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RBOG 2017 Nr. 23

Verwertbarkeit der Aussagen als Auskunftsperson nach einem Rollenwechsel zur beschuldigten Person


Art. 131 Abs. 3 StPO, Art. 141 Abs. 1 StPO


1. a) X war am 5. Juli 2013, um etwa 17.00 Uhr, mit seinem Audi in Richtung H unterwegs; Y fuhr mit seinem Mercedes direkt hinter ihm. In der Folge überholten X und Y einen anderen Personenwagen und setzten ihre Fahrt mit übersetzter Geschwindigkeit fort. Im Ausserortsbereich leitete X aufgrund eines abbiegenden Fahrzeugs eine Vollbremsung ein, um eine Kollision zu vermeiden. Der nachfolgende Y sah sich gezwungen, ebenfalls eine Vollbremsung einzuleiten; dabei wich er nach rechts auf den angrenzenden Fahrradweg aus und kollidierte linksseitig mit dem Audi sowie rechtsseitig mit zwei Leitpfosten und zwei Wegweisern. In unmittelbarer Nähe der Wegweiser standen zwei Personen, welche Y beinahe angefahren hätte. X seinerseits fuhr über den Verkehrsteiler hinaus und kam auf der Gegenfahrbahn zum Stillstand.

b) Um 19.09 Uhr befragte die Polizei X bis 21.26 Uhr als Auskunftsperson im Strafverfahren betreffend Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz. Um 21.46 Uhr vernahm sie ihn als beschuldigte Person ein; die Einvernahme dauerte bis 22.43 Uhr. Am Tag darauf befragte sie ihn erneut[1]. X war an diesen Einvernahmen nicht anwaltlich vertreten. Am 15. Juli 2013 wurde X ebenfalls ohne Verteidigung als beschuldigte Person zu den persönlichen Verhältnissen einvernommen.

2. X begründet die Unverwertbarkeit der Beweismittel damit, dass bereits kurze Zeit nach dem Unfall vom 5. Juli 2013 klar gewesen sei, dass es um einen Fall notwendiger Verteidigung gehe; trotzdem sei ihm kein Verteidiger zur Seite gestellt worden. Er sei erst durch die Bestellung eines Wahlverteidigers am 23. Juli 2013 verteidigt gewesen.

3. Gemäss Art. 130 lit. b StPO muss die beschuldigte Person verteidigt werden, wenn ihr eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr oder eine freiheitsentziehende Massnahme droht. Liegt ein Fall notwendiger Verteidigung vor, achtet die Verfahrensleitung laut Art. 131 Abs. 1 StPO darauf, dass unverzüglich eine Verteidigung bestellt wird.

a) Art. 130 lit. b StPO erfordert von der Staatsanwaltschaft bereits zu Beginn des Verfahrens eine Prognose über die mutmassliche Dauer der drohenden Freiheitsstrafe. Ergibt diese Prognose, dass der beschuldigten Person eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr droht, muss ihr die Verfahrensleitung nach Eröffnung der Untersuchung unverzüglich eine Verteidigung bestellen. Wird hingegen eine Strafe von unter einem Jahr prognostiziert und liegt deshalb - und auch sonst - kein Fall von notwendiger Verteidigung vor, hat die Verfahrensleitung nicht von Amtes wegen für eine Verteidigung zu sorgen[2]. Gründe, die eine notwendige Verteidigung gebieten, können auch erst nach der ersten Einvernahme oder Eröffnung der Untersuchung erkennbar werden, wenn sich beispielsweise aufgrund neuer Erkenntnisse ergibt, dass die Strafgrenze nach Art. 130 lit. b StPO doch erreicht wird[3]. Die Frage der Erkennbarkeit orientiert sich an objektiven Massstäben. Abzustellen ist auf die Informationen, die den Strafbehörden zum Zeitpunkt der jeweiligen Beweiserhebung bekannt waren[4]. Letztlich wird es darum gehen, ob der Grund für die notwendige Verteidigung bei Anwendung pflichtgemässer Sorgfalt hätte erkannt werden müssen[5].

