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RBOG 2000 Nr. 32

Sinngemässe Gültigkeit zivilprozessrechtlicher Grundsätze im Strafprozess: Das Obergericht hat sich lediglich mit den von den Parteien im Rechtsmittelverfahren dargelegten Streitpunkten auseinanderzusetzen


§ 160 aStPO (TG), § 205 aStPO (TG)


1. a) Im Berufungsverfahren gegen Urteile der Bezirksgerichte führt das Obergericht in der Regel eine Parteiverhandlung durch. Die Vorschriften für die Hauptverhandlung sind, soweit keine besonderen Bestimmungen gelten, auf die Berufungsverhandlung sinngemäss anwendbar (§ 205 Abs. 1 StPO). Bleibt die Berufungspartei zu Beginn der Verhandlung unentschuldbar aus oder reicht sie, wenn über die Berufung im vereinfachten, d.h. schriftlichen Verfahren entschieden wird (vgl. § 205 Abs. 2 StPO), keine schriftliche Berufungsbegründung ein, gilt die Berufung als zurückgezogen (vgl. § 207 StPO).

b) Sinn der Rechtsmittelmöglichkeit im Allgemeinen, insbesondere aber dann, wenn eine Parteiverhandlung durchgeführt wird, ist, dass sich die Parteien mit dem erstinstanzlichen Entscheid auseinandersetzen. Daran fehlt es, wenn es eine Partei, und ganz speziell diejenige, welche das Rechtsmittel ergreift, zur Hauptsache beim Hinweis auf ihre vor Vorinstanz gemachten Vorbringen bewenden lässt: So leicht sie sich dabei ihre Aufgabe macht, so wenig ist unter diesen Umständen der Zweck des Rechtsmittels erfüllt. Im Zivilprozess gilt deshalb der Grundsatz, bei blossen Hinweisen auf vor Vorinstanz eingereichte Rechtsschriften oder dahingehenden Wiederholungen, d.h. dann, wenn sich die Partei nicht (oder nur sehr rudimentär) mit dem angefochtenen Entscheid auseinandersetze, brauche nicht einlässlich auf diese Verweisungen eingegangen zu werden. Dies bedeute indessen nicht, dass sich das Obergericht nur mit Vorbringen zu befassen habe, die ausdrücklich im Berufungsverfahren nochmals eingebracht würden: Die erstinstanzlichen Akten seien vom zweitinstanzlichen Richter auf jeden Fall zu berücksichtigen. Detailliert auseinanderzusetzen habe sich das Obergericht aber lediglich mit dem, was von den Parteien als Streitpunkt substantiiert im Rechtsmittelverfahren dargelegt werde; im Übrigen erfolge zwangsläufig nur eine Prüfung aufgrund der Akten. Werde eine bestimmte Tatsachenbehauptung ohne nähere Substantiierung in der ersten Instanz vorgetragen und von der Vorinstanz verworfen, könne das Obergericht, werde die entsprechende Sachverhaltsdarstellung im zweitinstanzlichen Verfahren nicht wieder eingebracht resp. werde darauf nicht beharrt, davon ausgehen, das entsprechende Vorbringen werde fallen gelassen. Dieser Grundsatz müsse mindestens in dem Fall gelten, in welchem die betroffene Partei anwaltlich vertreten sei und nicht ein offensichtliches Versehen vorliege (RBOG 1995 Nr. 40 als Präzisierung von RBOG 1992 Nr. 36).

2. Diese Grundsätze haben sinngemäss auch im Strafprozess ihre Gültigkeit. Gemäss § 151 Abs. 1 StPO ist der Beweis für die Schuld des Angeklagten vom staatlichen Ankläger zu erbringen. In der Hauptverhandlung vor Bezirksgericht begründet der Staatsanwalt seine Anträge über Schuld, Strafe, Massnahmen und Kostenregelung (§ 160 Abs. 3 StPO). Aufgabe des Verteidigers ist es, den Angeklagten entlastende Aspekte vorzutragen. Dem Angeklagten steht alsdann das Schlusswort zu (§ 160 Abs. 5 StPO). Das Gericht fällt das Urteil, ohne an die rechtliche Würdigung des Tatbestands durch die Staatsanwaltschaft und an deren Strafanträge gebunden zu sein (§ 153 Abs. 1, § 161 Abs. 1 StPO). Das schriftlich begründete Urteil hat die tatsächlichen und rechtlichen Urteilserwägungen zu enthalten (§ 164 Abs. 3 StPO). Dass die Entscheidgründe den Betroffenen bekannt sein sollen, entspricht allgemeinen rechtsstaatlichen Prinzipien und insbesondere dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs, denn ohne Kenntnis der für den Richter massgebenden Tatsachen und Rechtsnormen können sich die Parteien einerseits oft kein Bild über die Tragweite des Urteils machen und es andererseits nicht sachgemäss anfechten (BGE 98 Ia 464 f.). Nicht nur das Gericht muss indessen dartun, aus welchen Gründen es zu einem bestimmten Schluss gelangt (vgl. Art. 29 Abs. 2 BV); auch die Verteidigung hat die für ihre Anträge massgebenden Aspekte darzulegen, und zwar nicht nur im erstinstanzlichen, sondern ganz speziell auch im zweitinstanzlichen Verfahren, sofern es der Verurteilte ist, welcher das Urteil anficht. Nunmehr existiert bereits ein Entscheid, in welchem festgehalten ist, welche Überlegungen das erstinstanzliche Gericht veranlassten, den Anträgen der Verteidigung nicht zu folgen. Mit diesen Ausführungen muss sich der Berufungskläger zumindest dann, wenn er (weiterhin) anwaltlich vertreten ist, auseinandersetzen; er hat im Berufungsverfahren darzutun, weshalb die Überlegungen des Bezirksgerichts falsch, nicht schlüssig oder unhaltbar sind. Unterlässt er dies, muss sich (auch) das Obergericht nicht im Detail mit dem angefochtenen Urteil auseinandersetzen.

Obergericht, 3. Oktober 2000, SBO.2000.7


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