitz im Ausland unzulässig, was auch für die im vorliegenden Verfahren geltend gemachten Ansprüche gelte.
b) Nach Art. 11 Abs. 1 OHG können die Opfer einer in der Schweiz verübten Straftat im Kanton, in dem die Tat verübt wurde, eine Entschädigung oder Genugtuung geltend machen. Nach Art. 15 OHG ist aufgrund einer summarischen Prüfung des Entschädigungsgesuchs ein Vorschuss zu gewähren, wenn das Opfer sofortige finanzielle Hilfe benötigt oder die Folgen der Straftat kurzfristig nicht mit hinreichender Sicherheit festzustellen sind.
In BGE 122 II 318 erwog das Bundesgericht, der Anspruch auf Beratung im Sinn von Art. 3 OHG im allgemeinen und auf Übernahme weiterer Kosten durch die Beratungsstelle gemäss Art. 3 Abs. 4 Satz 2 OHG im speziellen sei dem blossen Gesetzeswortlaut nach weder vom Wohnsitz oder von der Nationalität des Opfers noch vom Begehungs- oder Erfolgsort der Straftat abhängig. Für die Anspruchsberechtigung sei vom Sinn und Zweck der Hilfe nach Art. 3 OHG auszugehen und darauf abzustellen, ob die Hilfe in der Schweiz benötigt werde. Diese Voraussetzung sei jedenfalls dann zu bejahen, wenn im Ausland wohnhafte Angehörige des Opfers im Sinn von Art. 2 Abs. 2 OHG juristische Hilfe zur Durchsetzung ihrer Ansprüche gegen schweizerische Versicherungen des Opfers, welches Wohnsitz in der Schweiz gehabt habe, beanspruchen würden. Bei Ansprüchen gemäss dem zweiten und dritten Abschnitt des OHG ist somit entscheidend, ob die Hilfe in der Schweiz benötigt wird. Diese Voraussetzung ist deshalb erforderlich, weil - anders als bei den Ansprüchen gemäss Art. 11 ff. OHG - weder auf die Nationalität bzw. den Wohnsitz des Opfers noch auf den Begehungs- und Erfolgsort der Straftat abzustellen ist (Gomm/Stein/Zehntner, Kommentar zum Opferhilfegesetz, Bern 1995, Art. 11 N 4).
Bei Ansprüchen gestützt auf Art. 11 ff. OHG ist hingegen insbesondere der Begehungs- und Erfolgsort sowie unter Umständen die Nationalität und der Wohnsitz des Opfers massgebend: Liegt der Begehungs- und Erfolgsort in der Schweiz, ist jedermann anspruchsberechtigt; liegt der Begehungsort in der Schweiz und der Erfolgsort im Ausland, gilt dasselbe, sofern nicht eine genügende Entschädigung im Ausland erhältlich zu machen ist. Liegen der Begehungs- und Erfolgsort im Ausland, sind hingegen nur Schweizer Bürger mit Wohnsitz in der Schweiz anspruchsberechtigt und auch nur dann, wenn vom ausländischen Staat keine genügende Entschädigung erhältlich ist. Wurde die Straftat schliesslich im Ausland ausgeführt, trat aber der Erfolg in der Schweiz ein, ist wiederum jedermann anspruchsberechtigt (Gomm/Stein/Zehntner, Art. 11 OHG N 12 f.).
Wurde die Straftat in der Schweiz begangen, können alle Opfer, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und ihrer ausländerrechtlichen Stellung in der Schweiz, eine staatliche Leistung beantragen. Diese Lösung drängt sich auf, wenn stossende Rechtsungleichheiten vermieden werden sollen. Aus humanitären Gründen wurde darauf verzichtet, für Ausländer eine Gegenrechtsklausel aufzunehmen (BBl 1990 II 989). Mithin besteht angesichts des klaren Wortlauts von Art. 11 Abs. 1 OHG sowie der Materialien (vgl. Amtl.Bull. NR 1991 I 22; Amtl.Bull. StR 1991 588) für eine einschränkende Auslegung von Art. 11 bzw. 15 OHG kein Raum. Es kann in dieser Hinsicht auf die zutreffenden Erwägungen der Vorinstanz hingewiesen werden. Dieses Ergebnis gilt umso mehr, als auch Hinterbliebene einer Person, welche bei einer in der Schweiz verübten Straftat getötet wurde, anspruchsberechtigt sind, selbst wenn sie ihren Wohnsitz nicht in der Schweiz haben (Gomm/ Stein/Zehntner, Art. 11 OHG N 3). Würde der Auffassung der Staatsanwaltschaft gefolgt, hätte dies zur Folge, dass eine dem Grundsatz nach bestehende Anspruchsberechtigung eines in der Schweiz wohnhaften und in der Schweiz verletzten Ausländers nachträglich erlöschen würde, wenn dieser - aus welchen Gründen auch immer - aus der Schweiz wegzöge, während die Ansprüche von im Ausland lebenden Verwandten eines in der Schweiz verletzten Opfers ohne Einschränkung bestünden. Diese eminente Rechtsungleichheit kann nicht Sinn und Zweck der Opferhilfe sein.
Rekurskommission, 16. November 1998, ZR 98 90