b) Die Staatsanwaltschaft wurde offensichtlich von der Polizei über den Vorfall informiert und rückte an den Unfallort aus. Damit war die Untersuchung gemäss Art. 309 Abs. 1 lit. c StPO i.V.m. Art. 307 Abs. 1 StPO eröffnet, auch wenn eine formelle Eröffnungsverfügung fehlt. Die in Art. 309 Abs. 1 StPO vorgesehene formelle Eröffnungsverfügung der Staatsanwaltschaft hat deklaratorische Bedeutung und sagt nichts darüber aus, ab welchem Zeitpunkt ein Vorverfahren nach Art. 299 ff. StPO und insbesondere eine Untersuchung nach Art. 308 ff. StPO geführt wird. Die StPO geht von einem materiellen Begriff der Eröffnung der Voruntersuchung wie auch der staatsanwaltschaftlichen Untersuchung aus. Eine Untersuchung im Sinn von Art. 308 ff. StPO ist somit eingeleitet, sobald sich die Staatsanwaltschaft mit einem Straffall zu befassen beginnt. Jede Verfahrenshandlung einer Strafverfolgungsbehörde im Vorverfahren unterliegt daher der StPO, unabhängig davon, ob eine formelle Eröffnung nach Art. 309 erfolgte oder nicht[6]. Das bedeutet, dass X – falls die Voraussetzungen von Art. 130 lit. b StPO gegeben sind – an den polizeilichen Einvernahmen von Anfang an hätte verteidigt sein müssen[7]. Zudem hat sich die Staatsanwaltschaft Wissen und Handeln der Polizei anrechnen zu lassen; sie kann sich nicht darauf berufen, sie habe die Notwendigkeit der Verteidigung nicht erkennen können, weil sie nicht über die der Polizei bekannten Informationen verfügt habe. Die Staatsanwaltschaft leitet das Untersuchungsverfahren und hat die Verantwortung dafür, dass rechtzeitig eine notwendige Verteidigung angeordnet wird.

c) aa) Im Audi sassen X und Z. In der ersten Einvernahme um 18.54 Uhr sagte Z als Beschuldigter aus, er sei gefahren. X bestätigte dies. Die Polizei ging somit zu Beginn der Befragungen davon aus, Beschuldigter sei Z. Sie befragte daher X um 19.09 Uhr in Anwendung von Art. 178 lit. d StPO zu Recht als Auskunftsperson, weil er mutmasslich nicht Täter, aber als Täter oder Teilnehmer der abzuklärenden Straftat nicht auszuschliessen war. Z gab gegen Ende seiner Einvernahme zu Protokoll, er sei nicht gefahren; es sei X gewesen. Seine Befragung wurde kurz danach um 21.40 Uhr für weitere Abklärungen unterbrochen. Die parallel dazu durchgeführte erste Einvernahme von X endete bereits um 21.26 Uhr, das heisst vor dem "Zugeständnis" von Z. Die Polizei durfte somit während der ganzen ersten Befragung von X davon ausgehen, er sei nicht Beschuldigter. Erst nach der Aussage von Z, X sei gefahren, befragte die Polizei diesen ein zweites Mal, diesmal zu Recht als beschuldigte Person.

