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RBOG 2005 Nr. 38

Ein Konstanzer Anwalt kann nicht verpflichtet werden, in der Schweiz ein Zustelldomizil zu bezeichnen


§ 58 Abs. 3 ZPO


1. X wird im gerichtlichen Verfahren durch ihren Ehemann, Rechtsanwalt in Konstanz, vertreten. Das Gerichtspräsidium forderte sie auf, binnen 20 Tagen in der Schweiz ein Zustelldomizil zu bezeichnen.

2. Die Vorinstanz stützte ihre Verfügung auf § 58 Abs. 3 ZPO. Nach § 58 Abs. 3 ZPO haben Parteien mit Wohnsitz im Ausland zur Entgegennahme amtlicher Mitteilungen zu Beginn des Verfahrens einen Bevollmächtigten in der Schweiz zu bezeichnen. Wenn sie einer amtlichen Aufforderung hiezu nicht nachkommen, können die Zustellungen durch Veröffentlichung erfolgen. Abweichende Regelungen in Staatsverträgen bleiben vorbehalten.

a) Nach Auffassung des Obergerichts trifft zwar zu, dass die Pflicht zur Bezeichnung eines Bevollmächtigten in der Schweiz gemäss Gesetzeswortlaut nur Parteien mit Wohnsitz im Ausland betrifft. Mit Blick auf die Entstehungsgeschichte dieser Bestimmung, welche aus einer Zeit datiert, wo ausländische Anwälte in der Schweiz nur in Ausnahmefällen vor Gericht auftreten durften, und im Rahmen einer zeitgemässen Auslegung ist aber kein Grund ersichtlich, § 58 Abs. 3 ZPO nicht auf Parteivertreter mit Sitz im Ausland auszudehnen. Diese Auslegung steht auch im Einklang mit § 58 Abs. 2 letzter Satz ZPO, wonach Zustellungen in Fällen, in denen ein Prozessvertreter bestellt wurde, gültig nur an diesen erfolgen können (RBOG 2004 Nr. 31).

b) Das Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (FZA, SR 0.142.112.681) bezweckt unter anderem die Erleichterung der Erbringung von Dienstleistungen im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien, insbesondere die Liberalisierung kurzzeitiger Dienstleistungen (Art. 1 lit. b) und die Einräumung der gleichen Lebens-, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen wie für Inländer (Art. 1 lit. d). Gemäss Art. 2 FZA dürfen die Staatsangehörigen einer Vertragspartei, die sich rechtmässig im Hoheitsgebiet einer andern Vertragspartei aufhalten, im Anwendungsbereich des Abkommens aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht diskriminiert werden. Nach Art. 19 Anhang I des Abkommens kann, wer zur Erbringung von Dienstleistungen berechtigt ist, oder wem eine entsprechende Erlaubnis erteilt wurde, seine Tätigkeit vorübergehend im Staat der Erbringung der Dienstleistung nach Massgabe der entsprechenden Bestimmungen unter den gleichen Bedingungen ausüben, wie dieser Staat sie für seine eigenen Staatsangehörigen vorschreibt. Gestützt auf das FZA regelt das Anwaltsgesetz des Bundes (BGFA, SR 935.61) die Tätigkeit der Rechtsanwälte, welche aus Mitgliedstaaten der EU und der EFTA stammen. In Art. 21 ff. BGFA wurde die im Anhang III zum FZA erwähnte Richtlinie 77/249/EWG zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte umgesetzt. Dadurch soll die internationale Freizügigkeit für Angehörige von Mitgliedstaaten der EU und der EFTA gewährleistet werden. Unter anderem können solche Anwälte gemäss Art. 21 Abs. 1 BGFA im freien Dienstleistungsverkehr in der Schweiz Parteien vor Gerichtsbehörden vertreten (Art. 21 Abs. 2 BGFA).

