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RBOG 2011 Nr. 27

Keine Einstellung des Strafverfahrens in Anwendung des Grundsatzes "im Zweifel für den Angeklagten"; dies gilt auch im Strafbefehlsverfahren


Art. 319 StPO, Art. 352 Abs. 1 StPO


1. Die Staatsanwaltschaft verfügt die vollständige oder teilweise Einstellung des Verfahrens, wenn kein Tatverdacht erhärtet ist, der eine Anklage rechtfertigt, oder wenn kein Straftatbestand erfüllt ist[1]. Dabei hat sich die Staatsanwaltschaft bei der Frage, ob ein Tatverdacht besteht, in Zurückhaltung zu üben: Widersprechen sich Beweise, so ist es nicht ihre Sache, eine Beweiswürdigung vorzunehmen; vielmehr hat sie im Zweifelsfall gemäss dem Grundsatz "im Zweifel für die Anklageerhebung" anzuklagen. Bei der Frage der Überweisung des Beschuldigten an das urteilende Gericht greift somit der in Art. 10 Abs. 3 StPO verankerte Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten" gerade nicht. Es ist Sache des Gerichts, darüber zu befinden, ob sich jemand schuldig machte. Die Staatsanwaltschaft hat die Untersuchung nur einzustellen, wenn eine Hauptverhandlung als Ressourcenverschwendung erscheinen müsste[2]. Eine Überweisung an das Gericht ist demgegenüber insbesondere zu verfügen, wenn zwar eher ein Freispruch zu erwarten ist, eine Verurteilung aber nicht als unwahrscheinlich ausgeschlossen werden kann[3].

2. a) Der Beschuldigte sprach sich dafür aus, dass die Staatsanwaltschaft hier die Brille des Strafrichters aufzusetzen und demzufolge "im Zweifel für den Angeklagten" die Untersuchung einzustellen habe, weil die Sache vom Strafmass her im Bereich der Strafbefehlskompetenz der Staatsanwaltschaft liege.

b) Diese Auffassung ist indessen unzutreffend. Die Voraussetzungen, unter denen die Staatsanwaltschaft eine Strafuntersuchung einstellen darf, werden in Art. 319 StPO aufgezählt, wobei die Liste zwar nicht abschliessend zu verstehen, aber stets vorauszusetzen ist, dass ein Gerichtsverfahren aussichtslos erscheint. Allgemeine Opportunitätsüberlegungen ausserhalb der vom Gesetz ausdrücklich normierten Fallgruppen erlauben keine Einstellung[4]. Somit darf mit der Unschuldsvermutung ("im Zweifel für den Angeklagten") keine Einstellung begründet werden[5].

c) Nichts anderes gilt im Bereich des Strafmasses, in dem Strafbefehlskompetenz der Staatsanwaltschaft besteht. Ein Strafbefehl ist gemäss Art. 352 Abs. 1 StPO zu erlassen, wenn die beschuldigte Person im Vorverfahren den Sachverhalt eingestanden hat oder dieser anderweitig ausreichend geklärt ist. Anderweitig ausreichend geklärt ist ein Sachverhalt, wenn sich aus den bisherigen Verfahrensakten klar ergibt, dass die beschuldigte Person die fragliche Straftat beging, auch wenn kein Geständnis vorliegt, wobei bei Zweifeln an der Täterschaft ein Strafbefehl nur ergehen darf, wenn die Zweifel durch weitere Be­weismassnahmen ausgeräumt sind[6]. Ist also weder die eine (Geständ­nis) noch die andere Voraussetzung (anderweitig ausreichend geklärter Sachverhalt) erfüllt und kommt gleichzeitig eine Einstellung mangels Vorliegens der Voraussetzungen von Art. 319 StPO nicht in Betracht, ist beim Gericht nach Massgabe von Art. 324 Abs. 1 StPO Anklage zu erheben, da der Staatsanwalt nicht Richter und der Strafbefehl kein richterliches Urteil, sondern lediglich ein Angebot an die Parteien zur summarischen Verfahrenserledigung ist[7]. Zwingend ist der Strafbefehl also nur, wenn die Voraussetzungen nach Art. 352 StPO erfüllt sind[8].


[1] Art. 319 Abs. 1 lit. a und b StPO

[2] Grädel/Heiniger, Basler Kommentar, Art. 319 StPO N 8

[3] BGE 137 IV 226

[4] Grädel/Heiniger, Art. 319 StPO N 5

[5] Grädel/Heiniger, Art. 319 StPO N 8

[6] BBl 2006 S. 1289 f.

[7] Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, Zürich/St. Gallen 2009, vor Art. 352-357 N 1

[8] Riklin, Basler Kommentar, Art. 352 StPO N 14; Schmid, Art. 352 StPO N 4

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