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RBOG 2019 Nr. 13

Zu kurzfristige Ankündigung einer Einvernahme; unzulässiger Beizug einer Pikett-Verteidigung als Ersatz für die bestehende (amtliche) Verteidigung


Art. 107 StPO, Art. 133 f StPO, Art. 147 StPO, Art. 149 StPO, Art. 202 f StPO


1. Die Staatsanwaltschaft führt gegen A eine Strafuntersuchung wegen Widerhandlungen gegen das Ausländergesetz und verdächtigt ihn, unter anderem auch B geschleust zu haben. Im November 2018 eröffnete die Staatsanwaltschaft eine Strafuntersuchung gegen B wegen rechtswidriger Einreise und verfügte am Vormittag des 30. April 2019, dass B am selben Nachmittag einvernommen werde; dem Beschuldigten A und seinem Verteidiger Rechtsanwalt X beziehungsweise einem Pikett-Verteidiger werde das Teilnahmerecht an dieser Einvernahme im Übertragungsraum, ohne direkte Gegenüberstellung, gewährt. Dagegen erhob A Beschwerde und beantragte, die Einvernahme von B vom 30. April 2019 sei aus den Akten zu weisen. Die Staatsanwaltschaft beantragte, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, eventuell sei sie abzuweisen.

2. a) Die Staatsanwaltschaft beantragt, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten. Es frage sich, ob der Beschwerdeführer überhaupt beschwert sei. Gegen die beiden Beschuldigten würden getrennte Verfahren geführt; mit der Einvernahme von B gehe es einzig um die Wahrung des Konfrontationsanspruchs des Beschwerdeführers nach Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK. Die Einvernahme könne grundsätzlich wiederholt werden, was der Beschwerdeführer bisher nicht verlangt habe.

b) Am 11. April 2019 fand im Strafverfahren gegen B wegen dessen rechtswidriger Einreise eine delegierte Einvernahme statt, in welcher B den Beschwerdeführer (und einen Mitbeschuldigten) belastete. Gemäss den Angaben der Staatsanwaltschaft sei eine zweite Einvernahme von B angeordnet worden, weil dem Beschwerdeführer mindestens einmal im Verfahren das Konfrontationsrecht nach EMRK gewährt werden müsse. Damit ist klar, dass die Einvernahme vom 30. April 2019 bewusst auch als Beweismittel im Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer verwendet werden sollte, zumal für das Strafverfahren gegen B wohl die Einvernahme vom 11. April 2019 genügt hätte. Entsprechend erging die angefochtene Verfügung vom 30. April 2019 im Verfahren gegen den Beschwerdeführer, und er ist darin als "beschuldigte Person" bezeichnet. Folglich ist der Beschwerdeführer berechtigt, die Verletzung seiner Teilnahmerechte mit Beschwerde zu rügen. Dies gilt auch, wenn die Staatsanwaltschaft zwei getrennte Verfahren führt, was gemäss Staatsanwaltschaft bisher von keiner Partei angefochten wurde.

c) Der Einwand der Staatsanwaltschaft, der Beschwerdeführer habe die Wiederholung der Einvernahme nicht beantragt, ist unbehelflich. Wie sich aus den Akten ergibt, plante die Staatsanwaltschaft die strittige Einvernahme detailliert und war entschlossen, sie auf jeden Fall am festgesetzten Termin durchzuführen, unabhängig davon, ob der Verteidiger des Beschwerdeführers daran teilnehmen konnte. Für den Fall, dass dieser verhindert sein sollte, bereitete sie vielmehr den Einsatz eines "Pikett-Verteidigers" vor. Die Staatsanwaltschaft führte nach dem Protest der Verteidigung die Einvernahme wie geplant mit dem Pikett-Verteidiger durch; ihrer Auffassung nach konnte der Beschwerdeführer dadurch sein Teilnahmerecht ausüben. Unter diesen Umständen ist auf die Beschwerde einzutreten, obwohl der Beschwerdeführer keinen förmlichen Antrag auf Wiederholung der Einvernahme stellte. Abgesehen davon wurde mit dem Antrag auf Unverwertbarkeit dieser Einvernahme im Beschwerdeverfahren zumindest implizit eine Wiederholung der Einvernahme beantragt.

