RBOG 2008 Nr. 43
Autopsie als vorläufige Beweissicherung; Bedeutung und Gültigkeit einer Patientenverfügung
Art. 10 BV, § 34 GG, § 170 aZPO (TG)
1. Der Rekurrent verlangte die Autopsie seines eine Woche zuvor verstorbenen Cousins. Das Vizegerichtspräsidium wies das Gesuch ab.
2. Der Rekurrent hat bisher noch kein zivilrechtliches Hauptverfahren eingeleitet, so dass § 176 ZPO als Rechtsgrundlage für sein Begehren nicht in Betracht kommt. Damit kann das Begehren um Autopsie einzig als Gesuch um vorläufige Beweissicherung erfolgen und lediglich gestützt auf § 170 ZPO gestellt werden.
3. a) Voraussetzung von § 170 ZPO ist ein Bedürfnis nach sofortigem Rechtsschutz[1]. Es müssen ein rechtsschutzwürdiges Interesse und eine Gefährdung desselben glaubhaft gemacht werden[2]; dies wird bejaht, wenn bestimmte Beweise in einem nachfolgenden Prozess nicht mehr erhoben werden können[3]. Nachdem an die Glaubhaftmachung der Beweisgefährdung keine strengen Anforderungen zu stellen sind[4], liegt hier eine Beweisgefährdung wohl grundsätzlich vor, da sich nach einer allfälligen Kremation der Leiche die Todesursache nicht mehr in gleicher Weise feststellen lässt. Dieser theoretisch vorliegenden Beweisgefährdung fehlt jedoch jeglicher Zusammenhang mit einem erkennbaren Rechtsschutzinteresse: Zwar ist ein späteres Hauptverfahren keineswegs zwingend und der Nachweis eines bevorstehenden Verfahrens daher keine Bedingung für die Bewilligung der Beweisabnahme nach §§ 170 f. ZPO[5]. Der Rekurrent macht indessen keine möglichen Ansprüche geltend, so dass gar nicht zu erkennen ist, welchem Zweck die von ihm verlangte Autopsie in zivilrechtlicher Hinsicht überhaupt dienen soll. Das gilt insbesondere auch mit Blick auf die Tatsache, dass das Verwandtschaftsverhältnis eines Cousins nicht sonderlich eng ist und unbekannt bleibt, ob nicht allenfalls nähere Verwandte mit besseren Rechten bestehen.
b) Der Verstorbene unterzeichnete eine Patientenverfügung, mit welcher er sich ausdrücklich gegen eine Autopsie aussprach.
Die durch Art. 10 BV gewährleistete persönliche Freiheit beinhaltet das Recht auf Wahrung der Menschenwürde[6]. Nach der Rechtsprechung zum ungeschriebenen Verfassungsrecht ist die persönliche Freiheit nicht auf die Lebensdauer des Menschen beschränkt; sie dauert über den Tod hinaus fort und ermöglicht es jedermann, im Voraus über das Schicksal seines toten Körpers zu bestimmen und sich gegen jeden unerlaubten Eingriff zu schützen, handle es sich um Organentnahmen oder eine Obduktion[7]. Es ist allgemein anerkannt, dass die dem Toten geschuldete Achtung sich aus dem Recht auf Wahrung der Menschenwürde ableitet. Das Recht auf Achtung des Privatlebens schliesst auch das Recht mit ein, über das Schicksal des eigenen Leichnams zu bestimmen und sich gegen jede Verletzung der körperlichen Integrität zu schützen[8].
Die heutige Rechtsprechung zu den Patientenverfügungen wird im Entwurf für das neue Vormundschaftsrecht zusammengefasst[9]: Gemäss Art. 370 E ZGB kann eine urteilsfähige Person in einer Patientenverfügung festlegen, welchen medizinischen Massnahmen sie im Fall ihrer Urteilsunfähigkeit zustimmt oder nicht zustimmt. Gemäss Art. 371 Abs. 1 E ZGB ist die Patientenverfügung schriftlich zu errichten, zu datieren und zu unterzeichnen. Der Patientenverfügung ist zu entsprechen, ausser wenn diese gegen gesetzliche Vorschriften verstösst, oder wenn begründete Zweifel bestehen, dass sie auf freiem Willen beruht oder noch dem mutmasslichen Willen der Patientin oder des Patienten entspricht[10].
Gemäss § 34 GG[11] darf eine Obduktion nur vorgenommen werden, sofern der Verstorbene oder an seiner Stelle die nächsten Angehörigen nicht anders verfügt haben.
