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RBOG 2020 Nr. 13

Keine Pflicht zum persönlichen Erscheinen an der Schlichtungsverhandlung, wenn sich die Parteien in einem Strafverfahren gegenüberstehen, das Ehrverletzungsdelikte zum Gegenstand hat.


Art. 204 Abs. 3 lit. b ZPO


1. a) Die Vermieterin leitete gegen den Mieter ein Schlichtungsverfahren wegen nicht bezahlter Mietzinse ein. Nach Zustellung der ersten Vorladung ersuchte der Rechtsvertreter der Vermieterin die Schlichtungsbehörde um Zustimmung, dass er die Vermieterin an der Schlichtungsverhandlung ohne deren Anwesenheit vertreten könne. In der (zweiten) Vorladung zur Schlichtungsverhandlung hielt die Schlichtungsbehörde fest, die Vermieterin werde von der persönlichen Teilnahme dispensiert. Deren Rechtsvertreter müsse aber die Berechtigung haben, Vergleiche abzuschliessen. Der den Parteien von der Schlichtungsbehörde unterbreitete Urteilsvorschlag lehnte der Mieter ab. Die Schlichtungsbehörde stellte in der Folge die Klagebewilligung aus.

b) Die Vermieterin erhob daraufhin Klage beim Bezirksgericht, welches die Klage schützte, soweit es darauf eintrat. Gegen diesen Entscheid erhob der Mieter Beschwerde.

2. a) Der Beschwerdeführer bringt vor, es fehle an einer Prozessvoraussetzung, weil das Schlichtungsverfahren nicht korrekt abgelaufen sei. Da der Rechtsvertreter für die Beschwerdegegnerin an der Schlichtungsverhandlung teilgenommen habe, habe kein klärendes Gespräch stattgefunden. Die Beschwerdegegnerin bestreitet diese Ausführungen in ihrer Beschwerdeantwort. Das zeichnungsberechtigte Organ S habe sich am vorgesehenen Datum der Schlichtungsverhandlung in den Vorbereitungen für eine Hüftgelenksoperation befunden. Seine Vertreterin sei nicht im Land gewesen. Zudem habe der Beschwerdeführer S beleidigt, bedroht, beschimpft und entsprechend eingeschüchtert. Es sei ihnen nichts anderes übrig geblieben, als um einen Dispens zu ersuchen. Schliesslich komme dem Rechtsanwalt auch die Qualität eines Liegenschaftenverwalters der Beschwerdegegnerin zu.

b) Die von der Beschwerdegegnerin vorgebrachten Gründe für die Dispensierung sind teilweise neu. Aus den Akten des Schlichtungsverfahrens geht nicht hervor, weshalb das Organ der Beschwerdegegnerin dispensiert wurde. Anlässlich der Hauptverhandlung führte diese aus, es gebe Streitereien zwischen den Parteien; das Verfahren habe eine lange Vorgeschichte. Konkret sei es am 26. Oktober 2017 zu einer Begegnung zwischen S und der Mutter des Beschwerdeführers gekommen und am 27. Oktober 2017 habe der Beschwerdeführer eine Mitarbeiterin der Beschwerdegegnerin beschimpft sowie S wüst betitelt. Im zweiten Vortrag wies sie darauf hin, der Rechtsvertreter sei für das Schlichtungsverfahren bevollmächtigt gewesen. Das neue Vorbringen, wonach S wegen einer Hüftoperation verhindert gewesen sei, kann im Beschwerdeverfahren nicht berücksichtigt werden. Hingegen ist das schlechte Verhältnis zwischen S und dem Beschwerdeführer erstellt. Der Beschwerdeführer bestreitet den Vorfall vom 26. Oktober 2017 nicht, jedoch ist dessen Tragweite strittig. Die Beschwerdegegnerin verweist in diesem Zusammenhang auf ein beim Obergericht anhängiges Berufungsverfahren. Gegenstand dieses Verfahrens ist das Gespräch vom 27. Oktober 2017. Der Rechtsvertreter der Beschwerdegegnerin erhob am 26. Januar 2018 Strafanzeige und machte geltend, der Beschwerdeführer habe S am 27. Oktober 2017 im Gespräch mit einer Drittperson als «schwulen Stalker» bezeichnet.