bb) Es ist denkbar, dass eine Auskunftsperson nicht nur als Täter in Betracht kommt, sondern im Lauf der Untersuchung der Tat dringend verdächtigt wird. Sie ist im weiteren Verfahren als beschuldigte Person einzuvernehmen. Zu beantworten bleibt aber die Frage, ob die bisher als Auskunftsperson gemachten Aussagen gültig bleiben oder ungültig oder gar unverwertbar werden. Zwar hätte auch die Auskunftsperson ihre Aussage wie eine beschuldigte Person verweigern können, was für die Verwertbarkeit ihrer früheren Aussagen spräche. Laut Vogel[8] sollen die früheren Aussagen nur im Verfahren gegen Dritte als Beweismittel gültig bleiben, im Verfahren gegen die nun selbst beschuldigte Person hingegen nicht, weil sie im Zeitpunkt ihrer früheren Aussagen noch keine Beschuldigtenrechte gehabt habe. Ob dies generell zutrifft, kann hier offen bleiben. Zuzustimmen ist dieser Auffassung aber jedenfalls dann, wenn der betroffenen Person in Bezug auf die Befragung verteidigungswirksame Rechte vorenthalten wurden. Dies ist etwa der Fall, wenn sie bei ihrer Einvernahme nicht anwaltlich vertreten war und gleichzeitig – wäre sie als beschuldigte Person einvernommen worden – hätte erkannt werden müssen, dass eine Verteidigung im Sinn von Art. 130 StPO notwendig gewesen wäre. Diesfalls ist die frühere Befragung als Auskunftsperson nur gültig, wenn die nunmehr beschuldigte Person auf ihre Befragung verzichtet[9].

cc) X wurde im Verlauf der ersten Befragung vorgehalten, die Lenker des Audis und des Mercedes – gemeint waren zu diesem Zeitpunkt Y und Z – hätten sich mutmasslich ein Rennen geliefert oder seien mit massiv übersetzter Geschwindigkeit gefahren. Die Teilnahme an einem nicht bewilligten Rennen mit Motorfahrzeugen bedroht Art. 90 Abs. 3 SVG mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu vier Jahren. Damit stand dieser Tatvorwurf bei der ersten Befragung von X im Raum und war als solcher massgebend für die Beurteilung der Frage, ob eine notwendige Verteidigung anzuordnen war. Dazu kam der Vorwurf einer massiven Geschwindigkeitsüberschreitung, was die Anwendung von Art. 90 Abs. 4 SVG nahelegte. Daher war schon bei der ersten Befragung als Auskunftsperson erkennbar, dass dem X (als Beschuldigtem) eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr drohte. Es lag somit erkennbar ein Fall notwendiger Verteidigung im Sinn von Art. 130 lit. b StPO vor.

dd) Die gleichen Überlegungen gelten für die zweite Einvernahme von X als beschuldigte Person am 5. Juli 2013 und die weiteren Befragungen, die ebenfalls ohne Verteidigung durchgeführt wurden. Wenn schon in der ersten Einvernahme der Vorwurf eines Rennens und einer massiven Geschwindigkeitsüberschreitung im Raum stand, galt dies erst recht für die anschliessende Befragung, die um 21.45 Uhr begann. Die Polizei fragte X denn auch ausdrücklich, ob er sich mit dem Mercedes ein Rennen geliefert habe. Auch hier hätte X notwendig verteidigt sein müssen.

d) Da X auf die Wiederholung der ohne Verteidigung erhobenen Beweise nicht verzichtete, sind diese Beweise ungültig im Sinn von Art. 131 Abs. 3 StPO und absolut unverwertbar nach Art. 141 Abs. 1 StPO.

Obergericht, 2. Abteilung, 19. Oktober 2017, SW.2017.97


[1] Von 11.41 bis 13.25 Uhr

[2] RBOG 2012 Nr. 26

[3] Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2.A., Art. 131 N 1

[4] Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, 3.A., N 442

[5] Lieber, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Hansjakob/Lieber), 2.A., Art. 131 N 13

[6] Schmid, Art. 309 StPO N 2; vgl. Omlin, Basler Kommentar, Art. 309 StPO N 6 ff.

[7] Art. 131 Abs. 2 StPO: "jedenfalls aber vor Eröffnung der Untersuchung"

[8] Vogel, Auskunftsperson im Zürcher Strafprozessrecht, Diss. Zürich 1999, S. 163

[9] Kerner, Basler Kommentar, Art. 178 StPO N 17

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