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RBOG 2006 Nr. 27

Zuständigkeit der schweizerischen Strafjustiz für im Ausland begangene Widerhandlungen gegen die ARV 1


Art. 3 Abs. 2 ARV 1, Art. 56 SVG, Art. 103 SVG


1. Das Bezirksamt büsste den liechtensteinischen Chauffeur, weil anlässlich einer Schwerverkehrskontrolle in der Schweiz festgestellt wurde, dass er in Frankreich und Deutschland die zulässige Tageslenkzeit um je 30 Minuten überschritten hatte.

2. a) Die Vorinstanz verwarf die Anwendbarkeit der Strafbestimmungen der ARV 1 auf den vorliegenden Sachverhalt mit der Begründung, diese würden nur für in der Schweiz begangene Straftaten gelten, da dem Bundesrat als Verordnungsgeber gemäss SVG, zu welchem die fragliche Verordnung eine Ausführungsvorschrift sei, keine Kompetenz erteilt worden sei, im Ausland begangene Widerhandlungen unter Strafe zu stellen. Demgegenüber steht die Staatsanwaltschaft auf dem Standpunkt, dem Bundesrat sei mit Art. 56 SVG die Kompetenz eingeräumt worden, die Anwendung der Bestimmungen über die Arbeits- und Ruhezeit auf berufsmässige Führer, die mit schweizerisch immatrikulierten Motorwagen Fahrten im Ausland ausführen würden, zu regeln. Dieser Verpflichtung sei der Bundesrat in Art. 3 Abs. 2 ARV 1 nachgekommen, in welchem er bestimmt habe, dass die ARV 1 gelte, sofern ein Führer im Ausland ein in der Schweiz immatrikuliertes Fahrzeug lenke, und sofern die von der Schweiz ratifizierten internationalen Übereinkommen nicht strengere Vorschriften vorsehen würden. Die ARV 1 gelte bezüglich der Bestimmungen über die Tageslenkzeit also auch für Fahrten im Ausland.

b) Das Obergericht teilt die Auffassung der Staatsanwaltschaft. Auszugehen ist davon, dass sich die Kompetenz des Bundesrates zum Erlass der ARV 1 gemäss deren Ingress auf die Delegationsnormen in Art. 56 und 103 SVG stützt. Während Art. 103 SVG anordnet, dass der Bundesrat für Übertretungen seiner Ausführungsvorschriften Haft oder Busse androhen kann, bestimmt Art. 56 Abs. 1 SVG, dass der Bundesrat die Arbeits- und Präsenzzeit der berufsmässigen Motorfahrzeugführer ordnet. Er sichert ihnen eine ausreichende tägliche Ruhezeit sowie Ruhetage, so dass ihre Beanspruchung nicht grösser ist als nach den gesetzlichen Regelungen für vergleichbare Tätigkeiten. Er sorgt für eine wirksame Kontrolle der Einhaltung dieser Bestimmungen. In Abs. 2 ist bestimmt, dass der Bundesrat die Anwendung der Bestimmungen über die Arbeits- und Ruhezeit auf berufsmässige Führer regelt, die mit schweizerisch immatrikulierten Motorwagen Fahrten im Ausland durchführen (lit. a) und auf berufsmässige Führer, die mit ausländisch immatrikulierten Motorwagen Fahrten in der Schweiz ausführen (lit. b).

