RBOG 2000 Nr. 27
Geltung und Abänderbarkeit vorsorglicher Massnahmen nach Art. 137 Abs. 2 ZGB während des Berufungsverfahrens
Art. 137 Abs. 2 (Art. 145 aZGB) ZGB, §§ 223 ff. aZPO (TG)
1. Im Rahmen vorsorglicher Massnahmen während des Scheidungsprozesses verpflichtete das Gerichtspräsidium den Rekursgegner, der Rekurrentin monatliche Unterhaltszahlungen zukommen zu lassen, und ordnete hiefür im Sinn von Art. 177 ZGB eine Anweisung an die Arbeitgeberin des Ehemanns an. Im Scheidungsprozess sprach das Bezirksgericht der Ehefrau eine güterrechtliche Abfindung in Höhe von rund Fr. 187'000.-- zu. Sie reichte mit dem Antrag, es sei ihr eine grössere Abfindung zuzusprechen, Berufung ein. Der Rekursgegner verlangte, es sei seiner Arbeitgeberin umgehend mitzuteilen, dass die Verfügung betreffend Schuldneranweisung aufgehoben sei: Das Bezirksgericht habe festgestellt, dass der Rekurrentin aufgrund der wirtschaftlichen Verhältnisse keine Unterhaltsrente gemäss Art. 151 bzw. Art. 152 ZGB zuzusprechen sei. Das Gerichtspräsidium trat auf das Begehren um Abänderung der Verfügung betreffend vorsorgliche Massnahmen nicht ein: Sowohl das nunmehr bundesrechtlich festgehaltene Prinzip der Teilrechtskraft des Scheidungsurteils als auch die Dispositionsmaxime im Bereich der Scheidungsnebenfolgen sowie schliesslich praktische Überlegungen rechtfertigten es, die bisherige Praxis, wonach Massnahmeverfügungen ohne weiteres und von Amtes wegen bis zum definitiven Abschluss des Berufungsverfahrens aufrechterhalten würden, aufzugeben.
2. In RBOG 1989 Nr. 1 hatte die Rekurskommission entschieden, dass dann, wenn der Scheidungspunkt in Rechtskraft erwachsen und im Berufungsverfahren eine Unterhaltsrente strittig sei, im Rahmen vorsorglicher Massnahmen gestützt auf Art. 145 aZGB für die Dauer des Berufungsverfahrens die Unterhaltsverpflichtung festgelegt werden könne. Dies ist in Art. 137 Abs. 2 ZGB nunmehr ausdrücklich vorgesehen, indem das Gericht ermächtigt wird, vorsorgliche Massnahmen auch dann anordnen zu können, wenn die Ehe aufgelöst ist, das Verfahren über die Scheidungsfolgen aber fortdauert. Ebenfalls weiterhin Geltung hat die Feststellung der Rekurskommission, eine wesentliche und dauernde Änderung der Verhältnisse könne darin liegen, dass einer Partei im Scheidungsurteil ziffernmässig andere Unterhaltsbeiträge als im Massnahmeentscheid zugesprochen worden seien. Werde gestützt auf das (erstinstanzliche) Scheidungsurteil ein Abänderungsbegehren gestellt, führe dies regelmässig - da mit dem Urteil neue Fakten bekannt geworden seien und nun im Gegensatz zum ursprünglichen Massnahmeverfahren auch das Verschulden der Parteien berücksichtigt werden könne - zu einer neuen Überprüfung der massgebenden Umstände. Dies könne zur Folge haben, dass die bislang unterhaltsberechtigte Ehefrau während der weiteren Dauer des Prozesses eine Kürzung oder gar Streichung ihrer persönlichen Rente in Kauf nehmen müsse (RBOG 1989 Nr. 1 S. 62 f.). Zu relativieren sind diese Erwägungen nur insofern, als im revidierten Scheidungsrecht das Verschulden für Bestand und Höhe einer Unterhaltsrente - abgesehen von den in Art. 125 Abs. 3 ZGB erwähnten Ausnahmen - keine Rolle mehr spielt und daher auch im Verfahren betreffend Abänderung vorsorglicher Massnahmen in der Regel unberücksichtigt bleiben muss.
