Skip to main content

RBOG 2019 Nr. 12

Die Verweigerung der Akteneinsicht ist in einer anfechtbaren Verfügung zu begründen; Gründe für die Verweigerung der Akteneinsicht


Art. 101 StPO


1. a) Die Staatsanwaltschaft eröffnete im Mai 2018 eine Strafuntersuchung gegen X wegen des Verdachts der Veruntreuung. Im Juni und August 2018 sowie im Mai 2019 dehnte sie die Untersuchung auf weitere Sachverhalte[1] aus.

b) X ersuchte im Juli 2019 die Staatsanwaltschaft um Zustellung sämtlicher Verfahrensakten. Diese gewährte ihm im Juli 2019 teilweise Einsicht in die Akten, namentlich in den Ermittlungsbericht der Kantonspolizei sowie in einen Bundesordner "Beilagen zur Beschwerdeantwort"[2]. Die vollständige Akteneinsicht könne nicht bewilligt werden, zumal die staatsanwaltschaftliche Erhebung der wichtigsten Beweise noch nicht abgeschlossen sei. Im August 2019 beantragte X erneut vollständige Akteneinsicht. Die Staatsanwaltschaft verwies auf ihr Schreiben vom Juli 2019.

c) X erhob Beschwerde und beantragte, die Staatsanwaltschaft sei anzuweisen, ihm vollständige Akteneinsicht zu gewähren.

2. a) Das Akteneinsichtsrecht bildet einen wesentlichen Bestandteil des rechtlichen Gehörs[3] und wird für hängige Verfahren in Art. 101 f. StPO geregelt. Gemäss Art. 101 Abs. 1 StPO haben die Parteien spätestens nach der ersten Einvernahme der beschuldigten Person und der Erhebung der übrigen wichtigsten Beweise durch die Staatsanwaltschaft unter Vorbehalt von Art. 108 StPO Anspruch auf Akteneinsicht. Nach Art. 102 Abs. 1 StPO entscheidet die Verfahrensleitung über die Akteneinsicht, wobei sie die erforderlichen Massnahmen trifft, um Missbräuche und Verzögerungen zu verhindern und berechtigte Geheimhaltungsinteressen zu schützen.

b) Erste Voraussetzung zur Ausübung des Einsichtsrechts ist die Durchführung der ersten Einvernahme der beschuldigten Person. Diese kann sich bei umfangreichen Sachverhalten über mehrere Einvernahmetermine erstrecken, sofern diese notwendig sind, um die beschuldigte Person zu sämtlichen zu untersuchenden Sachverhalten erstmals zu befragen. Bei der ersten Einvernahme handelt es sich um eine solche der Staatsanwaltschaft, weshalb im selbstständigen polizeilichen Ermittlungsverfahren kein Akteneinsichtsrecht besteht[4]. Die Voraussetzung der durchgeführten ersten Einvernahme ist auch gegeben, wenn die beschuldigte Person die Aussage verweigert[5].

c) aa) Weitere Voraussetzung ist die Erhebung der übrigen wichtigsten Beweise durch die Staatsanwaltschaft. Dabei geht es namentlich um die Einvernahme von Hauptbelastungszeugen, die Edition von relevanten Bankunterlagen, das Einholen kriminaltechnischer Berichte oder rechtsmedizinischer Gutachten über entscheidwesentliche Tatfragen oder die Durchführung einer Fotokonfrontation[6].