Art. 56 Abs. 2 lit. a SVG entspricht der internationalen Rechtsentwicklung auf diesem Gebiet. Das von der Schweiz am 1. Juli 1970 unterzeichnete, am 8. Okto­ber 1999 ratifizierte und am 4. Oktober 2000 in Kraft getretene Europäische Übereinkommen über die Arbeit des im internationalen Strassenverkehr beschäftigten Fahrpersonals[1] verpflichtet die Vertragsstaaten in seinem Art. 3 Ziff. 1, bei grenzüberschreitenden Transporten im Ausland die gegenüber dem AETR strengeren Vorschriften über die Arbeits- und Ruhezeit der nationalen Gesetzgebung anzuwenden. Die Schweiz hat demnach die Pflicht, die ARV 1 auch auf Auslandfahrten anzuwenden, soweit ihre Bestimmungen strenger sind als diejenigen des AETR. Diese Regelung im AETR unterstützt die Bemühungen der nationalen Gesetzgebung, zum Schutz der Verkehrssicherheit und der Arbeitnehmer möglichst strenge Vorschriften zu erlassen. Entsprechende Bemühungen wurden auch in der EWG unternommen: Deren am 1. Oktober 1969 in Kraft getretene Verordnung 543/69 galt nach dem Territorialitätsprinzip auch für ausländische Fahrzeugführer, die im EWG-Raum berufsmässige Transporte ausführten. In Durchbrechung des Territorialitätsprinzips erklärten sich damals die EWG-Länder vorläufig einverstanden damit, dass die schweizerischen Chauffeure im EWG-Raum wenigstens die Bestimmungen der ARV 1 beachten. Wäre die ARV 1 demnach seitens der Schweiz auf Auslandsfahrten nicht für anwendbar erklärt worden, hätte die EWG die Sonderbehandlung der schweizerischen Berufsfahrer ohne Zweifel sofort rückgängig gemacht. Diese internationale Entwicklung in den 70-er Jahren des letzten Jahrhunderts machten es unumgänglich, dass die ARV 1 auch bei Auslandfahrten zur Geltung kommt[2].

Seit der Revision der ARV 1 im Rahmen des Folgeprogramms des Bundesrates nach dem EWR-Nein[3] entspricht diese seit dem 1. Oktober 1995 den neuen, die EWG-Verordnung 543/69 ablösenden EWG-Verordnungen 3820/85[4] und 3921/85[5]. Auch das AETR entspricht seit 1993 in seinen materiellen Bestimmungen wörtlich diesen beiden EWG-Verordnungen[6]. Entsprechend kommt diesem Übereinkommen im Verhältnis zu den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gemäss Art. 3 Abs. 2 ARV 1 keine praktische Bedeutung mehr zu, da es nicht strenger ist als die ARV 1.

Demzufolge ist die ARV 1 gemäss Art. 3 Abs. 2 auf den strittigen Sachverhalt anwendbar und die Schweiz und damit auch das Bezirksamt Kreuzlingen für die strafrechtliche Beurteilung international zuständig. So wie der Gesetzgeber in anderen Fällen Auslandtatbestände im SVG selber dem schweizerischen Recht unterstellt[7], so kann er auch dem Bundesrat in konkreten Fällen die Kompetenz erteilen, dies zu tun. Der "Export" nationaler Vorschriften ins Ausland, das heisst die teilweise Durchbrechung des Territorialitätsprinzips durch eine Art Flaggenprinzip, entspricht den modernen Tendenzen des Verkehrsrechts und ist im schweizerischen Seeschifffahrts- und Luftrecht seit langem verwirklicht[8]. Der Voll­ständigkeit halber ist festzustellen, dass das Obergericht des Kantons Zürich bereits in einem Urteil vom 2. Mai 1977 feststellte, dass die ARV 1 auch auf Auslandfahrten zur Anwendung gelangt, die weder ihren Ausgangspunkt noch ihr Ziel in der Schweiz haben[9].

Obergericht, 23. März 2006, SBR.2005.40


[1] AETR, SR 0.822.725.22

[2] BBl 1973 II 1194 f.

[3] SWISSLEX

[4] Verordnung über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Strassenverkehr

[5] Verordnung über das Kontrollgerät im Strassenverkehr

[6] BBl 1999 6089 ff.

[7] Vgl. Art. 85 und 101 SVG

[8] BBl 1997 II 1195

[9] SJZ 75, 1979, S. 45 f.

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