RBOG 2019 Nr. 3
Keine Zustellfiktion im Ausweisungsverfahren
Art. 138 Abs. 3 lit. a ZPO, Art. 138 Abs. 1 ZPO
1. Mit eingeschriebener Postsendung vom 2. August 2019 forderte die Vorinstanz die Berufungsklägerin auf, bis spätestens am 22. August 2019 zum Ausweisungsgesuch des Berufungsbeklagten vom 31. Juli 2019 Stellung zu nehmen. Diese Postsendung wurde der Berufungsklägerin am 5. August 2019 mit Frist bis am 12. August 2019 zur Abholung gemeldet. Am 12. August 2019, 16.16 Uhr, verlängerte die Berufungsklägerin die Abholfrist bis am 2. September 2019. Diesbezüglich erwog die Vorinstanz, die Verlängerung der siebentägigen Abholfrist sei unzulässig und damit unbeachtlich. Im Übrigen habe die Berufungsklägerin mit der Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens rechnen müssen, da ihr gekündigt und der Abgabetermin mitgeteilt worden sei. Es sei mithin auf die im Recht liegenden Akten abzustellen.
2. Gemäss Art. 138 Abs. 1 ZPO erfolgt die Zustellung von Vorladungen, Verfügungen und Entscheiden durch eingeschriebene Postsendung oder auf andere Weise gegen Empfangsbestätigung. Die Zustellung einer eingeschriebenen Postsendung, die nicht abgeholt worden ist, gilt am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch als erfolgt, sofern die Person mit einer Zustellung rechnen musste (Zustellfiktion)[1]. Nach der Bundesgerichtspraxis setzt die Zustellfiktion nach Art. 138 Abs. 3 lit. a ZPO ein Prozessrechtsverhältnis voraus, das mit der Rechtshängigkeit entsteht und die Parteien verpflichtet, sich nach Treu und Glauben zu verhalten, das heisst, unter anderem dafür zu sorgen, dass ihnen behördliche Akten zugestellt werden können, die das Verfahren betreffen. Diese prozessuale Pflicht entsteht folglich mit der Begründung eines Verfahrensverhältnisses und gilt insoweit, als während des hängigen Verfahrens mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit mit der Zustellung eines behördlichen Aktes gerechnet werden muss[2]. Gegenüber dem Kläger entsteht ein Prozessrechtsverhältnis, wenn er ein Verfahren rechtshängig macht[3] und gegenüber dem Beklagten, wenn er vom gegen ihn angehobenen Verfahren offiziell, das heisst durch behördliche Zustellung, Kenntnis erlangt hat[4]. Die Zustellung der Kündigung mit der Mitteilung des Abgabetermins stellt keinen behördlichen Akt dar, der ein Prozessrechtsverhältnis begründet beziehungsweise dem Mieter mitteilt, gegen ihn sei ein Verfahren betreffend Ausweisung eröffnet worden. Zwar muss der Mieter nach der Zustellung der Kündigung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit damit rechnen, dass allenfalls gegen ihn ein Ausweisungsverfahren eingeleitet wird. Dies ändert aber nichts daran, dass die Pflicht zu einem Verhalten nach Treu und Glauben erst mit dem Prozessrechtsverhältnis entsteht. Der Gesichtspunkt des Bestehens oder Nicht-Bestehens eines Prozessrechtsverhältnisses bietet Rechtssicherheit[5]. Damit greift hier die Zustellfiktion nicht. Der Berufungsklägerin ist somit das rechtliche Gehör im Sinn von Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK verweigert worden, womit die Streitsache an die Vorinstanz zu neuem Entscheid zurückzuweisen ist.
Obergericht, 1. Abteilung, 25. Oktober 2019, ZBS.2019.18
[1] Art. 138 Abs. 3 lit. a ZPO
[2] BGE 130 III 399
[3] Art. 62 Abs. 1 ZPO
[4] ZR 2018 Nr. 30 S.122
[5] Vgl. BGE 138 III 229