bb) Die Ansichten darüber, wann diese Voraussetzung erfüllt ist, unterscheiden sich je nach Interessenlage, insbesondere der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung[7]. Wenn die entsprechenden Beweismassnahmen neue, für die Frage der Täterschaft relevante Sachverhaltselemente an den Tag fördern, muss es möglich sein, die beschuldigte Person hierzu zu befragen, bevor sie vom Inhalt der entsprechenden Akten Kenntnis erhält. Zur Erhebung der wichtigsten Beweise gehören daher auch weitere Einvernahmen der beschuldigten Person zu den neuen Beweismitteln. Je nach Anzahl und Umfang der neuen Beweismittel sowie des Zeitaufwands für deren Produktion kann die Befragung der beschuldigten Person durchaus längere Zeit in Anspruch nehmen oder erst zu einem späten Zeitpunkt während der Untersuchung erfolgen[8]. Gemäss der Praxis des Bundesgerichts gewährt die Staatsanwaltschaft Akteneinsicht nach pflichtgemässem Ermessen, wobei sie diese verweigern darf, wenn Kollusionsgefahr besteht. So war nicht zu beanstanden, dass die Untersuchungsbehörde die Akteneinsicht verweigerte, weil sie in einem Fall von vorsätzlicher Tötung oder Mord die Gefahr der Kollusion mit einem in Serbien lebenden Zeugen annahm, zumal es sich bei dieser Zeugenaussage um eines der wichtigsten Beweismittel handelte[9]. Ebenso zulässig war die Verweigerung der Akteneinsicht vor der Durchführung einer Konfrontation, die für die Beweisführung von entscheidender Bedeutung hätte sein können. Dabei betonte das Bundesgericht unter Hinweis auf BGE 137 IV 284, dass die offene Formulierung von Art. 101 Abs. 1 StPO alles in allem der Verfahrensleitung einen gewissen Beurteilungsspielraum verleihe, den es zu respektieren gelte[10].

cc) Fallen die entscheidenden Beweise sehr umfangreich aus, weil beispielsweise zahlreiche Dokumente oder Telefonabhörprotokolle vorzuhalten sind, akzeptiert das Gesetz folglich auch einen entsprechend langen Aufschub der Einsicht[11]. Allerdings steht die Möglichkeit einer so verursachten Verzögerung der Akteneinsicht in einem Spannungsverhältnis zum gesetzlich vorgesehenen Anspruch, die Akteneinsicht in einem möglichst frühen Verfahrensstadium zuzulassen. In diesem Fall ist es sinnvoll, wenn die Staatsanwaltschaft die Akteneinsicht nicht gänzlich verweigert, sondern in Anwendung des Verhältnismässigkeitsprinzips vorderhand auf die bereits vorgehaltenen Akten beschränkt. Sobald die erste Einvernahme mit Bezug auf die neuen Aktenteile erfolgt ist, können auch diese der beschuldigten Person zugänglich gemacht werden[12]. Jedenfalls kann die Akteneinsicht mit Bezug auf Dokumente nicht verweigert werden, welche die Partei bereits kennt, wie etwa Protokolle eigener Einvernahmen sowie Protokolle von Untersuchungshandlungen, an denen die Partei hätte teilnehmen dürfen, oder bezüglich der von ihr selbst eingereichten Beweismittel. In allgemeiner Form lässt sich sagen, dass der Entscheid der Staatsanwaltschaft des Augenmasses bedarf und übermässige Zurückhaltung bei der Gewährung der Akteneinsicht nicht am Platz ist. Es ist zu berücksichtigen, dass nicht nur eine möglichst ungestörte Untersuchung, sondern auch eine wirkungsvolle Verteidigung zur Wahrheitsfindung beiträgt[13].

dd) Es ist Sache der Staatsanwaltschaft, zu behaupten, dass sie die übrigen wichtigsten Beweise noch nicht habe erheben können. Will sie sich auf Art. 101 Abs. 1 StPO berufen, muss sie glaubhaft darlegen, welche Beweise noch zu erheben sind und weshalb sie noch nicht erhoben wurden oder werden konnten. Aus ermittlungstaktischen Gründen kann allerdings von der Staatsanwaltschaft nicht verlangt werden, im Rahmen des Glaubhaftmachens sämtliche Details preiszugeben[14].

