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RBOG 2007 Nr. 32

Auslegung eines Klagerückzugs


§ 254 ZPO


1. a) X und Y schlossen einen als "Mandatsvertrag" bezeichneten Vertrag ab. X bezahlte von Y in Rechnung gestellte Dienstleistungen im Umfang von Fr. 52'040.70 nicht.

b) Am 15. Mai 2003 erhob Y beim Bezirksgericht A gegen X eine erste Klage über Fr. 52'040.70 nebst Zins. In der Klageantwort vom 14. Juli 2003 machte X unter Vorlage einer Wohnsitzbestätigung der Gemeinde B vom 11. Juli 2003 geltend, das Bezirksgericht A sei nicht zuständig, da sie in B ihren Wohnsitz habe. Mit Verfügung vom 16. Juli 2003 setzte der Vizegerichtspräsident des Bezirksgerichts A Y Frist zur Stellungnahme oder zum Rückzug der Klage. Die Verfügung enthielt zudem den Hinweis, dass eine direkte Überweisung nach thurgauischem Prozessrecht nicht möglich sei. Mit Eingabe vom 2. September 2003 zog Y ihre Klage mit folgendem Wortlaut zurück: "In obgenannter Angelegenheit nehme ich Bezug auf Ihre Präsidialverfügung vom 16. Juli 2003, zugestellt erhalten den 17. Juli 2003, und erkläre innert nützlicher Frist (Gerichtsferien) namens und mit Vollmacht der Klägerin, dass sie hiermit ihre Klage zurückzieht". In derselben Eingabe beantragte sie, X die gerichtlichen Kosten zu überbinden und diese zu einer angemessenen Entschädigung an Y zu verurteilen, da X ihr gegenüber treuwidrig den Eindruck erweckt habe, ihren Wohnsitz in A zu haben. Darauf schrieb der Vizegerichtspräsident mit Verfügung vom 14. Oktober 2003 die Streitsache zufolge Klagerückzugs als erledigt am Protokoll ab. Y erhob gegen diese Verfügung kein Rechtsmittel.

c) Per 30. November 2003 verlegte X ihren Wohnsitz von B nach A.

d) Am 23. April 2004 erhob Y erneut Klage in A und beantragte wiederum die Verurteilung von X zur Bezahlung von Fr. 52'040.70. X beantragte die Abweisung der Klage und erhob in verfahrensrechtlicher Hinsicht die Einrede der abgeurteilten Sache.

e) Mit Urteil vom 20. Juni/11. September 2006 schützte das Bezirksgericht A die Klage.

f) X erhob Berufung. In ihrer Berufungsbegründung stellte die Berufungsklägerin ausschliesslich den Antrag, auf die Klage sei nicht einzutreten. Die Berufungsklägerin machte geltend, es liege ein vorbehaltloser Rückzug vor. Ein ausdrücklicher Vorbehalt der Wiedereinbringung fehle in der Abschreibungsverfügung vom 14./23. Oktober 2003; zudem habe die Berufungsbeklagte gegen die Abschreibungsverfügung keinen Rekurs erhoben. Eine Auslegung der Rückzugserklärung der Berufungsbeklagten vom 2. September 2003 unter Beizug der äusseren Umstände sei nicht möglich.

2. Entgegen der Ansicht der Berufungsklägerin ist die Klage zulässig und damit darauf einzutreten, da in Bezug auf die Forderung von Fr. 52'040.70 zuzüglich Zins keine abgeurteilte Sache vorliegt.