3. a) Eine gültige Klagebewilligung ist eine von Amtes wegen zu prüfende Prozessvoraussetzung[1]. Wurde ein Schlichtungsverfahren nicht korrekt durchgeführt, fehlt es an dieser Prozessvoraussetzung[2]. Die Parteien müssen persönlich zur Schlichtungsverhandlung erscheinen[3]. Sie können sich von einem Rechtsbeistand oder einer Rechtsbeiständin begleiten lassen. Nur in Ausnahmefällen dürfen sie sich jedoch vertreten lassen. Das Gesetz nennt als Gründe für ein Vertretungsverhältnis insbesondere: Den ausserkantonalen oder ausländischen Wohnsitz, Krankheit, Alter oder andere wichtige Gründe[4]. Die gesetzliche Regelung bringt zum Ausdruck, dass die Schlichtungsverhandlung ein klärendes Gespräch ermöglichen soll. Deshalb muss der Vertreter einer juristischen Person hinreichend bevollmächtigt und zum Vergleichsabschluss bemächtigt sein[5]. Während sich juristische Personen durch Handelsbevollmächtigte vertreten lassen können, genügt eine bürgerliche Vollmacht oder die faktische Organschaft nicht[6]. Sich im Schlichtungsverfahren durch einen Rechtsanwalt vertreten zu lassen, ist einer juristischen Person demnach verwehrt, es sei denn, es liege eine vom Gesetz vorgesehene Ausnahme vor[7].

b) aa) Die Beschwerde gibt Anlass zur Frage, ob der Ausnahmetatbestand der «wichtigen Gründe»[8] vorliegt, wenn das Organ einer juristischen Person und die Gegenseite sich in einem Strafverfahren gegenüberstehen, das Ehrverletzungsdelikte zum Gegenstand hat. Ziel der Schlichtungsverhandlung ist eine «wirkliche Aussprache» der Parteien. Ein «wichtiger Grund», der zur Dispensation führt, liegt somit dann vor, wenn es einer Partei aus objektiven Gründen subjektiv unzumutbar ist, an einer Schlichtungsverhandlung teilzunehmen, und wenn zu erwarten ist, die gewollte «wirkliche Aussprache» finde nicht statt.

bb) Das Gesetz muss in erster Linie aus sich selbst heraus, das heisst nach dem Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrundeliegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode ausgelegt werden. Die Gesetzesauslegung hat sich vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut die Norm darstellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene und konkretisierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis der «ratio legis». Dabei befolgt das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es namentlich ab, die einzelnen Auslegungselemente einer hierarchischen Prioritätsordnung zu unterstellen[9].

cc) Die Wendung «wichtiger Grund» ist eine Generalklausel. Das Gesetz erwähnt sie neben den Ausnahmetatbeständen von Krankheit und Alter[10]. In der Literatur wird aus dieser Verknüpfung gefolgert, der wichtige Grund verweise auf die Umstände des Einzelfalls und auf das Kriterium der Zumutbarkeit. Als Beispiele[11] werden genannt: Der Militärdienst, eine unaufschiebbare Abwesenheit und ein weiter Reiseweg. Als Konkretisierungshilfe bietet sich zudem auch die kantonale Rechtsprechung an. Nach der Praxis des Thurgauer Obergerichts zur alten Zivilprozessordnung wurden Militärdienst, Krankheit und Todesfall eines nahen Verwandten als Dispensationsgründe akzeptiert. Berufliche Abwesenheit konnte ebenfalls zum Dispens führen, insbesondere bei langem Anfahrtsweg[12].

dd) Nach dem Willen des Gesetzgebers sollen der Schlichtungsversuch und die persönliche Anwesenheit die Möglichkeit schaffen, den Rechtsstreit zu schlichten. Es soll eine «wirkliche Aussprache» stattfinden[13].

ee) Der Zweck der persönlichen Anwesenheitspflicht folgt aus dem Willen des Gesetzgebers einerseits und aus der Natur der Schlichtungsverhandlung andererseits: Die Verhandlung soll einen Rahmen schaffen, der ein klärendes Gespräch ermöglicht[14]. Dieser Zweck ist infrage gestellt, wenn die Parteien verfeindet sind. Fehlt die Gesprächsbereitschaft von vornherein, läuft die Schlichtungsverhandlung ins Leere und wird zu einem blossen Formalismus. Allerdings darf es einer Partei nicht möglich sein, durch blosse Gesprächsverweigerung die vom Gesetzgeber in bestimmten Fällen zwingend vorgesehene Schlichtungsverhandlung zu umgehen. Vielmehr müssen objektive Umstände vorliegen, die darauf schliessen lassen, ein «klärendes Gespräch» zwischen den Parteien sei nicht (mehr) zielführend.