3. a) Richtig ist der Hinweis der Vorinstanz, Art. 148 Abs. 1 Satz 1 ZGB statuiere nun ausdrücklich, dass die Einlegung eines Rechtsmittels den Eintritt der Rechtskraft nur im Umfang der Anträge hemme. Unzutreffend ist demgegenüber nach Auffassung des Obergerichts ihr daraus gezogener Schluss, früher ergangene vorsorgliche Massnahmeverfügungen fielen insoweit dahin, als ihnen das rechtskräftige Urteil inhaltlich entgegenstehe. Die neue bundesrechtliche Vorschrift vermag keine Änderung der bisherigen Rechtsprechung zu bewirken; weder bezüglich der Teilrechtskraft des Scheidungsurteils noch hinsichtlich der Dispositionsmaxime im Bereich der Scheidungsnebenfolgen resultiert daraus die Notwendigkeit einer Praxisänderung. Dem steht allein schon Art. 137 Abs. 2 ZGB entgegen: In dieser Bestimmung wird ausdrücklich erwähnt, vorsorgliche Massnahmen könnten auch dann angeordnet werden, wenn die Ehe aufgelöst sei, das Verfahren über Scheidungsfolgen indessen andauere. Der Gesetzgeber verzichtete damit bewusst darauf, die Weiterdauer vorsorglicher Massnahmen in dem Sinn einzuschränken, dass nach Rechtskraft der Scheidung auf jeden Fall keine Unterhaltsbeiträge mehr zugesprochen werden können.
b) Die Vorinstanz begründet die ihres Erachtens notwendige Praxisänderung des Weitern damit, aus der bisherigen Rechtsprechung resultiere die Gefahr, dass die Berufungspartei zu Unrecht Unterhaltsleistungen empfange, ohne diese zurückerstatten zu müssen. Das Berufungsverfahren werde damit - unabhängig von der Frage des Obsiegens oder Unterliegens der aufgrund der bisherigen Massnahmeverfügung unterhaltsberechtigten Partei - für letztere unter Umständen zu einem lohnenden Geschäft. Ziel der Vorinstanz ist es somit, Rechtsmissbrauch zu verhindern. Gerade die neuen scheidungsrechtlichen Bestimmungen sind es indessen, welche das Risiko fördern, dass eine Partei aus der langen Dauer des Verfahrens finanziellen Nutzen zieht: Diejenige Partei, welche sich mit der Scheidung an sich nicht einverstanden erklären kann, hat nunmehr die Wahl, der Gegenpartei entweder während vier Jahren Unterhaltsbeiträge zu bezahlen (Art. 114 ZGB) oder aber der Scheidung aus rein finanziellen Überlegungen zuzustimmen. Zukünftig darauf zu verzichten, vorsorgliche Massnahmen während des Berufungsverfahrens weiterhin gelten zu lassen, würde ausserdem die Gefahr, rechtsmissbräuchlich Alimente zu erhalten, nicht bannen. Vielmehr könnte dadurch diejenige Partei, welche während des Scheidungsprozesses Unterhaltsbeiträge erhält, dazu verleitet werden, sich auch dann nicht damit einverstanden zu erklären, auf nachehelichen Unterhalt zu verzichten, wenn sie hierauf an sich keinen Anspruch hat. Die Gegenpartei wäre in einem solchen Fall gezwungen, ihren Standpunkt im zweitinstanzlichen Verfahren durchzusetzen - eine Folge, welche den Intentionen des Gesetzgebers, weitmöglichst im erstinstanzlichen Verfahren Einigungen oder zumindest Teileinigungen der Parteien herbeizuführen, krass widerspricht.