3. a) aa) Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft hat eine Partei Anspruch auf eine anfechtbare Verfügung, wenn die Staatsanwaltschaft das Akteneinsichtsrecht verweigern oder einschränken will. Dies ergibt sich daraus, dass das Akteneinsichtsrecht ein in Verfassung und Gesetz verankerter Anspruch der Verfahrensbeteiligten und mithin des Beschuldigten ist. Die Gewährung der Akteneinsicht ist als Bestandteil des Anspruchs auf rechtliches Gehör ein Verfahrensgrundsatz. Die Gewährung der vollständigen Akteneinsicht ist somit der Regelfall, und die Staatsanwaltschaft hat glaubhaft darzulegen, wenn sie davon abweichen will. Sie hat folglich aufzuzeigen, dass und weshalb die Voraussetzungen von Art. 101 Abs. 1 StPO (noch) nicht erfüllt sind. Es handelt sich dabei um eine Verfügung über die Nichtgewährung beziehungsweise über den Umfang der Akteneinsicht und nicht um eine blosse Verfahrenshandlung. Eine solche Verfügung ist zu begründen. Zudem ist sie mit einer Rechtsmittelbelehrung zu versehen, wobei bei deren Fehlen die Verfügungsqualität nicht dahinfällt; vielmehr dürfen zumindest der nicht anwaltlich vertretenen Partei aus einer fehlenden Rechtsmittelbelehrung keine Nachteile erwachsen. Von einer blossen Ver­fahrenshandlung könnte allenfalls ausgegangen werden, wenn die Staatsanwaltschaft - von sich aus oder auf Gesuch hin - die Akten der Partei ohne weiteres vollständig zur Einsicht zustellt.

bb) Aus dem Verweis der Staatsanwaltschaft auf ihre Aufforderung an den Beschwerdeführer in ihrem Schreiben vom Juli 2019, für ergänzende Akteneinsicht werde um ein entsprechend spezifiziertes Ersuchen gebeten, kann sie nichts zu ihren Gunsten ableiten. Die Staatsanwaltschaft darf die Gewährung der Akteneinsicht nicht von einem spezifizierten Gesuch abhängig machen. Das hätte zur Folge, dass der Beschuldigte - im besten Fall gestützt auf ein Aktenverzeichnis - begründen müsste, weshalb welche einzelnen Aktenstücke aus welchen Gründen zu eröffnen seien. Dazu wird ein Beschuldigter indessen kaum in der Lage sein, weil er die Akten nicht kennt. Es genügt daher, wenn der Beschuldigte unspezifisch um Einsicht in die Akten ersucht. Wenn die Staatsanwaltschaft die Akteneinsicht nicht (vollständig) gewähren will, hat sie diese mit einer begründeten, anfechtbaren Verfügung zu beschränken oder zu verweigern.

b) Die Staatsanwaltschaft stellte dem Beschwerdeführer im Juli 2019 den Ermittlungsbericht der Kantonspolizei und einen Bundesordner "Beilagen zur Beschwerdeantwort" zu. Zudem teilte sie ihm mit, da die Erhebung der wichtigsten Beweise noch nicht abgeschlossen sei, könne ihm beim aktuellen Verfahrensstand keine vollständige Akteneinsicht gewährt werden, und verwies auf Art. 101 Abs. 1 StPO. Es fehlt damit an einer hinreichenden Begründung der Einschränkung der Akteneinsicht. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Schreiben der Staatsanwaltschaft vom August 2019. Dieses enthält zwar eine genügend konkrete Begründung in Bezug auf die neuen Tatvorwürfe gemäss der Ausdehnungsverfügung vom Juni 2019, die dem Beschwerdeführer damals noch nicht bekannt waren. Diesbezüglich gab die Staatsanwaltschaft an, sie bejahe einen Anfangsverdacht und habe die Kantonspolizei zwecks Abklärung der neuen Tatvorwürfe mit entsprechenden Ermittlungen beauftragt. Zur Einsicht in die anderen, nicht von dieser Ausdehnung des Verfahrens betroffenen Akten machte die Staatsanwaltschaft indessen wiederum keine konkreten Angaben, weshalb es auch in diesem Schreiben an einer hinreichenden Begründung der Einschränkung der Akteneinsicht mangelt. Der Beschwerdeführer konnte gestützt auf die Schreiben vom Juli und August 2019 somit nicht erkennen, welche Beweise die Staatsanwaltschaft noch erheben will und weshalb sie diese noch nicht erheben konnte. Es war ihm folglich nicht möglich, dagegen eine Beschwerde mit konkreten Rügen zu den einzelnen Einschränkungen der Akteneinsicht zu erheben. Es liegt demnach eine Verletzung des rechtlichen Gehörs des Beschwerdeführers vor. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist formeller Natur. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs führt ungeachtet der Erfolgs­aussichten der Beschwerde in der Sache selbst zur Aufhebung der angefochtenen Verfügung[15]. Eine Heilung des Mangels im Beschwerdeverfahren kommt nicht in Betracht, da das Obergericht nicht abschliessend beurteilen kann, in welche Akten (noch) keine Einsicht gewährt werden kann. Im Übrigen erscheint es auch nicht angezeigt, eine Begründung der Verfügung im Beschwerdeverfahren nachholen zu lassen; dies würde Beschwerdeverfahren bewirken, die durch die Begründung der ursprünglichen Verfügung hätten vermieden werden können. Dementsprechend ist die Beschwerde zu schützen und die Sache zur Neubeurteilung des Akteneinsichtsgesuchs mit hinreichender Begründung an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen.

