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RBOG 2007 Nr. 35

Amtliche Verteidigung; eine bedingte Geldstrafe von 90 Tagessätzen stellt einen Bagatellfall dar


§ 50 Abs. 4 StPO, § 51 Abs. 2 StPO


1. Die Staatsanwaltschaft beantragte in ihrer Klageschrift, die Beschwerdeführerin sei wegen Irreführung der Rechtspflege mit einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu Fr. 80.00 sowie mit einer Busse von Fr. 600.00 zu bestrafen. Die Bezirksgerichtliche Kommission wies das Gesuch der Beschwerdeführerin um Bestellung eines amtlichen Verteidigers ab; die Beschwerdeführerin wandte sich an das Obergericht.

2. a) Gemäss der Rechtsprechung des Obergerichts, die sich an diejenige des Bundesgerichts zum Anspruch auf amtliche Verteidigung gemäss Art. 29 Abs. 3 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK anlehnt[1], besteht bei einer konkret drohenden unbedingten Freiheitsstrafe von über sechs Monaten unabhängig von tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten Anspruch auf amtliche Verteidigung[2]. Umgekehrt geben geringfügige Fälle keinen Anspruch auf Offizialverteidigung; ein solcher Bagatellfall liegt etwa bei Übertretungen vor, bei denen nur eine Busse in Betracht kommt, oder wenn konkret eine bedingte Strafe von bis zu rund drei Monaten droht. Von diesem Grundsatz ausgenommen sind etwa Fälle, in denen der Betroffene aufgrund persönlicher Umstände überhaupt nicht in der Lage ist, sich zu verteidigen, oder wenn die Strafuntersuchung sich als ausserordentlich kompliziert erwies[3]. Zwischen diesen beiden Fallgruppen liegen die relativ schweren Fälle. Diese geben einen Anspruch auf amtliche Verteidigung, wenn eine Freiheitsbeschränkung von lediglich einigen wenigen Wochen oder Monaten droht und ausserdem Schwierigkeiten in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht hinzukommen, denen der Betroffene - auf sich allein gestellt - nicht gewachsen wäre[4].

b) Die Staatsanwaltschaft beantragte eine Bestrafung der Beschwerdeführerin mit 90 Tagessätzen Geldstrafe bedingt. Diese Strafe hätte unter der Herrschaft des alten, bis Ende 2006 gültigen Allgemeinen Teils des StGB einer bedingten dreimonatigen Gefängnisstrafe entsprochen[5]. Es wäre demzufolge noch von einem Bagatellfall auszugehen gewesen. Dass sich an dieser Einschätzung mit dem Inkrafttreten des revidierten Allgemeinen Teils des StGB am 1. Januar 2007 in dem Sinn etwas geändert haben sollte, dass die der Beschwerdeführerin drohende Strafe neu als gewichtiger zu beurteilen wäre als früher und demnach von einem relativ schweren Fall auszugehen wäre, ist nicht ersichtlich. Im Gegenteil: Die Beschränkung der Freiheit, die bei der Rechtsprechung zur amtlichen Verteidigung stets im Zentrum stand, fällt aufgrund des Umstands, dass kurze und mittlere Strafen durch die Geldstrafe ersetzt werden, jedenfalls so lange dahin, als eine Geldstrafe bezahlt wird. Es kann daher auch nach neuem Recht ohne weiteres davon ausgegangen werden, mit der von der Staatsanwaltschaft beantragten Strafe drohe der Beschwerdeführerin ein geringfügiger Eingriff in ihre Rechtsposition. Insofern kommt die amtliche Verteidigung nach der Praxis des Obergerichts nur in Betracht, wenn die Beschwerdeführerin etwa aufgrund persönlicher Umstände nicht in der Lage ist, sich zu verteidigen, oder wenn die Strafuntersuchung sich als ausserordentlich kompliziert erwies.

Obergericht, 15. Oktober 2007, SW.2007.8


[1] Zweidler, Die Praxis zur thurgauischen Strafprozessordnung, Bern 2005, § 50 N 27

[2] RBOG 2003 Nr. 29

[3] RBOG 2004 Nr. 38

[4] Vgl. BGE 128 I 232 f. und 120 Ia 43

[5] Vgl. Art. 36 Abs. 1 StGB

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