c) Schliesslich steht auch die Tatsache, dass der Richter einer Partei weder mehr noch anderes zusprechen darf, als sie selbst verlangt (§ 97 ZPO), der Weitergeltung der vorsorglichen Massnahmeverfügung während des Berufungsverfahrens nicht entgegen. Richtig ist, dass einer Partei im Scheidungsverfahren nicht von Amtes wegen ein Unterhaltsbeitrag zuzusprechen ist; dies schliesst jedoch nicht aus, die vorsorgliche Massnahmeregelung im Berufungsverfahren auch dann weiterbestehen zu lassen, wenn die Ehefrau akzeptiert, dass ihr im Scheidungsurteil keine Rente zugesprochen wird: Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb sie dann, wenn sie das Scheidungsurteil lediglich unter dem güterrechtlichen Aspekt anficht, für die Dauer des Berufungsverfahrens eine wirtschaftliche Schlechterstellung in Kauf nehmen sollte. Gerade die hier zu beurteilende Streitsache zeigt, dass es zu unbilligen Ergebnissen führen könnte, wenn der vorinstanzlichen Argumentation gefolgt würde: Die Rekurrentin verzichtete darauf, im Berufungsverfahren auf Erhalt einer Unterhaltsrente zu beharren, verlangte indessen eine wesentliche Erhöhung ihrer güterrechtlichen Abfindung. Wird dieser ihrerseitige Antrag geschützt, steht ihr als Folge des Vermögensertrags und ihres Einkommens annähernd die gleiche Summe für die Bestreitung ihres Lebensunterhalts zur Verfügung wie während des Massnahmeverfahrens. Es trifft somit keineswegs zu, dass sie im Scheidungsverfahren auf finanzielle Unterstützung seitens des Rekursgegners im Ergebnis verzichtet; sie stützt diesen ihren Anspruch lediglich nicht auf das Recht auf nachehelichen Unterhalt, sondern auf die ihr ihres Erachtens zustehenden güterrechtlichen Forderungen. Solange nicht rechtskräftig darüber befunden ist, ob sie zu Recht eine höhere güterrechtliche Abfindung als die ihr vorinstanzlich zugesprochene verlangt, hat sie Anspruch auf die bisherige finanzielle Unterstützung seitens des Rekursgegners.
d) Zu berücksichtigen ist indessen, dass der Rekurrentin ein Teil der Güterrechtsforderung, nämlich Fr. 187'376.--, bereits rechtskräftig zuerkannt worden ist. Aus dieser Tatsache resultiert eine wesentliche und dauernde Veränderung der Verhältnisse. Gemäss RBOG 1989 Nr. 1 kann eine solche Änderung auf Antrag des Leistungspflichtigen zum Erlass einer neuen, den Gegebenheiten angepassten Massnahmeverfügung führen. Derselbe Schluss lässt sich aus Art. 137 Abs. 2 Satz 2 ZGB ziehen: Der Richter ist nicht verpflichtet, wohl aber berechtigt, auch dann vorsorgliche Massnahmen anzuordnen, wenn die Ehe aufgelöst ist, das Verfahren über die Scheidungsfolgen aber fortdauert. Nachdem die Bestimmungen über die Massnahmen zum Schutz der ehelichen Gemeinschaft dabei sinngemäss anwendbar sind, ist offensichtlich, dass es sowohl für den Erlass erstmaliger als auch für die Abänderung schon bestehender vorsorglicher Massnahmen des Antrags einer Partei bedarf.
4. Zusammenfassend ist somit festzustellen, dass Massnahmeverfügungen nach Art. 137 Abs. 2 ZGB zum einen grundsätzlich weiterhin bis zum Abschluss des gesamten Scheidungsprozesses, das Berufungsverfahren eingeschlossen, gelten, und dass zum andern ein zwischenzeitlich gefälltes Urteil nicht gänzlich unberücksichtigt bleibt. Vielmehr ist der Verpflichtete nach wie vor berechtigt, die gestützt auf die vorsorgliche Massnahme geschuldeten Unterhaltsbeiträge im Berufungsverfahren unter Berücksichtigung der neuen Erkenntnisse neu festsetzen zu lassen.
Obergericht, 27. März 2000, ZR.2000.28