4. Selbst wenn die im Beschwerdeverfahren nachgelieferte Begründung der Staatsanwaltschaft zur Heilung der Verletzung des rechtlichen Gehörs geführt hätte, wäre die Beschwerde zu schützen gewesen. Die nachgereichte Begründung reicht sowohl unter zeitlichen als auch unter inhaltlichen Aspekten nicht aus, um die von der Staatsanwaltschaft verfügte Einschränkung der Akteneinsicht zu rechtfertigen.

a) aa) Materiell begründet die Staatsanwaltschaft die Einschränkung der Akteneinsicht in der Beschwerdeantwort damit, der Beschwerdeführer sei zu den neuesten Vorwürfen der Veruntreuung (eventuell des Betrugs) beziehungsweise der (neuerlichen) Geldwäscherei noch nicht befragt worden.

bb) Die Staatsanwaltschaft erfasste diesen neuen Vorwurf in der Ausdehnungsverfügung vom Juni 2019. Er basiert auf der Geldwäscherei-Verdachtsmeldung einer Bank sowie der Weiterleitung der Verdachtsmeldung durch die Meldestelle für Geldwäscherei (MROS). Der Einwand der noch nicht erfolgten Befragung des Beschwerdeführers ist nur für die Verweigerung der Einsicht in Akten stichhaltig, die zu diesem neuen Sachverhaltskomplex beziehungsweise Tatvorwurf gehören. Für die Verweigerung der Einsicht in Akten, die zu anderen – früheren – Sachverhalten gehören, kann sich die Staatsanwaltschaft nicht darauf berufen. Es ist nicht nachvollziehbar, inwiefern der Untersuchungszweck in Bezug auf diese früheren Sachverhalte gefährdet wäre, wenn die Staatsanwaltschaft dem Beschwerdeführer Einsicht in diese Akten gewährt, soweit die erste Einvernahme durchgeführt und die übrigen wichtigsten Beweise erhoben wurden. Die Voraussetzungen von Art. 101 Abs. 1 StPO sind für jeden in sich geschlossenen Sachverhaltskomplex gesondert zu beurteilen. So ist es durchaus denkbar, dass die Voraussetzungen für die Akteneinsicht in Bezug auf einen Sachverhaltskomplex gegeben, in Bezug auf einen anderen jedoch noch nicht erfüllt sind. Dass der neuste Sachverhaltskomplex gemäss der Ausdehnungsverfügung vom Juni 2019 mit den früheren Sachverhaltskomplexen zusammenhängt und die Akteneinsicht in letztere daher den Untersuchungszweck gefährden würde, macht die Staatsanwaltschaft nicht geltend und ist im Übrigen auch nicht ersichtlich.