3. a) Die Staatsanwaltschaft begründet ihren Nichteintretensantrag auch damit, es liege nicht an der Beschwerdeinstanz, die Verwertbarkeit von Beweisen zu prüfen, sondern am Sachrichter.

b) Gemäss konstanter Praxis des Obergerichts kann grundsätzlich bereits im Vorverfahren ein Interesse bestehen, die Unverwertbarkeit eines Beweisstücks festzustellen und dieses aus den Akten zu entfernen. Der Umstand, dass der endgültige Entscheid über die Verwendung des Beweismittels gemäss Art. 141 Abs. 5 StPO nicht vor dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens erfolgt[1] und der Sachrichter an den Entscheid der Beschwerdeinstanz auch nicht gebunden ist, ändert daran nichts. Auch wenn die Möglichkeit besteht, dass die Aktenstücke auf einen allfälligen Beweisantrag einer Partei hin doch noch zur Kenntnis des Sachgerichts kommen und verwendet werden könnten, wird doch die Wahrscheinlichkeit der Verwendung und die Beeinflussung des Verfahrens mit einer frühzeitigen Entfernung aus den Akten wesentlich gemindert, was für die Bejahung des Rechtsschutzinteresses ausreicht. Im Übrigen geht auch das Bundesgericht davon aus, die kantonale Beschwerdeinstanz könne während des Vorverfahrens ein Beweismittel als unverwertbar erachten und seine Entfernung aus den Akten anordnen[2]. Anzufügen bleibt, dass es im Interesse aller Parteien liegt, dass ein Strafverfahren nicht wegen eines unverwertbaren Beweises möglicherweise in eine falsche Richtung geht. Im Übrigen liegt – wie nachfolgend dargelegt – in der rechtswidrigen Ersetzung des amtlichen Verteidigers durch einen sogenannten "Pikett-Verteidiger", um den Anschein einer ordnungsgemässen Teilnahme des Beschwerdeführers zu wahren, eine krasse Verletzung der Rechte des Beschuldigten, welche die Feststellung der Unverwertbarkeit im Vorverfahren ohne weiteres rechtfertigt.

4. a) Materiell ist strittig, ob die staatsanwaltschaftliche Einvernahme von B vom 30. April 2019 im Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer verwertbar ist, obwohl daran weder der Beschwerdeführer selber noch dessen Verteidiger, sondern nur ein von der Staatsanwaltschaft eingesetzter "Pikett-Verteidiger" teilnahm.

b) aa) Gemäss Art. 104 Abs. 1 lit. a StPO ist die beschuldigte Person Partei im Strafverfahren und hat folglich gestützt auf Art. 107 Abs. 1 StPO Anspruch auf rechtliches Gehör. Dazu gehört insbesondere das Recht, Akten einzusehen[3] und an Verfahrenshandlungen teilzunehmen[4]. Bei Einvernahmen, welche die Polizei im Auftrag der Staatsanwaltschaft durchführt, haben die Verfahrensbeteiligten die Verfahrensrechte, die ihnen bei Einvernahmen durch die Staatsanwaltschaft zukommen[5]. Die Strafbehörden können das rechtliche Gehör einschränken, wenn der begründete Verdacht besteht, dass eine Partei ihre Rechte missbraucht[6] oder dies für die Sicherheit von Personen oder zur Wahrung öffentlicher oder privater Geheimhaltungsinteressen erforderlich ist[7].

bb) Nach Art. 147 Abs. 1 StPO haben die Parteien das Recht, bei Beweiserhebungen durch die Staatsanwaltschaft und die Gerichte anwesend zu sein und einvernommenen Personen Fragen zu stellen. Neben der Partei hat auch der jeweilige Rechtsbeistand ein Teilnahmerecht[8]. Die Partei oder ihr Rechtsbeistand können gestützt auf Art. 147 Abs. 3 StPO die Wiederholung der Beweiserhebung verlangen, wenn der Rechtsbeistand oder die Partei ohne Rechtsbeistand aus zwingenden Gründen an der Teilnahme verhindert waren. Auf eine Wiederholung kann verzichtet werden, wenn sie mit unverhältnismässigem Aufwand verbunden wäre und dem Anspruch der Partei auf rechtliches Gehör, insbesondere dem Recht, Fragen zu stellen, auf andere Weise Rechnung getragen werden kann. Gemäss Art. 147 Abs. 4 StPO dürfen Beweise, die in Verletzung der Bestimmungen dieses Artikels erhoben worden sind, nicht zulasten der Partei verwertet werden, die nicht anwesend war.