ff) In systematischer Hinsicht sind zudem die Bestimmungen der StPO zu beachten. Diese schützen das Opfer vor einer ungewollten Konfrontation mit dem Beschuldigten[15]. Opfer im Sinn des Strafprozessrechts ist, wer durch eine Straftat in seiner körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt wurde[16]. Ehrverletzungsdelikte sind in der Regel – einmal von aussergewöhnlich schwerwiegenden Fällen abgesehen – nicht geeignet, die Opferstellung zu begründen. Dieser Gesichtspunkt muss im vorliegenden Verfahren jedoch nicht vertieft werden, denn die Opferdefinition des Strafprozessrechts kann nicht unbesehen auf die hier zu klärende Frage übertragen werden. Die Opferdefinition im Strafprozessrecht hängt mit den Bestimmungen des OHG[17] zusammen, die dem Opfer finanzielle Ansprüche einräumen. Die subsidiäre Leistungspflicht[18] des Staates bei Straftaten rechtfertigt sich nur bei Delikten mit erheblichen Auswirkungen auf die physische, psychische oder sexuelle Integrität des betroffenen Menschen. Eine solche schwere Beeinträchtigung in eigenen Rechtsgütern kann im Rahmen des Zivilprozesses nicht vorausgesetzt werden.

gg) Die Ehrverletzungsdelikte[19] schützen den Ruf des Einzelnen, ein ehrbarer Mensch zu sein. Der Respekt der anderen ist eine wesentliche Bedingung für ein harmonisches Sozialleben[20]. Geschützt ist nur, aber immerhin, die ethische Integrität. Äusserungen, die sich auf das berufliche Profil einer Person beziehen, sind nicht geeignet, die strafrechtlich geschützte Ehre zu verletzen[21]. Das von den Ehrverletzungsdelikten geschützte Rechtsgut hängt demnach unmittelbar mit der Persönlichkeit eines Menschen zusammen, und der Vorwurf ehrenrührigen Verhaltens dringt in das sittlich-moralische Empfinden eines Menschen ein. Die Gesprächsbereitschaft zwischen den Betroffenen dürfte dadurch stark getrübt sein. Ehrverletzungsdelikte sind – allenfalls sogar stärker als zum Beispiel Delikte gegen das Vermögen – geeignet, verhärtete Fronten im zwischenmenschlichen Bereich zu schaffen. Ein Strafverfahren kann somit ein objektiver Grund für eine Dispensation vom persönlichen Erscheinen zur Schlichtungsverhandlung sein. Wenn dieses Strafverfahren zudem Ehrverletzungsdelikte betrifft, kann im Einzelfall auch die subjektive Unzumutbarkeit bejaht werden.

c) Der Beschwerdeführer und S sind verfeindet, was unter anderem auf die Vorfälle vom 26. und 27. Oktober 2017 zurückzuführen ist. Sie stehen sich deswegen auch in einem Strafverfahren gegenüber, das auf eine Strafanzeige zurückgeht. Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen, sich der üblen Nachrede zum Nachteil von S schuldig gemacht zu haben. Ob dieser Vorwurf zutrifft, ist an dieser Stelle nicht zu klären. Massgebend ist allein die Tatsache, dass zum Zeitpunkt des Schlichtungsverfahrens ein Strafverfahren pendent war, das solche Vorwürfe zum Gegenstand hatte. Die Schlichtungsverhandlung hätte bei einer derart aufgeladenen Stimmung mit Sicherheit nicht das vom Gesetzgeber gewollte klärende Gespräch gebracht. Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass der Ausnahmetatbestand von Art. 204 Abs. 3 lit. b ZPO erfüllt ist. Der Rechtsvertreter der Beschwerdegegnerin war anlässlich der Schlichtungsverhandlung ausserdem mit einer Vollmacht ausgestattet, die ihm ausdrücklich ermöglichte, einen Vergleich abzuschliessen. Der Rechtsvertreter war deshalb auch ein vollwertiger Gesprächspartner und konnte die Beschwerdegegnerin umfassend an der Schlichtungsverhandlung vertreten.

