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RBOG 2018 Nr. 1

Verwertbarkeit von Aufnahmen der Automatischen Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung (AFV); gesetzliche Grundlage


Art. 13 Abs. 2 BV, Art. 36 BV, § 4 TG DSG, Art. 17 DSG, § 11 PolG, § 17 PolG, § 67 PolG, § 68 Abs. 2 PolG, Art. 95 Abs. 1 SVG


1. a) Die Staatsanwaltschaft warf dem Berufungsbeklagten unter anderem vor, er sei mehrmals im "Grossraum Thurgau" Auto gefahren, obwohl er gewusst habe, dass ihm die Kantonspolizei den Führerausweis auf unbestimmte Zeit entzogen habe.

b) Die Vorinstanz sprach den Berufungsbeklagten vom Vorwurf des mehrfachen Fahrens ohne Berechtigung im Sinn von Art. 95 Abs. 1 SVG frei. Sie erwog zusammengefasst, die Aufnahmen der Automatischen Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung (AFV) seien nicht verwertbar. Die Aufnahmen der AFV würden einen Eingriff in die verfassungsmässigen Rechte des Betroffenen darstellen, weshalb hiefür eine konkrete Ermächtigungsgrundlage notwendig sei. Eine solche kantonale konkrete Ermächtigungsgrundlage habe beispielsweise der Kanton Basel-Landschaft, nicht aber der Kanton Thurgau.

c) Die Staatsanwaltschaft erhob Berufung und focht den Freispruch wegen mehrfachen Fahrens ohne Berechtigung an. Der Berufungsbeklagte beantragte, die Berufung sei abzuweisen.

2. a) Die heutige Lehre und Rechtsprechung gehen davon aus, dass die Bearbeitung von Personendaten durch staatliche Organe (zumindest) das in Art. 13 Abs. 2 BV verankerte Grundrecht auf Schutz vor Missbrauch persönlicher Daten tangiert. Folglich ist eine Bearbeitung immer rechtfertigungsbedürftig, in dem Sinn, dass eine gesetzliche Grundlage erforderlich ist, mit dem Eingriff ein öffentliches Interesse verfolgt wird und die staatliche Handlung dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit entspricht[1]. Die Konkretisierung dieses verfassungsrechtlich verankerten Schutzes wird bei der staatlichen Bearbeitung von Personendaten für die Bundesorgane im DSG[2] und für die kantonalen Organe in den kantonalen Datenschutzerlassen[3] vorgenommen. Dabei besteht eine Grundrechtsrelevanz immer, wenn Personendaten durch ein staatliches Organ bearbeitet werden[4]; die Bearbeitung umfasst "jeden Umgang mit Personendaten", unabhängig von den angewandten Mitteln und Verfahren[5].

b) Demnach erfordert die Bearbeitung von Personendaten grundsätzlich immer eine gesetzliche Grundlage. Werden (zudem) besonders schützenswerte Personendaten oder Persönlichkeitsprofile bearbeitet, ist ein "Gesetz im formellen Sinn" erforderlich, während bei der Bearbeitung "gewöhnlicher" Personendaten grundsätzlich ein "Gesetz im materiellen Sinn" (also auch eine Verordnung) ausreicht, wenn es eine angemessene Bestimmtheit beziehungsweise eine hinreichende Konkretisierung der vorgesehenen Datenverarbeitung aufweist[6]. Gewöhnliche Personendaten sind Angaben über natürliche oder juristische Personen, sofern diese bestimmt oder bestimmbar sind; besonders schützenswerte Personendaten sind namentlich Angaben über Straftaten und die dafür verhängten Strafen und Massnahmen[7]. Sodann sind bei der Bearbeitung von Personendaten – neben dem Legalitätsprinzip – die allgemeinen Grundsätze zu beachten, wobei dem Prinzip der Verhältnismässigkeit ein besonderes Gewicht zukommt. Es ist bei der Bearbeitung von Personendaten selbst dann zu prüfen respektive anwendbar, wenn im konkreten Fall eine gesetzliche Grundlage gegeben ist. Die Bearbeitung von Personendaten muss demzufolge den angestrebten Zweck erreichen und zur Erreichung derselben das mildeste Mittel darstellen, was eine Prüfung der Handlungsalternativen erfordert. Im Rahmen der Verhältnismässigkeit im engeren Sinn werden sodann die verschiedenen involvierten öffentlichen und privaten Interessen eruiert und gegeneinander abgewogen. Verhältnismässig ist der Eingriff unter der Voraussetzung, dass er bei einer Gesamtabwägung der Interessen für die betroffenen Personen "zumutbar" ist[8].