c) aa) Das Recht auf Teilnahme umfasst auch den Anspruch auf rechtzeitige Benachrichtigung. Der Termin der Beweiserhebung ist den Anwesenheitsberechtigten so früh wie möglich mitzuteilen, damit sie ihr Anwesenheitsrecht ausüben können[9]. Eine eigentliche Terminabsprache ist aber nicht erforderlich[10]. Wer sein Teilnahmerecht geltend macht, kann daraus sodann nach Art. 147 Abs. 2 StPO keinen Anspruch auf Verschiebung der Beweiserhebung ableiten.

bb) Für die Bemessung der Mindestfrist ist die Regelung in Art. 202 f. StPO bezüglich der Vorladungen beizuziehen[11]. Gemäss Art. 202 Abs. 1 lit. a StPO werden Vorladungen im Vorverfahren mindestens drei Tage vor der Verfahrenshandlung zugestellt. Bei der Festlegung des Zeitpunkts wird auf die Abkömmlichkeit der vorzuladenden Personen angemessen Rücksicht genommen[12]. Mit dem Begriff "angemessen" wird zum Ausdruck gebracht, dass bei der terminlichen Festsetzung der Verfahrenshandlung im Spannungsfeld zwischen den Bedürfnissen der vorladenden Behörde und ihren Funktionärinnen und Funktionären, den sich aus dem Strafverfahren selbst ergebenden Bedürfnissen und den Bedürfnissen aller vorzuladenden Personen, welche gegeneinander abzuwägen sind, zu entscheiden ist[13].

cc) Gestützt auf Art. 203 Abs. 1 StPO kann eine Vorladung in anderer als der vorgeschriebenen Form in dringenden Fällen oder mit dem Einverständnis der vorzuladenden Person mit abgekürzten Fristen ergehen. Wer sich am Ort der Verfahrenshandlung oder in Haft befindet, kann nach Art. 203 Abs. 2 StPO sofort und ohne Vorladung einvernommen werden. Ob ein Fall als dringend im Sinn von Art. 203 Abs. 1 lit. a StPO zu qualifizieren ist, beurteilt sich nach der Natur der Strafsache[14]. Von einer Dringlichkeit ist namentlich in Haftfällen, in denen ein rasches Handeln geboten ist, auszugehen[15].

d) aa) Die Staatsanwaltschaft orientierte gemäss ihrer Aktennotiz vom 30. April 2019 den Verteidiger des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt X, am 30. April 2019, etwa 10.45 Uhr, per Fax darüber, dass B am selben Nachmittag, um 14.00 Uhr, staatsanwaltlich einvernommen werde und der Verteidiger und sein Mandant bei dieser Beweisabnahme ein Teilnahmerecht hätten. Überdies seien dem Verteidiger die Akten zum Sachverhalt per Fax übermittelt worden. Während der Übermittlung der Akten per Fax habe die Verfahrensleitung den Verteidiger telefonisch kontaktiert, um ihn zusätzlich mündlich über die Beweisabnahme an diesem Nachmittag zu orientieren und sicherzustellen, dass die amtliche Verteidigung von der Beweisabnahme und der Übermittlung der Akten per Fax Kenntnis habe. Der amtliche Verteidiger habe angegeben, mit der kurzfristigen Information dieser Beweisabnahme nicht einverstanden zu sein. Die Verfahrensleitung habe dies zur Kenntnis genommen und habe ausgeführt, dass die Beweisabnahme nicht vorher habe bekannt gegeben werden können, da B polizeilich habe zugeführt werden müssen. Die Verfahrensleitung habe angekündigt, dass ein Pikett-Verteidiger aufgeboten werde und Rechtsanwalt X seinen Mandanten über die Beweisabnahme orientieren und der Verfahrensleitung eine Rückmeldung machen solle. Eine Rückmeldung von Rechtsanwalt X sei ausgeblieben.

bb) Damit ist erstellt, dass der amtliche Verteidiger des Beschwerdeführers erst zwischen 10.45 Uhr und 11.00 Uhr über die gleichentags um 14.00 Uhr stattfindende Einvernahme orientiert worden war, also lediglich rund drei Stunden vor der Einvernahme. Mit einer derart kurzen Frist war die effektive Ausübung des Teilnahmerechts für den Verteidiger nicht möglich, denn diese setzt eine minimale Vorbereitungszeit voraus, in welcher anhand der eigenen Akten, der amtlichen Akten und eines Gesprächs mit dem Mandanten geprüft werden kann, worum es gehen könnte und wie gegebenenfalls reagiert werden soll und kann. Dazu kommt, dass hier noch der Anfahrtsweg von der Kanzlei des Verteidigers in Zürich bis zum Ort der Einvernahme zu berücksichtigen war.