c) Würde der Lösung der Vorinstanz gefolgt, wäre im Endeffekt zwar keine staatsvertraglich verbotene Diskriminierung gegeben, weil das Zustelldomizil für im Ausland domizilierte Rechtsanwälte nicht mit ihrer ausländischen Nationalität, sondern mit ihrem ausländischen Domizil begründet würde, denn das Diskriminierungsverbot bezieht sich auf die Staatsangehörigkeit. Einer solchen Argumentation kann, auch wenn sie rein formal zutrifft, nach Auffassung des Obergerichts nicht gefolgt werden. Mit einer solchen Regelung würden auf dem Umweg über das Domizil ausnahmslos alle ausländischen Rechtsanwälte, die im Rahmen des freien Dienstleistungsverkehrs in der Schweiz tätig werden wollen, mit einem administrativen Hemmnis belegt, was das FZA gerade ausschliessen wollte. Dass ein Zustelldomizil in der Schweiz für einen ausländischen Anwalt ein Hemmnis darstellt, kann nicht ernstlich bestritten werden, bringt es doch nicht nur zusätzlichen Aufwand und Kosten mit sich, sondern beeinträchtigt auch die Berufstätigkeit an sich, wie etwa bei den Rechtsmittelfristen, welche wegen des Fristbeginns mit Zustellung an das schweizerische Domizil für den ausländischen Anwalt regelmässig verkürzt würden. Das Argument, auch der im Ausland tätige Schweizer Anwalt sei davon betroffen, trifft so nicht zu, denn der Schweizer Anwalt, welcher in der Schweiz praktizieren will, führt kaum selbst Fälle im Ausland; ausserdem herrscht im Ausland oft Anwaltszwang, so dass der Schweizer Anwalt ohnehin die Hilfe eines ausländischen Kollegen in Anspruch nehmen muss. Vor diesem Hintergrund geht es nicht an, ausländische Anwälte in verfahrensrechtlicher Hinsicht anders zu behandeln als schweizerische, nur weil sie im Ausland ihre Kanzlei betreiben. Genau dies wollten das FZA und das BGFA verhindern. Dies gilt umso mehr, als das FZA ausdrücklich für kurzfristige Dienstleistungen gilt und der freie Dienstleistungsverkehr gemäss BGFA gerade auf Anwälte mit Geschäftssitz im Ausland zugeschnitten ist.

d) Nach Auffassung des Obergerichts kann allfälligen Problemen im Zusammenhang mit der Zustellung von Akten ins Ausland mit einer staatsvertragskonformen Auslegung von § 102 Abs. 2 ZPO begegnet werden. Nach dieser Vorschrift werden die Akten nur den nach dem BGFA zugelassenen Rechtsanwälten ausgehändigt; die Bestimmung gilt sinngemäss auch im Strafprozess (Zweidler, Die Praxis zur thurgauischen Strafprozessordnung, Bern 2005, § 78 N 9). Daraus folgt keine unbedingte und uneingeschränkte Pflicht zur Aushändigung der Akten; vielmehr hat die Aushändigung nach pflichtgemässem Ermessen des Gerichts zu erfolgen, und das Gericht hat die Möglichkeit, die Herausgabe der Originalakten sowohl an zugelassene Rechtsanwälte im Inland als auch solche im Ausland zu verweigern, sofern hiefür triftige Gründe bestehen. Nur diese Auslegung entspricht auch der heutigen Praxis zu § 102 Abs. 2 ZPO: In besonders umfangreichen Verfahren, wie etwa bei Wirtschaftsdelikten oder bei Beteiligung mehrerer Parteianwälte, kann angeordnet werden, dass die Akten auch von den Anwälten bei der zuständigen Amtsstelle eingesehen werden (Zweidler, § 78 StPO N 9; ZGGVP 2000 S. 178 ff.). Ebenso kann der schikanöse Missbrauch des Akteneinsichtsrechts zur Verweigerung der Aushändigung von Akten führen (vgl. ZBJV 125, 1989, S. 553). Denkbar ist es ausnahmsweise auch, in dringenden Fällen, in welchen das Gericht die Akten selbst benötigt, den Rechtsanwalt darauf zu verweisen, die Akten bei der Gerichtskanzlei einzusehen (vgl. ZR 97, 1998, Nr. 20; Leuenberger/Uffer-Tobler, Kommentar zur Zivilprozessordnung des Kantons St. Gallen, Bern 1999, Art. 55 N 4c). Die Beschränkung der Aktenaushändigung an Anwälte (vgl. Leuch/Marbach/Kellerhals/Sterchi, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 5.A., Art. 134 N 1; Frank/Sträuli/Messmer, Kommentar zur zürcherischen Zivilprozessordnung, 3.A., § 56 N 19) hat ihren Grund darin, dass klare Verantwortlichkeiten mit Bezug auf die vertrauliche Behandlung und die unversehrte Rückgabe der Akten geschaffen werden (RBOG 1973 Nr. 12); deshalb kann eine Übergabe der Akten an einen Rechtsanwalt verweigert werden, wenn die Gefahr der Einsichtnahme in die Akten oder der Beeinträchtigung der Akten durch Dritte besteht, wenn mithin der Rechtsanwalt für die Sicherheit der Akten keine Garantie bieten kann. Hat aber das Gericht schon gegenüber inländischen Anwälten die Möglichkeit, nach pflichtgemässem Ermessen eine Aushändigung der Originalakten zu verweigern, gilt dies erst recht auch gegenüber Anwälten mit Wohnsitz im Ausland, wie etwa, wenn eine sichere Zustellung dieser Akten nicht gewährleistet ist. Daraus folgt allerdings grundsätzlich die Pflicht, im Fall einer Verweigerung der Herausgabe der Originalakten einen kopierten Aktensatz zuzustellen, wenn sich der damit verbundene Aufwand im Rahmen hält; bei umfangreichen Akten kann demgegenüber vom ausländischen Anwalt verlangt werden, dass er beim zuständigen Gericht Einsicht in die Akten nimmt, wie dies gegebenenfalls auch von einem inländischen Anwalt verlangt werden kann. Bei dieser Auslegung ist eine diskriminierungsfreie Handhabung der Aktenherausgabe im internationalen Verhältnis unter Wahrung der Interessen der Gerichte gewahrt, und zwar nicht nur mit Bezug auf die Nachbarländer. Mit dieser Auslegung von § 102 Abs. 2 ZPO wird auch mit Blick auf die Frage des Gegenrechts dem Umstand Rechnung getragen, dass in vielen Ländern, insbesondere auch in den Nachbarstaaten Deutschland und Österreich, gegenüber den Anwälten eine teils wesentlich restriktivere Praxis bei der Herausgabe von Akten durch die Gerichte herrscht (vgl. Lingenberg/Hummel/Zuck/Eich, Kommentar zu den Grundsätzen des anwaltlichen Standesrechts, 2.A., S. 211 f.).