3. Die Einrede der abgeurteilten Sache ist ein sich aus dem ungeschriebenen Bundeszivilprozessrecht ergebendes Prozesshindernis (negative Prozessvoraussetzung); dessen Voraussetzung, das Anhängigmachen einer rechtskräftig entschiedenen, identischen Klage, ist nicht gegeben. Zwar ist die mit Weisung vom 23. April 2004 geltend gemachte Forderung mit derjenigen gemäss Weisung vom 25. April 2003 identisch. Hingegen wurde die am 25. April 2003 rechtshängig gemachte Forderung nicht rechtskräftig entschieden. Rechtskräftig entschieden ist über eine Sache erst durch ein in formelle Rechtskraft erwachsenes Sachurteil oder durch einen in formelle Rechtskraft erwachsenen Entscheid über einen vorbehaltlos erfolgten Klagerückzug, eine Klageanerkennung oder einen Vergleich[1]. Hier liegt weder ein in formelle Rechtskraft erwachsenes materielles Sachurteil vor noch stellt der Klagerückzug vom 2. September 2003 einen vorbehaltlosen Klagerückzug dar. Zwar ist der Klagerückzug vom 2. September 2003 unstrittig in formelle Rechtskraft erwachsen, da die Berufungsbeklagte dagegen keinen Rekurs[2] ergriff. Hingegen erfolgte der Klagerückzug nicht vorbehaltlos, sondern bloss wegen damals fehlender örtlicher Zuständigkeit und damit unter dem Vorbehalt der Wiedereinbringung; dies ergibt sich klar aus der Auslegung der Abschreibungsverfügung vom 14. Oktober 2003.

4. Ob ein Klagerückzug vorbehaltlos erfolgte und der Streitgegenstand damit in demselben Umfang in materielle Rechtskraft erwuchs, hat das Gericht, dem die Entscheidung über die Einrede der abgeurteilten Sache obliegt, als Prozessvoraussetzung durch Auslegung des richterlichen Erkenntnisses[3] - hier der Abschreibungsverfügung vom 14. Oktober 2003 - zu entscheiden. Dabei ist unerheblich, ob die betreffende Partei zuvor gegen den Abschreibungsentscheid ein Rechtsmittel ergriff, sofern die Auslegung des Abschreibungsentscheids durch das die Einrede der abgeurteilten Sache entscheidende Gericht ergibt, dass die erste Klage bloss angebrachtermassen zurückgezogen wurde. In diesem Sinn darf auch RBOG 1988 Nr. 26 nicht falsch verstanden werden: Zwar trifft die Erwägung durchaus zu, wer eine Klage nur angebrachtermassen zurückziehen wolle, habe gegen einen diese Einschränkung der Abstandserklärung nicht berücksichtigenden Abschreibungsentscheid Rekurs zu führen. Das bedeutet indessen nicht, dass die in Frage stehende Einschränkung andernfalls quasi verwirkt wäre, denn zum einen werden Klagerückzüge angebrachtermassen nach thurgauischem Recht relativ grosszügig zugelassen[4], und zum anderen ist es Sache des später wieder angerufenen Gerichts[5], der Frage der abgeurteilten Sache von Amtes wegen nachzugehen[6]. Demgegenüber hat das Gericht, welches das erste Verfahren abschreibt, vorbehältlich offensichtlichen Rechtsmissbrauchs[7], die Frage, aus welchen Gründen eine Abstandserklärung abgegeben wird, kaum zu prüfen. Selbstverständlich ist dadurch ein Rechtsmittel gegen den Abschreibungsentscheid nicht unnötig; vielmehr ist es sinnvoll und zweckmässig, wenn eine Partei im Sinn von RBOG 1988 Nr. 26 Rekurs erhebt, wenn sie feststellt, dass ihre Einschränkung der Rückzugserklärung ("angebrachtermassen") im Abschreibungsentscheid keine Berücksichtigung fand. Gegenstand eines Rekursverfahrens ist jedoch meist nicht die Frage nach der abgeurteilten Sache und damit einer Auslegung des richterlichen Entscheids, sondern in der Mehrzahl der Fälle ein Verfahrensfehler oder eine mit einem Willensmangel behaftete Prozesserklärung.