e) Die Staatsanwaltschaft erklärt ihr Vorgehen zunächst damit, dass aufgrund des Asylstatus von B unklar gewesen sei, wie lange dieser verfügbar bleiben würde. Dies vermag eine solch kurzfristige Information für die Einvernahme jedoch nicht zu rechtfertigen. Auch wenn das Asylgesuch von B allenfalls abgelehnt wird und er die Schweiz zu verlassen hat, so war nicht damit zu rechnen, dass die Ausschaffung sofort erfolgen würde. Folglich hätte die strittige Einvernahme auch ein paar Tage oder eine bestimmte Zeit nach dem in Aussicht genommenen Termin stattfinden können. Zudem geht aus den Akten hervor, dass die Staatsanwaltschaft bereits am 25. April 2019 einen Vorführungsbefehl gegen B erlassen und am selben Datum auch die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich über Untersuchungshandlungen informiert hatte. Zumindest zu diesem Zeitpunkt hätte sie daher auch den Verteidiger des Beschwerdeführers orientieren können.

f) aa) Die Staatsanwaltschaft bringt für die kurzfristige Benachrichtigung auch sachliche Gründe vor. Es habe das konkrete Risiko bestanden, dass der Beschwerdeführer – wie in diesen Kreisen üblich und gerichtsnotorisch – bei vorangekündigter Beweisabnahme B derart einschüchtern würde, dass dieser nicht mehr zur Einvernahme erscheine oder aber keine Aussage mache. Daher habe die Staatsanwaltschaft entschieden, B möglichst bald erneut vorzuführen und direkt staatsanwaltlich einzuvernehmen, ohne diese Beweisabnahme vor der tatsächlich erfolgten Festnahme von B dem Beschwerdeführer anzukündigen.

bb) Zwar sind die Anliegen der Staatsanwaltschaft berechtigt, und eine solche Einschränkung ist gestützt auf Art. 149 StPO, auf den sich die Staatsanwaltschaft ausdrücklich beruft, auch grundsätzlich möglich. Indessen muss die Verfahrensleitung gemäss Art. 149 Abs. 5 StPO auch unter diesem Aspekt bei allen Schutzmassnahmen für die Wahrung des rechtlichen Gehörs der Parteien, insbesondere der Verteidigungsrechte der beschuldigten Person, sorgen. Weiter sind Beschränkungen im Sinn von Art. 149 ff. StPO nur unter strenger Beachtung der Verhältnismässigkeit zulässig. Von den verschiedenen in Frage stehenden Schutzmassnahmen ist stets jene zu wählen, welche die Verfahrensrechte der dadurch allenfalls benachteiligten Partei am wenigsten tangiert. Aus Art. 108 Abs. 2 StPO folgt sodann, dass Beschränkungen, zu denen ein Verfahrensbeteiligter Anlass gibt, regelmässig nicht auf dessen Rechtsbeistand anwendbar sind[16].

cc) Die Staatsanwaltschaft hätte mit dem amtlichen Verteidiger frühzeitig Kontakt aufnehmen und einen Einvernahmetermin unter Berücksichtigung allfälliger zwingender Verpflichtungen des Verteidigers festsetzen können, ohne dem Verteidiger bereits zu jenem Zeitpunkt zu sagen, wer einvernommen werden solle. Die Staatsanwaltschaft hätte, wenn sie dies als erforderlich erachtet hätte, den Verteidiger sogar verpflichten können, seinen Mandanten erst ab einem bestimmten Zeitpunkt über die Einvernahme zu informieren. Den Namen der zu befragenden Person hätte die Staatsanwaltschaft in der Folge dem Verteidiger kurz vor dem Termin nennen können, so dass noch Zeit für eine genügende Vorbereitung geblieben wäre. Damit wäre sowohl den von der Staatsanwaltschaft gesetzten Zielen als auch den Beschuldigtenrechten Rechnung getragen worden.