b) aa) Alsdann bringt die Staatsanwaltschaft unter dem Aspekt der "übrigen wichtigsten Beweise" vor, bislang habe weder eine Konfrontationseinvernahme mit den beiden Mitbeschuldigten durchgeführt werden können noch sei es möglich gewesen, die allenfalls nötigen weiteren Personalbeweise zu erheben. Sie verweist dazu auf ihren letzten Abschnitt zum Thema "Verfahrensstand". Dort führt die Staatsanwaltschaft aus, das Verfahren sei vergleichsweise aufwendig, und weder der Beschwerdeführer noch die Mitbeschuldigte habe bislang zu allen Tatvorwürfen im Einzelnen befragt werden können. Ausserdem hätten die beiden Beschuldigten mit den widersprüchlichen Aussagen des anderen noch nicht konfrontiert werden können. Ebenso wenig hätten die übrigen wichtigsten Beweise bislang vollständig erhoben werden können. Dabei sei insbesondere an Personalbeweise zu denken, konkret an die Einvernahmen der jeweils geschädigten Personen oder weiterer Zeugen.

bb) Die Staatsanwaltschaft eröffnete die Strafuntersuchung gegen den Beschwerdeführer im Mai 2018. Aus dem Aktenverzeichnis ergibt sich, dass der Eröffnung ein polizeiliches Ermittlungsverfahren vorausging. Laut der Eröffnungsverfügung wird der Beschwerdeführer verdächtigt, Leasinggegenstände veruntreut zu haben. Im Juni und August 2018 wurde die Untersuchung jeweils auf neue Sachverhalte beziehungsweise Tatvorwürfe ausgedehnt. Laut Staatsanwaltschaft wurden die umfangreichen Ermittlungen durch die Polizei mit dem Ermittlungsbericht im Mai 2019 grundsätzlich abgeschlossen. Dem Aktenverzeichnis ist zu entnehmen, dass bis dahin zwei Hausdurchsuchungen stattfanden und eine Grundbuchsperre verfügt wurde. Zudem wurden diverse Editionen veranlasst und eine Beschlagnahme durchgeführt. Die Kantonspolizei oder die Staatsanwaltschaft befragten den Beschwerdeführer und weitere Personen. Ferner holte die Staatsanwaltschaft einen schriftlichen Bericht ein.

cc) Eine Konfrontationseinvernahme zwischen dem Beschwerdeführer und der mitbeschuldigten Ehefrau fand zwar noch nicht statt. Auch darf mit einer Konfrontationseinvernahme eine gewisse Zeit zugewartet werden, um aus Untersuchungshandlungen gewonnene Erkenntnisse in der Konfrontationseinvernahme verwenden zu können. Es rechtfertigt sich jedoch nicht, die Konfrontationseinvernahme beliebig lange aufzuschieben, um damit eine Verweigerung der Akteneinsicht zu begründen[16]. Im Zeitpunkt des Akteneinsichtsgesuchs lag die Eröffnung der Strafuntersuchung gegen den Beschwerdeführer bereits über ein Jahr zurück, und der abschliessende Ermittlungsbericht der Kantonspolizei befand sich schon einige Monate bei den Akten. Es ist daher kein Grund ersichtlich, weshalb die Staatsanwaltschaft mit der Konfrontationseinvernahme noch zuwartete. Insofern kann die ausstehende Konfrontationseinvernahme nicht als Begründung für die Einschränkung der Akteneinsicht herangezogen werden. Das gilt grundsätzlich ebenso für die Einvernahmen von Geschädigten sowie der übrigen von der Staatsanwaltschaft genannten Personen. Unter diesen Umständen müsste die Staatsanwaltschaft nachvollziehbar begründen, weshalb die von ihr genannten Einvernahmen noch nicht stattfanden und inwiefern diese Beweisabnahmen angesichts der bereits erfolgten Untersuchungshandlungen übrige wichtigste Beweise darstellen. Art. 101 Abs. 1 StPO stellt auf die Erhebung der übrigen "wichtigsten" Beweise ab. Das Gesetz verlangt unter dem Aspekt der Gewährung der Akteneinsicht somit mehr als lediglich "wichtige" Beweise; noch nicht abgenommene "wichtige" Beweise gelten nicht als Verweigerungsgrund, sondern nur die "wichtigsten" Beweise. Die Argumentation der Staatsanwaltschaft lässt tendenziell darauf schliessen, dass sie Akteneinsicht erst nach mehr oder weniger vollständig abgeschlossener Voruntersuchung gewähren will. Das war indessen der Zustand in verschiedenen Kantonen vor Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung, und diesen Zustand wollte der Gesetzgeber in der Schweizerischen Strafprozessordnung ändern. Die Begründung der Staatsanwaltschaft in der Beschwerdeantwort erweist sich folglich als nicht hinreichend, um die Gewährung der Akteneinsicht im bisher bescheidenen Umfang (Einsicht in einen Bundesordner, den Ermittlungsbericht und ein im Beschwerdeverfahren eingereichtes Mäppchen) und die Verweigerung der Akteneinsicht für die gesamten übrigen Akten (gesamthaft sieben Bundesordner) zu rechtfertigen.