3. a) Das Bundesgesetz über die polizeilichen Informationssysteme des Bundes (BPI)[9] gilt für die Bearbeitung von Daten durch Behörden des Bundes und der Kantone in den polizeilichen Informationssystemen des Bundes (polizeiliche Informationssysteme)[10]. Das Bundesamt für Polizei (Fedpol) betreibt in Zusammenarbeit mit den Kantonen ein automatisiertes Personen- und Sachfahndungssystem; dieses dient den zuständigen Behörden des Bundes und der Kantone (unter anderem) der Bekanntgabe von Aberkennungen ausländischer, in der Schweiz ungültiger Führerausweise[11]. Damit dürfen die kantonalen Polizeibehörden alle zu diesem Zweck vorgesehenen Daten erfassen[12]. Weil hier aber Daten im Zusammenhang mit einem (entzogenen) Schweizer Führerausweis verarbeitet wurden, kann Art. 15 Abs. 1 lit. e BPI von vornherein keine taugliche gesetzliche Grundlage bilden.

b) Gemäss § 11 Abs. 1 und 2 PolG TG sorgt die Kantonspolizei mit präventiven und repressiven Massnahmen sowie durch sichtbare Präsenz für die öffentliche Sicherheit und Ordnung; zudem ermittelt die Kantonspolizei Straftaten und wirkt bei ihrer Aufklärung mit. Nach § 17 PolG TG umfassen die verkehrspolizeilichen Aufgaben die Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung im Verkehr auf den öffentlichen Strassen und auf den Gewässern sowie vorbeugende Massnahmen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit und die Verfolgung der Verstösse gegen das Verkehrsrecht, einschliesslich des Verkehrs auf Schienen. Die Kantonspolizei ist nach § 67 Abs. 1 bis 3 PolG TG befugt, zur Erfüllung ihrer Aufgaben und zur Führung ihrer Geschäftskontrolle Daten zu verarbeiten und dazu geeignete Datenbearbeitungssysteme und Registraturen zu betreiben. Sie kann auch besonders schützenswerte Personendaten und Persönlichkeitsprofile bearbeiten, soweit dies zur Erfüllung ihrer Aufgaben unentbehrlich ist. Dabei dient die Datenbearbeitung durch die Kantonspolizei ausschliesslich der Aufdeckung strafbarer Handlungen, der Fahndung nach der Täterschaft, der Ermittlung von Spuren und Beweisen, der Fahndung nach vermissten Personen oder der Kontrolle des Strassen- und Schiffsverkehrs. § 68 Abs. 2 PolG TG hält schliesslich fest, dass Behörden und Ämter der Kantonspolizei die für die Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Personendaten zu liefern haben. Festzustellen ist, dass diese Bestimmungen nicht etwa Teil einer Verordnung bilden, sondern vielmehr Eingang in ein "Gesetz im formellen Sinn" gefunden haben, womit das Erfordernis der genügenden Regelungsstufe hier selbst hinsichtlich besonders schützenswerter Personendaten erfüllt ist. Insofern kann hier offen gelassen werden, ob die von der Kantonspolizei im konkreten Fall gesammelten Daten als "gewöhnliche" oder als "besonders schützenswerte Daten" zu qualifizieren sind; das Erfordernis der genügenden Normenstufe ist hier so oder anders gegeben. Entgegen der Auffassung des Berufungsbeklagten ist hier aber auch das Erfordernis des genügend bestimmten Rechtssatzes gegeben. So ist der Regelung im PolG TG ohne weiteres zu entnehmen, welches staatliche Organ[13], mit welchen Mitteln[14] und zu welchem Zweck[15] Daten bearbeiten darf. Mit anderen Worten wurde hier in einem "Gesetz im formellen Sinn" zumindest in den Grundzügen der Zweck, die beteiligten Organe und das Ausmass der Datenbearbeitung festgelegt, womit die Anforderungen an das Legalitätsprinzip erfüllt sind[16]. Dabei steht ausser Frage, dass die AFV für die Kantonspolizei der Erfüllung ihrer verkehrspolizeilichen Aufgaben und somit letztlich der Verkehrssicherheit dient; demzufolge erscheint die entsprechende Bearbeitung der Daten als geeignetes Mittel, um das im öffentlichen Interesse stehende Ziel zu erreichen. Die AFV ist aber auch erforderlich, weil persönliche Kontrollen vor Ort aufgrund der beschränkten Ressourcen nur eingeschränkt möglich sind; insofern ist auch keine mildere Handlungsalternative ersichtlich, welche dieselbe Wirkung entfalten würde. Zu guter Letzt ist auch kein (gegenüber dem öffentlichen Interesse) überwiegendes schützenswertes Privatinteresse feststellbar, weshalb die Bearbeitung der Daten für die Betroffenen auch als zumutbar einzustufen ist[17]; mit anderen Worten ist der Grundsatz der Verhältnismässigkeit durchaus gewahrt.