5. a) Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft genügt für die Erfüllung des Teilnahmerechts des Beschuldigten und dessen Verteidigers der Beizug eines "Pikett-Verteidigers" durch die Staatsanwaltschaft nicht.

b) Gemäss Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK hat die beschuldigte Person das Recht, sich durch einen Rechtsvertreter oder eine -ver­treterin ihrer Wahl verteidigen zu lassen. Aus dieser Bestimmung ergibt sich auch ein Anspruch, dass die Behörde bei der Ernennung des amtlichen Verteidigers die Wünsche des Angeschuldigten berücksichtigt; diesen Anspruch hat der Bundesgesetzgeber in Art. 133 Abs. 2 StPO ausdrücklich geregelt[17]. Der Beschwerdeführer und Beschuldigte war und ist ordnungsgemäss durch Rechtsanwalt X amtlich verteidigt. Solange diese amtliche Verteidigung besteht und der Beschwerdeführer keinen Wahlverteidiger beizieht[18], ist der Beschwerdeführer auch nur durch diesen amtlichen Verteidiger ordnungsgemäss vertreten.

c) aa) Nach Art. 134 Abs. 1 StPO widerruft die Verfahrensleitung die amtliche Verteidigung, wenn der Grund für die amtliche Verteidigung dahingefallen ist; ein solcher Fall ist hier offensichtlich nicht gegeben. Ebenso wenig waren die Voraussetzungen für die Übertragung der amtlichen Verteidigung auf eine andere Person gemäss Art. 134 Abs. 2 StPO erfüllt; weder war das Vertrauensverhältnis zwischen dem Beschwerdeführer und seinem amtlichen Verteidiger erheblich gestört noch bestehen Hinweise darauf, dass der Beschwerdeführer durch Rechtsanwalt X nicht wirksam verteidigt war.

bb) Der Umstand, dass ein Verteidiger an einer (kurzfristig angesetzten) Einvernahme oder einer anderen Beweiserhebung nicht teilnehmen kann und diese daher allenfalls gestützt auf Art. 147 Abs. 3 StPO wiederholt werden muss, berechtigt die Staatsanwaltschaft nicht, gegen den Willen des Beschuldigten den bisherigen Verteidiger auszuwechseln oder einen (vorübergehenden) zweiten Verteidiger einzusetzen. Ansonsten hätte es die Staatsanwaltschaft in der Hand, sich mit kurzfristig angesetzten Beweiserhebungen eines missliebigen Verteidigers – sei dies ein amtlicher Verteidiger oder ein Wahlverteidiger – zu entledigen und "pro forma" einen ihr genehmen Anwalt einzusetzen, welcher ausserdem gar nicht in der Lage wäre, den Beschuldigten wirksam zu vertreten, weil er sich auf die Beweiserhebung gar nicht richtig hätte vorbereiten können.

d) aa) Rechtsanwalt Y, der an der fraglichen Einvernahme vom 30. April 2019 im Auftrag der Staatsanwaltschaft als "Ersatz-Verteidiger" des Beschwerdeführers teilnahm, wurde weder durch die Staatsanwaltschaft als amtlicher Verteidiger eingesetzt (dafür gab es, wie dargelegt, auch keine Rechtsgrundlage) noch wurde er vom Beschwerdeführer als Wahlverteidiger mandatiert. Er wusste auch genau, dass der Beschwerdeführer nicht ihn, sondern Rechtsanwalt X als rechtmässigen Verteidiger betrachtete, liess er doch anlässlich der Einvernahme "der guten Ordnung halber" festhalten, dass der Beschwerdeführer nicht an der Einvernahme teilgenommen habe, weil er davon ausgehe, dass diese aufgrund der bekannten Umstände nicht verwertbar sei, da seinem Verteidiger (Rechtsanwalt X) die Teilnahme faktisch verweigert worden sei. Daher erstaunt, dass Rechtsanwalt Y sich überhaupt – in Kenntnis, dass der Beschuldigte bereits ordnungsgemäss amtlich verteidigt war – als "Ersatz-Verteidiger" durch die Staatsanwaltschaft aufbieten liess. Zudem musste es ihm auch klar sein, dass er den Beschuldigten angesichts der Kurzfristigkeit seines Aufgebots gar nicht wirkungsvoll vertreten konnte.

