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RBOG 2015 Nr. 14

Anfechtung einer gerichtlichen Vereinbarung, die im Eheschutzverfahren geschlossen wurde


Art. 279 Abs. 1 ZPO, Art. 296 Abs. 1 ZPO, Art. 296 Abs. 3 ZPO


1. a) Im Eheschutzverfahren zwischen X und Y genehmigte der Einzelrichter des Bezirksgerichts am 2. September 2015 die anlässlich der Eheschutzverhandlung vom 31. August 2015 von den Parteien abgeschlossene Vergleichsvereinbarung.

b) Gegen diesen Entscheid erhob X am 7. September 2015 Berufung.

2. a) Gemäss Art. 241 Abs. 2 ZPO hat ein von den Parteien abgeschlossener Vergleich die Wirkung eines rechtskräftigen Entscheids; das Gericht schreibt das Verfahren alsdann laut Art. 241 Abs. 3 ZPO ab. Ein gerichtlicher Vergleich, also ein Vergleich, der vor dem Gericht abgeschlossen oder bei diesem eingereicht wurde, kann nicht bedingt erklärt werden und kann nach Eingang beim Gericht auch nicht mehr widerrufen werden[1]. Zwar ist es zulässig, einen Widerrufsvorbehalt in den Vergleich aufzunehmen, doch kann die Frist, innert welcher der Vergleich widerrufen werden kann, vom Gericht nicht verlängert oder wiederhergestellt werden[2]. Allfällige materiell-rechtliche Mängel des Vergleichs – wie Willensmängel einer Partei zufolge Irrtums, Täuschung oder Drohung – sind denkbar, wobei eine Irrtumsanfechtung jedoch nur in sehr beschränktem Mass möglich ist, da die Parteien einen Vergleich gerade in bewusster Ungewissheit über die Rechts- und/oder Sachlage abschliessen[3]. Nachdem ein formeller Abschreibungsbeschluss ergangen ist, kann eine Partei die Vergleichsvereinbarung nur noch auf dem Weg der Revision gemäss Art. 328 ff. ZPO anfechten; eine Anfechtung des Vergleichs oder des entsprechenden Abschreibungsbeschlusses mittels Berufung oder Beschwerde ist hingegen ausgeschlossen[4]. Anfechtungsobjekt der Revision ist die Vergleichsvereinbarung zusammen mit dem Abschreibungsbeschluss; die Revision ist beim Prozessgericht, welches den Abschreibungsbeschluss erliess, einzulegen[5]. Anders verhält es sich hingegen bei einer Vereinbarung über die Scheidungsfolgen, die gemäss Art. 279 Abs. 1 ZPO der gerichtlichen Genehmigung unterliegt. Hier kann der gerichtliche Genehmigungsentscheid selbst mit Berufung oder Beschwerde angefochten werden[6]. Alsdann kann – neben der Geltendmachung von Willensmängeln – gerügt werden, die richterliche Genehmigung hätte nicht erteilt werden dürfen, weil die Vereinbarung unklar, unvollständig, offensichtlich unangemessen oder widerrechtlich sei oder gegen zwingendes Recht verstosse. In Bezug auf die Kinderbelange sind die Berufungsgründe nicht eingeschränkt, denn hier herrscht die Offizialmaxime, und eine verbindliche Regelung in einer Vereinbarung ist gestützt auf Art. 296 Abs. 3 ZPO nicht möglich[7].

b) Schliessen die Eheleute – wie hier – im Eheschutzverfahren über die Trennungsfolgen eine Vereinbarung, ist nach einem Teil der Lehre keine Genehmigung im Sinn von Art. 279 ZPO notwendig, soweit es um Belange geht, die der freien Disposition der Ehegatten unterstehen und nicht um die Kinderbelange beziehungsweise um den Kindesunterhalt, der nur mit gerichtlicher Genehmigung für das Kind verbindlich und vollstreckbar wird. Werden hingegen in einem gerichtlichen Eheschutzvergleich die Kinderbelange und insbesondere der Kindesunterhalt geregelt, bedarf die Parteivereinbarung einer Genehmigung durch den Richter[8]. Nach einem anderen Teil der Lehre unterliegt eine im Eheschutzverfahren abgeschlossene Vereinbarung der Parteien in jedem Fall der richterlichen Genehmigung[9]. Dabei wird zu Recht darauf hingewiesen, die unbeschränkte (analoge) Anwendung von Art. 279 ZPO auf die Genehmigung von Vereinbarungen im Eheschutzverfahren rechtfertige sich schon deshalb, weil dem eigentlichen Scheidungsverfahren auch im Hinblick auf die zweijährige Trennungsfrist das Eheschutzverfahren als "kleine Scheidung" vorausgehe, und weil das Schutzbedürfnis durch Geltung des Untersuchungsgrundsatzes für den ganzen Eheschutz ausdrücklich anerkannt werde[10]. Dieser Auffassung ist in der Praxis denn auch der Vorzug zu geben. Damit unterliegt der entsprechende Genehmigungsentscheid im Eheschutzverfahren genauso wie jener im Scheidungsverfahren dem Rechtsmittel der Berufung.

c) Die Vorinstanz genehmigte die vor dem Gericht abgeschlossene Parteivereinbarung, welche ohnehin auch die Kinderbelange einschliesslich Kindesunterhalt regelte. Damit ist auf die Berufung gegen den Genehmigungsentscheid einzutreten.

Obergericht, 1. Abteilung, 16. September 2015, ZBR.2015.56


[1] Killias, Berner Kommentar, Art. 241 ZPO N 13

[2] SJZ 78, 1982, S. 97

[3] Killias, Art. 241 ZPO N 48; vgl. BGE 132 III 740 f.

[4] BGE 139 III 133 f.; Steck, Basler Kommentar, Art. 241 ZPO N 21 f.; Killias, Art. 241 ZPO N 49

[5] Killias, Art. 241 ZPO N 50

[6] Killias, Art. 241 ZPO N 53; Steck, Art. 241 ZPO N 27; Siehr/Bähler, Basler Kommentar, Art. 279 ZPO N 6a; vgl. RBOG 2013 Nr. 15

[7] RBOG 2013 Nr. 15

[8] Heberlein/Bräm, in: Handkommentar zum Schweizer Privatrecht (Hrsg.: Breitschmid/Rumo-Jungo), 2.A., Art. 176 ZGB N 12; Bräm, Zürcher Kommentar, Art. 176 ZGB N 18; Hausheer/Reusser/Geiser, Berner Kommentar, Art. 176 ZGB N 50

[9] Spycher, Berner Kommentar, Art. 279 ZPO N 45; vgl. Siehr/Bähler, Art. 279 ZPO N 1b; Schwander, in: Schweizerische Zivilprozessordnung (Hrsg.: Gehri/Kramer), Zürich 2010, Art. 279 ZPO N 3

[10] Sutter-Somm/Gut, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (Hrsg.: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger), 2.A., Art. 279 ZPO N 5

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