5. a) Grundsätzlich ist das Dispositiv des richterlichen Erkenntnisses Gegenstand der Auslegung[8]. Wichtigstes Auslegungsmittel sind allerdings regelmässig die dazugehörigen Parteierklärungen, da sich aus dem in der Regel standardmässig formulierten Entscheiddispositiv allein - wie auch hier - sehr oft wenig bis nichts herleiten lässt.

b) Die Parteierklärungen selbst sind nach denselben Regeln auszulegen, wie sie für die objektive Auslegung von zivilrechtlichen Willensäusserungen gelten[9], denn Ziel der Auslegung ist nicht, was die beteiligten Parteien wollten, sondern wie die Parteien die Erklärung nach Treu und Glauben verstehen mussten. Aus der Eingabe vom 2. September 2003 ergibt sich nach Treu und Glauben ohne Zweifel, dass die Berufungsbeklagte ihre Klage nur wegen örtlicher Unzuständigkeit zurückzog. Zum einen erging die Rückzugserklärung aufgrund der Verfügung des Vizegerichtspräsidenten des Bezirksgerichts A vom 16. Juli 2003, auf welche die Berufungsbeklagte im ersten Satz ihrer Eingabe ausdrücklich Bezug nahm. Nach dieser Verfügung hatte sich die Berufungsbeklagte innerhalb einer Frist von 20 Tagen zu äussern und allenfalls die Klage zurückzuziehen, weil die Berufungsklägerin in ihrer Klageantwort die örtliche Zuständigkeit bestreite. Zudem erwähnte die Verfügung zutreffend, dass eine direkte Prozessüberweisung nach thurgauischer Zivilprozessordnung nicht möglich sei. Zum anderen beantragte die Berufungsbeklagte in ihrer Eingabe die Verurteilung der Berufungsklägerin zur Bezahlung der gerichtlichen Kosten sowie einer angemessenen Prozessentschädigung; zur Begründung führte sie an, die Berufungsklägerin habe ihr gegenüber treuwidrig den Eindruck erweckt, ihren Wohnsitz in der Gemeinde A zu haben. Damit brachte die Berufungsbeklagte aber zusätzlich zum Ausdruck, dass es bei ihrem Klagerückzug ausschliesslich um die örtliche Zuständigkeit ging. Gleiches ergibt sich zudem auch unmittelbar aus der Begründung der Abschreibungsverfügung, da dort die Frage der Kostenüberwälzung in Zusammenhang mit einer allfällig missbräuchlichen Geltendmachung der Einrede der örtlichen Unzuständigkeit eingehend behandelt wird.

6. Der Klagerückzug vom 2. September 2003 ist zudem auch gültig erfolgt, da nach thurgauischem Prozessrecht ein Klagerückzug angebrachtermassen, d.h. unter dem Vorbehalt der Wiedereinbringung, unbeschränkt und ohne nähere Prüfung zulässig ist[10]; einschränkende Voraussetzungen für den Klagerückzug angebrachtermassen, wie sie beispielsweise § 107 Abs. 1 Ziff. 3 ZPO ZH enthält, sieht § 254 ZPO nicht vor.

Obergericht, 15. März 2007, ZBO.2006.14


[1] Merz, Die Praxis zur thurgauischen Zivilprozessordnung, 2.A., § 112 N 9b

[2] § 234 ZPO; Merz, § 255 ZPO N 9

[3] Zur Verdeutlichung sei darauf hingewiesen, dass im thurgauischen Zivilprozessrecht der Abschreibungsentscheid in Rechtskraft erwächst und nicht etwa die Abstandserklärung der jeweiligen Partei (anders beispielsweise das baselstädtische Zivilprozessrecht; dort erwächst die Abstandserklärung selbst in Rechtskraft; vgl. Staehelin/Sutter, Zivilprozessrecht, Zürich 1992, S. 235).

[4] RBOG 1987 Nr. 22 S. 103

[5] RBOG 1987 Nr. 22 S. 104

[6] Merz, § 112 ZPO N 9. Voraussetzung dieser Prüfung von Amtes wegen ist freilich, dass das Gericht vom früheren Verfahren überhaupt Kenntnis hat.

[7] RBOG 1987 Nr. 22 S. 104

[8] BGE 101 II 378; BGHZ 34, 339

[9] RBOG 2001 Nr. 20 S. 146 f.; Vogel/Spühler, Grundriss des Zivilprozessrechts, 8.A., S. 216; Gauch/Schluep/Schmid/Rey, Schweizerisches Obligationenrecht AT, 8.A., N 1201 zur objektivierten ("normativen") Auslegung bei der Auslegung von Verträgen; vgl. zur Auslegung eines Klagebegehrens BGE 105 II 152

[10] Merz, § 254 ZPO N 6b

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