bb) Im Übrigen fehlt für die Entschädigung[19] von Rechtsanwalt Y als "Pikett-Verteidiger" eine rechtliche Grundlage. Der amtliche Verteidiger kann aus Art. 29 Abs. 3 BV einen Anspruch auf Entschädigung und Rückerstattung seiner Auslagen herleiten; Rechtsgrundlage für die Entschädigung bildet somit das öffentlich-rechtliche Verhältnis zwischen Bund oder Kanton und amtlicher Verteidigung[20]. Rechtsanwalt Y wurde von der Staatsanwaltschaft nicht als amtlicher Verteidiger eingesetzt, denn der Beschwerdeführer verfügt schon über einen von ihm gewünschten amtlichen Verteidiger, welcher ihn wirksam verteidigt. Es ist ferner offensichtlich, dass Rechtsanwalt Y vom Beschwerdeführer nicht mandatiert wurde; das Pikettsystem ermöglicht die Akquirierung von Mandaten, doch kann der Anwalt die Mandatierung nicht erzwingen[21]. Auch § 13 Abs. 3 AnwT, der eine Kostenübernahme durch den Staat für einen Einsatz von höchstens fünf Stunden vorsieht, kommt als Grundlage nicht in Frage. Diese Bestimmung gilt nur für den Beizug eines Anwalts im Sinn von Art. 159 StPO ("Anwalt der ersten Stunde") auf Wunsch des Beschuldigten.

6. a) Zusammenfassend erfolgte die Einvernahme vom 30. April 2019 in Verletzung von Art. 147 StPO, weil der amtliche Verteidiger des Beschwerdeführers an dieser Einvernahme nicht teilnehmen konnte. Zudem verzichtete der Beschwerdeführer mit seiner Abwesenheit auch nicht auf sein Teilnahmerecht und dasjenige seiner Verteidigung[22], blieb er doch der Einvernahme fern, da er davon ausging, die Einvernahme sei nicht verwertbar, da seinem Verteidiger die Teilnahme faktisch verweigert worden sei. Ferner konnte der Beschwerdeführer auch nicht in gehöriger Weise durch Rechtsanwalt Y vertreten werden.

b) Folglich darf die strittige Einvernahme wegen Verletzung der Teilnahmerechte des Beschwerdeführers gestützt auf Art. 147 Abs. 4 StPO nicht zulasten des Beschwerdeführers verwertet werden. Entsprechend den Vorgaben von Art. 141 Abs. 5 StPO ist das Einvernahmeprotokoll daher aus den Strafakten des Verfahrens gegen den Beschwerdeführer zu entfernen, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens unter separatem Verschluss zu halten und danach zu vernichten. Die aus unverwertbaren Einvernahmen erlangten Erkenntnisse dürfen weder für die Vorbereitung noch für die Durchführung erneuter Beweiserhebungen verwendet werden[23].

Obergericht, 2. Abteilung, 19. Juli 2019, SW.2019.55


[1] BGE 141 IV 289 f.

[2] BGE 141 IV 292

[3] Art. 107 Abs. 1 lit. a StPO

[4] Art. 107 Abs. 1 lit. b StPO

[5] Art. 312 Abs. 2 StPO

[6] Art. 108 Abs. 1 lit. a StPO

[7] Art. 108 Abs. 1 lit. b StPO

[8] Wohlers, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Do­natsch/Hans­jakob/Lieber), 2.A., Art. 147 N. 4

[9] BGE 112 Ia 6; Schleiminger Mettler, Basler Kommentar, 2.A., Art. 147 StPO N. 9; Wohlers, Art. 147 StPO N. 7; Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, 3.A., N. 381; Schmid/Jositsch, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 3.A., N. 824

[10] Oberholzer, N. 381; Wohlers, Art. 147 StPO N. 7

[11] Vgl. Schleiminger Mettler, Art. 147 StPO N. 9; Wohlers, Art. 147 StPO N. 7; Schmid/Jositsch, N. 824

[12] Art. 202 Abs. 3 StPO

[13] Weder, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Hansjakob/Lieber), 2.A., Art. 202 N. 8

[14] Weder, Art. 203 StPO N. 5

[15] Weder, Art. 203 StPO N. 6; Schmid/Jositsch, N. 982

[16] Schmid/Jositsch, N. 839; vgl. Wohlers, Art. 149 StPO N. 12 f. und 24

[17] BGE 139 IV 116

[18] Vgl. Art. 127 Abs. 2 StPO; Lieber, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Hansjakob/Lieber), 2.A., Art. 127 N. 6a

[19] Und erst recht für eine Auferlegung der Kosten an den Beschwerdeführer

[20] BGE 141 I 127

[21] BGE vom 11. Dezember 2015, 6B_919/2015, Erw. 5.3

[22] Vgl. Wohlers, Art. 147 StPO N. 8

[23] BGE 143 IV 457

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