c) Vor diesem Hintergrund sind die Voraussetzungen für die mit der AFV einhergehende Grundrechtseinschränkung im Kanton Thurgau erfüllt; demzufolge sind die entsprechenden Aufzeichnungen im Rahmen der strafrechtlichen Beweiswürdigung zu verwerten.

Obergericht, 1. Abteilung, 25. Juni 2018, SBR.2018.10

Eine dagegen erhobene Beschwerde ist beim Bundesgericht hängig (6B_908/2018).


[1] Fasnacht, Basler Kommentar, Vor Art. 89a-t SVG N 9 f.; Keller, in: Kommentar zum Polizeigesetz des Kantons Zürich (Hrsg.: Donatsch/Jaag/Zimmerlin), Zürich/Basel/Genf 2018, Vorbem. zu § 51-54b N 8; BGE vom 6. Juni 2016, 6B_1143/2015, Erw. 1.3.4; Art. 36 BV

[2] Bundesgesetz über den Datenschutz vom 19. Juni 1992, SR 235.1

[3] Kanton Thurgau: Gesetz über den Datenschutz vom 9. November 1987, RB 170.7

[4] Fasnacht, Vor Art. 89 a-t SVG N 7; vgl. Keller, § 52 PolG ZH N 3

[5] Art. 3 lit. e DSG; § 2 Abs. 1 und § 3 Abs. 3 DSG TG

[6] Fasnacht, Vor Art. 89 a-t SVG N 9; Art. 17 DSG; § 4 Abs. 1 und 4 DSG TG

[7] § 3 Abs. 1 und 2 Ziff. 5 DSG TG

[8] Fasnacht, Vor Art. 89 a-t SVG N 10; Art. 4 Abs. 2 DSG; § 4 Abs. 2 und 3 DSG TG

[9] SR 361

[10] Art. 2 BPI

[11] Art. 15 Abs. 1 lit. e BPI

[12] Botschaft des Bundesrats zum Bundesgesetz über die polizeilichen Informationssysteme des Bundes vom 24. Mai 2006, BBl 2006 S. 5079

[13] "Kantonspolizei"

[14] "geeignete Datenbearbeitungssysteme und Registraturen"

[15] "ausschliesslich […] für die Kontrolle des Strassen- und Schiffsverkehrs"

[16] Vgl. Fasnacht, Vor Art. 89a-t SVG N 9

[17] So werden "Treffer" nur bis zur Bearbeitung, längstens jedoch für 30 Tage, gespeichert (vgl. "Gesamtkonzept AFV" [Version 1.4] vom 19. Mai 2015, Ziff. 3.4.3.1 und 4.6.2).

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