c) Somit geht die von der Staatsanwaltschaft bisher gewährte Akteneinsicht zu wenig weit. Demgegenüber erscheint die Verweigerung der Akteneinsicht in Bezug auf den neuesten Tatvorwurf als gerechtfertigt. In welchem Umfang die Einsicht in die übrigen Akten bezüglich der früheren Sachverhalte beziehungsweise Tatvorwürfe noch angebracht ist, kann das Obergericht derzeit nicht abschliessend beurteilen, da ihm nicht die vollständigen Akten vorliegen und es somit nicht den gesamten Fall kennt. Die Staatsanwaltschaft hat das Akteneinsichtsgesuch daher nunmehr anhand der dargelegten Grundsätze neu zu prüfen und ihren Entscheid in einer anfechtbaren Verfügung konkret zu begründen.

Obergericht, 2. Abteilung, 13. November 2019, SW.2019.115


[1] Betreffend ungetreue Geschäftsbesorgung, Unterlassung der Buchführung, Betrug, Erschleichen einer falschen Beurkundung, Misswirtschaft und Geldwäscherei

[2] Es handelt sich um ein anderes, durch Rückzug erledigtes Beschwerdeverfahren.

[3] Art. 107 Abs. 1 lit. a StPO; vgl. Art. 29 Abs. 2 und 32 Abs. 2 BV sowie Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO; in der EMRK (und im UNO-Pakt II) ist das Akteneinsichtsrecht nicht als eigenständiger Anspruch aufgeführt, sondern lässt sich aus dem Recht auf ein faires Verfahren und dem Recht auf ausreichende Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung ableiten; Schmutz, Basler Kommentar, 2.A., Art. 101 StPO N. 1.

[4] Schmutz, Art. 101 StPO N. 14

[5] Brüschweiler, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Hansjakob/Lieber), 2.A., Art. 101 N. 4

[6] Schmutz, Art. 101 StPO N. 15

[7] Brüschweiler, Art. 101 StPO N. 6

[8] Schmutz, Art. 101 StPO N. 15

[9] BGE vom 30. August 2011, 1B_326/2011, Erw. 2.3

[10] BGE vom 7. Februar 2012, 1B_597/2011, Erw. 2.2; zum Ganzen RBOG 2013 Nr. 25 Erw. 5b.aa

[11] Schmid/Jositsch, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 3.A., Art. 101 N. 4

[12] Schmutz, Art. 101 StPO N. 15

[13] Schmutz, Art. 101 StPO N. 16

[14] RBOG 2013 Nr. 25 Erw. 5b.bb

[15] BGE 126 V 132; Lieber, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Hansjakob/Lieber), 2.A., Art. 107 N. 2a

[16] Vgl. Schmid/Jositsch, Art. 101 StPO N. 4

JavaScript errors detected

Please note, these errors can depend on your browser setup.

If this problem persists, please contact our support.