e) Abgesehen davon, dass es in der Regel praktisch ohnehin nur um den Verkehr mit Anwälten aus den Nachbarländern gehen wird, dürfen die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit Zustellungen ins Ausland auch nicht überschätzt werden. Gemäss Art. 10 lit. a des Übereinkommens über die Zustellung gerichtlicher und aussergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- oder Handelssachen vom 15. November 1965 (HZUe; SR 0.274.131) dürfen, sofern der Bestimmungsstaat keinen Widerspruch erklärt, gerichtliche Schriftstücke im Ausland befindlichen Personen unmittelbar durch die Post übersandt werden (lit. a). Nur wenige Staaten haben einen Vorbehalt gegen Art. 10 lit. a HZUe angebracht. Darunter finden sich zwar auch die Schweiz und Deutschland (vgl. BGE 131 III 449), doch besteht im Verhältnis der beiden Staaten kein Vorbehalt zu Art. 5 Abs. 2 HZUe, der vorsieht, dass unter Berücksichtigung von Art. 5 Abs. 1 lit. b HZUe die Zustellung stets durch einfache Übergabe des Schriftstücks an den Empfänger bewirkt werden kann, wenn er zur Annahme bereit ist (vgl. ABSH 2002 S. 89). Gemäss Art. 7 Ziff. 1 des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen (SR 0.351.1) kann die Zustellung durch einfache Übergabe der Urkunde oder der Entscheidung an den Empfänger erfolgen. Aufgrund von Art. IIIA des Staatsvertrags zwischen der Schweiz und Deutschland über die Ergänzung des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen und die Erleichterung seiner Anwendung (SR 0.351.913.61) können die zuständigen Stellen eines Vertragsstaates im Rahmen der Verfolgung von Straftaten gerichtliche Schriftstücke unmittelbar durch die Post an Personen übersenden, die sich im Hoheitsgebiet des anderen Vertragsstaates aufhalten. Vor dem Hintergrund des FZA, welches der Diskriminierung auf verschiedenen Ebenen entgegenwirken will, kann die Schweiz auch nicht darauf bestehen, dass nur Zustellungen ins Ausland akzeptiert werden, sofern eine "automatische Rückmeldung" garantiert ist. Die Gerichte arbeiten im Übrigen teils seit langem mit Empfangsquittungen, welche unmittelbar nach Erhalt zu retournieren sind. Mit Blick auf Zustellungsprobleme kann ein Zustelldomizil nur verlangt werden, wenn die postalische Zustellung tatsächlich regelmässig zu Problemen führen würde, beispielsweise wenn Anzeichen bestehen, dass ein Rechtsanwalt Verfahren verzögert. In diesem Fall muss eine individuelle Regelung getroffen werden.

3. Zusammengefasst verbietet das FZA nach Auffassung des Obergerichts den Schweizer Gerichten, von einem Konstanzer Anwalt ein Zustelldomizil in der Schweiz zu verlangen. Er würde damit namentlich gegenüber den Schweizer Kollegen stark benachteiligt. Für ein solches Verhalten fehlt es mithin an einer genügenden sachlichen Begründung, welche eine Ungleichbehandlung rechtfertigen würde. Damit wird nicht ausgeschlossen, dass ein Zustelldomizil verlangt werden kann, wenn tatsächlich erhebliche Probleme im Zusammenhang mit der Zustellung auftauchen sollten. Solange aber die direkte postalische Zustellung staatsvertraglich zulässig ist und die eingeschriebenen Sendungen, welche mit zu retournierenden Empfangsquittungen kombiniert werden können, möglich und entsprechende Kontrollen mit vertretbarem Aufwand zumutbar sind, kann ein Zustelldomizil in der Schweiz nicht verlangt werden.

Präsident des Obergericht, 30. November 2005, ZR.2005.96


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