4. a) Selbst wenn davon ausgegangen würde, es sei kein Ausnahmetatbestand erfüllt, wäre die Klagebewilligung als gültig zu betrachten.

b) aa) Ein Nichteintreten wegen Mängel des Schlichtungsverfahrens erscheint in der Regel nur angezeigt, wenn Aussicht auf ein ordnungsgemässes Schlichtungsverfahren besteht. Beruft sich eine Partei nach durchgeführtem und gescheitertem Einigungsversuch auf eine mangelhafte Schlichtungsverhandlung, kann das missbräuchlich im Sinn von Art. 52 ZPO sein, wenn damit der Abbruch des Gerichtsverfahrens zwecks Nachholung eines Schlichtungsverfahrens bezweckt wird, das von vornherein zum Scheitern verurteilt ist[22].

bb) Die Schlichtungsbehörde hat die Beschwerdegegnerin von der persönlichen Anwesenheitspflicht entbunden. Dem Beschwerdeführer wurde die Dispensation der Beschwerdegegnerin erstmals mit der zweiten Vorladung angezeigt. Die Schlichtungsverhandlung musste danach (nochmals) auf Wunsch des Beschwerdeführers verschoben werden. Den Akten des Schlichtungsverfahrens ist nicht zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer vor der Schlichtungsverhandlung gegen die Dispensation opponierte. Erst nachträglich rügte er – gemäss eigenen Angaben nach Konsultation eines Rechtsanwalts – eine mangelhafte Schlichtungsverhandlung. Den von der Schlichtungsbehörde ausgearbeiteten Urteilsvorschlag lehnte er ohne Begründung ab. Anlässlich der Hauptverhandlung behauptete der Beschwerdeführer, der Rechtsvertreter der Beschwedegegnerin sei im Schlichtungsverfahren nicht zum Abschluss eines Vergleichs berechtigt gewesen. Das ist schlicht unzutreffend. In der Beschwerde verweist er auf einen Bundesgerichtsentscheid und führt an, es sei zu keinem klärenden Gespräch gekommen. Diese Begründung ist neu. Seine Rüge begründete er im vorinstanzlichen Verfahren noch anders, nämlich mit der fehlenden Vertretungsbefugnis.

Obergericht, 1. Abteilung, 23. Januar 2020, ZR.2019.32

Auf eine dagegen erhobene Beschwerde trat das Bundesgericht am 7. April 2020 nicht ein (4D_17/2020).


[1] Art. 60 ZPO

[2] BGE 141 III 163

[3] Art. 204 Abs. 1 ZPO

[4] Art. 204 Abs. 3 lit. a und b ZPO; ein Anwendungsfall von Art. 204 Abs. 3 lit. c ZPO ist hier nicht gegeben.

[5] BGE 140 III 73

[6] BGE 141 III 167

[7] BGE 140 III 71

[8] Art. 204 Abs. 3 lit. b ZPO

[9] BGE 143 III 649

[10] Honegger, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (Hrsg.: Sutter-Somm/Hasen­böhler/Leuenberger), 3.A., Art. 204 N. 8

[11] Dolge/Infanger, Schlichtungsverfahren nach Schweizerischer Zivilprozessordnung, Zürich 2012, S. 37 f.; Infanger, Basler Kommentar, 3.A., Art. 204 ZPO N. 4; Gloor/Lukas, in: Schweizerische Zivilprozessordnung, Kurzkommentar (Hrsg.: Oberhammer/Domej/Haas), 2.A., Art. 204 N. 9

[12] Merz, Die Praxis zur thurgauischen Zivilprozessordnung, 2.A., § 115 ZPO N. 4a und 4b

[13] Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung vom 28. Juni 2006, BBl 2006 S. 7331 f.

[14] BGE 140 III 71

[15] Vgl. Art. 117 StPO sowie Art. 152 Abs. 3 StPO

[16] Art. 1 Abs. 1 OHG sowie Art. 116 Abs. 1 StPO

[17] Opferhilfegesetz, SR 312.5

[18] Art. 4 OHG

[19] Art. 173 ff. StGB

[20] BGE 117 IV 28

[21] Trechsel/Lieber, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar (Hrsg.: Trechsel/Pieth), 3.A., Vor Art. 173 N. 3

[22] Grolimund/Bachofner, Die Klagebewilligung als Prozessvoraussetzung, in: Das Zivilrecht und seine Durchsetzung, Festschrift für Thomas Sutter-Somm, Zürich 2016, S. 137 ff., Fn. 59

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