Zusammengefasst ist eine solche Patientenverfügung grundsätzlich auch vom Zivilrichter zu beachten; lediglich die Strafverfolgungsbehörden sind an eine solche Verfügung nicht gebunden.
c) Der Rekurrent bestreitet sinngemäss die Gültigkeit der Patientenverfügung. Er macht geltend, diese Patientenverfügung sei vom Verstorbenen nicht datiert worden. Dieser sei überdies urteilsunfähig gewesen, wofür der Rekurrent auf diverse Briefe des Verstorbenen und die Umstände der Klinikeinweisung verweist.
aa) Die Patientenverfügung ist mit dem 18. Mai 2005 datiert. Sie ist zwar nicht vollumfänglich eigenhändig geschrieben, sondern im Rahmen eines entsprechenden Formulars erklärt worden, was aber durchaus üblich ist. Eine Patientenverfügung muss eben nicht in Form eines Testaments errichtet werden, weil sie als blosse Anordnung, wie die Behandlung durch den Arzt zu erfolgen hat, zu qualifizieren ist[12]. Es geht hier konkret um Anordnungen des Verstorbenen mit Bezug auf den Umgang mit seinem Körper nach dem Tod. Dabei handelt es sich um die Ausübung absolut höchstpersönlicher Rechte des Verstorbenen, welche ungeachtet allfälliger Formvorschriften zu beachten sind.
bb) Die Urteilsfähigkeit besteht aus zwei Elementen, einem verstandesmässigen und einem willensmässigen oder charakterlichen, nämlich der Fähigkeit, erstens den Sinn, die Zweckmässigkeit und die Auswirkungen einer konkreten Handlung zu erkennen, und zweitens nach freiem Willen gemäss dieser Einsicht zu handeln. Die Urteilsfähigkeit ist keine Eigenschaft der Person an sich, sondern muss immer in Bezug auf ein bestimmtes Rechtsgeschäft gegeben sein[13].
Liest man die Briefe des Verstorbenen, so erhellt daraus, dass seine Gedanken wohl etwas wirr waren; ebenso folgt daraus aber auch, dass er an sich durchaus in der Lage war, seinen Körper und die Umwelt wahrzunehmen. Es bedarf keiner grossen intellektuellen Fähigkeiten, um beurteilen zu können, ob man seinen Körper nach dem Tod für eine allfällige Autopsie freigeben, d.h. einen Mediziner am verstorbenen eigenen Körper herumschneiden lassen will. Der Patientenverfügung ist ausserdem zu entnehmen, dass sich der Verstorbene auch ausdrücklich gegen eine Organentnahme aussprach, der Patient sich mithin gegen jeglichen Eingriff in seine körperliche Integrität nach seinem Tod wandte. Dieser Wille geht dem Wunsch des Rekurrenten vor und ist zivilrechtlich zu schützen. Eine unzulässige Beeinflussung durch Dritte ist äusserst unwahrscheinlich, nachdem entsprechende Anhaltspunkte völlig fehlen; das gilt insbesondere auch, weil solche Dritteinwirkungen in der Regel nur erfolgen, um eine spätere Obduktion und Organentnahme zu ermöglichen.
d) Sollte der Rekurrent der Auffassung sein, eine Autopsie sei aus strafrechtlicher Sicht notwendig, hat er sich an die Staatsanwaltschaft zu halten. Der Zivilrichter ist hiefür nicht zuständig.
4. Damit ist der Rekurs abzuweisen.
Obergericht, 18. Januar 2008, ZR.2008.5
[1] Merz, Die Praxis zur thurgauischen Zivilprozessordnung, 2.A., § 170 N 1
[2] RBOG 1984 Nr. 18
[3] RBOG 1981 Nr. 16
[4] Merz, § 170 ZPO N 1b
[5] Merz, § 170 ZPO N 1b
[6] Art. 7 BV; BGE 126 I 114
[7] Pra 90, 2001, Nr. 161 S. 965 f.; BGE 111 Ia 231; 98 Ia 520
[8] Pra 90, 2001, Nr. 161 S. 966
[9] BBl 2006 S. 7142 f.
[10] Art. 372 Abs. 2 E ZGB
[11] Gesundheitsgesetz, RB 810.1
[12] Breitschmid, Vorsorgevollmachten - ein Institut im Spannungsfeld von Personen- Vormundschafts-, Erb- und Obligationenrecht, in: ZVW 2001 S. 151
[13] Weimar, Berner Kommentar, Art. 467 ZGB N 5