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RBOG 2006 Nr. 38

Beim Erlass vorsorglicher Massnahmen in hängigen Prozessen ist die Rechtslage (wenigstens in schwierigen Rechtsfragen) nur summarisch zu prüfen


§ 176 Abs. 1 ZPO


1. Gemäss § 176 Abs. 1 ZPO trifft der Gerichtspräsident die geeigneten vorsorglichen Massnahmen, sofern glaubhaft gemacht wird, einer Partei drohe ein nicht leicht gutzumachender Nachteil, besonders durch Veränderung der bestehenden tatsächlichen Verhältnisse.

2. Glaubhaftmachen bedeutet nicht, dass der Richter von der Richtigkeit der aufgestellten tatsächlichen Behauptungen überzeugt zu sein braucht; vielmehr genügt es, dass aufgrund objektiver Anhaltspunkte eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die fraglichen Tatsachen spricht. Ungenügend ist eine bloss unbestimmte oder entfernte Möglichkeit eines rechtswidrigen Verhaltens[1]. Es ist somit eine Hauptsachenprognose zu treffen[2]. Während in der Lehre und Rechtsprechung Einigkeit darüber besteht, dass Glaubhaftmachen hinsichtlich der behaupteten anspruchsbegründenden Tatsachen genügt, ist in ersterer umstritten, wie eingehend die rechtliche Prüfung erfolgen muss. Leuch/Marbach/Kellerhals/Sterchi[3] weisen darauf hin, die sich aus dem glaubhaft gemachten Sachverhalt ergebende Rechtslage sei "nicht bloss unter dem Blickwinkel der Glaubhaftmachung, sondern mehr oder weniger fundiert zu prüfen. Ob ein Verfügungsgrund gegeben ist, ist in rechtlicher Hinsicht voll zu prüfen, während hinsichtlich des materiell-rechtlichen Anspruchs diese Prüfung im Rahmen des angesichts der Raschheit des Verfahrens praktisch Realisierbaren so gut als möglich ... zu erfolgen hat". Vogel/Spühler[4] weisen darauf hin, die rechtliche Begründetheit der Klage könne "nur mehr oder weniger eingehend geprüft werden". In BGE 104 Ia 413 hielt das Bundesgericht ‑ ohne selber Stellung zu nehmen ‑ unter Hinweis auf BGE 88 I 14 und ZR 47 Nr. 96 S. 214 fest, die Praxis neige dazu, sich um der erforderlichen Raschheit des Verfahrens willen (wenigstens in schwierigen Rechtsfragen) auf eine summarische Prüfung zu beschränken.

3. Dieser Auffassung schliesst sich das Obergericht trotz des Grundsatzes "iura novit curia"[5] an. Vorsorgliche Massnahmen in hängigen Prozessen werden gemäss § 161 Ziff. 5 ZPO im summarischen Verfahren erlassen und dienen dem einstweiligen Rechtsschutz. Dessen Zweck wird zumindest bei komplexen Fällen unterlaufen, wenn der Richter eine umfassende rechtliche Würdigung vorzunehmen hat: Die vorsorgliche Massnahme macht meist nur Sinn, wenn sie rasch verfügt wird. Dies schliesst jedoch selbstverständlich nicht aus, dass sich das Gericht nach bestem Wissen und Gewissen in der aufgrund der gesamten Umstände zur Verfügung stehenden Zeit mit der rechtlichen Würdigung des glaubhaft gemachten Sachverhalts auseinandersetzt.

Obergericht, 16. Januar 2006, ZR.2005.73


[1] RBOG 1998 Nr. 28 Ziff. 2b Abs. 2

[2] Vogel/Spühler, Grundriss des Zivilprozessrechts, 8.A., 12. Kap. N 211

[3] Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, Bern 2000, Art. 326 N 3a

[4] 12. Kap. N 213

[5] Vgl. § 96 Abs. 1 ZPO

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