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RBOG 2020 Nr. 14

Volljährigenunterhalt ist im ordentlichen und nicht im vereinfachten Verfahren geltend zu machen.


Art. 60 ZPO, Art. 219 ZPO, Art. 243 ff. ZPO, Art. 295 ZPO


1. Die im März 1998 geborene Tochter verlangte vor Bezirksgericht, ihre Eltern seien zu verpflichten, ihr rückwirkend ab August 2016 einen nach Massgabe des Beweisergebnisses zu beziffernden Unterhaltsbeitrag zu bezahlen, monatlich und im Voraus, bis zum ordentlichen Abschluss einer angemessenen Erstausbildung. Die Eltern beantragten, die Klage sei abzuweisen.

2. Die Einzelrichterin des Bezirksgerichts verpflichtete die Eltern, ihrer Tochter für August 2017, von September bis und mit Dezember 2017, von Januar bis und mit Dezember 2018 sowie von Januar 2019 bis und mit März 2019 abgestufte Unterhaltsbeiträge zu bezahlen. Gleichzeitig stellte sie fest, dass die Pädagogische Maturitätsschule (PMS) eine angemessene Erstausbildung darstelle, und dass die Leistung des Unterhaltsbeitrags unter den vorliegenden Umständen persönlich und finanziell zumutbar sei, sodass bei einem Wiedereintritt in die zweite Klasse der PMS erneut ein Unterhaltsbeitrag geschuldet sei.

3. Die Eltern erhoben Berufung. Der angefochtene Entscheid sei aufzuheben, und die Klage sei abzuweisen. Die Tochter beantragte die Abweisung der Berufung. Zudem stellte sie einen Antrag auf unentgeltliche Rechtspflege; es sei ihr eine unentgeltliche Rechtsbeiständin zu ernennen.

4. a) Gemäss Art. 276 Abs. 1 ZGB[1] wird der Unterhalt eines Kindes durch Pflege, Erziehung und Geldzahlung geleistet. Die Eltern sorgen gemeinsam, ein jeder Elternteil nach seinen Kräften, für den gebührenden Unterhalt des Kindes und tragen insbesondere die Kosten von Betreuung, Erziehung, Ausbildung und Kindesschutzmassnahmen[2]. Sie sind von der Unterhaltspflicht in dem Mass befreit, als dem Kind zugemutet werden kann, den Unterhalt aus seinem Arbeitserwerb oder andern Mitteln zu bestreiten[3]. Der Unterhaltsbeitrag soll nach Art. 285 Abs. 1 ZGB den Bedürfnissen des Kindes sowie der Lebensstellung und Leistungsfähigkeit der Eltern entsprechen; dabei sind das Vermögen und die Einkünfte des Kindes zu berücksichtigen.

b) Die Unterhaltspflicht der Eltern dauert gemäss Art. 277 Abs. 1 ZGB bis zur Volljährigkeit des Kindes. Hat es dann noch keine angemessene Ausbildung, haben die Eltern, soweit es ihnen nach den gesamten Umständen zugemutet werden darf, gestützt auf Art. 277 Abs. 2 ZGB für seinen Unterhalt (weiterhin) aufzukommen, bis eine entsprechende Ausbildung ordentlicherweise abgeschlossen werden kann.

c) Während der Ehe tragen die Eltern die Kosten des Unterhalts nach den Bestimmungen des Eherechts[4]. Das Kind kann gegen den Vater oder die Mutter oder gegen beide klagen auf Leistung des Unterhalts für die Zukunft und für ein Jahr vor Klageerhebung[5].

5. Die Vorinstanz führte die Klage im vereinfachten Verfahren nach Art. 243 ff. ZPO durch, was von keiner Partei gerügt wurde. Das Obergericht hat jedoch die Frage, ob die Vorinstanz sachlich zuständig war, gestützt auf Art. 60 ZPO als Prozessvoraussetzung von Amtes wegen zu prüfen[6]. Erlässt ein sachlich unzuständiges Gericht einen Entscheid, leidet dieser nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung an einem schwerwiegenden Mangel, der je nach den Umständen die Nichtigkeitsfolge nach sich ziehen kann[7].

6. a) Art. 219 ff. ZPO normieren das ordentliche Verfahren als Verfahrensgrundtypus. Gemäss Art. 243 ZPO gilt das vereinfachte Verfahren für vermögensrechtliche Streitigkeiten bis zu einem Streitwert von Fr. 30'000.00 und ohne Rücksicht auf den Streitwert in gewissen, in Art. 243 Abs. 2 ZPO aufgezählten Streitigkeiten. Darüber hinaus ist in Bezug auf Kinderbelange in familienrechtlichen Angelegenheiten in Art. 295 ZPO für selbstständige Klagen das vereinfachte Verfahren vorgesehen[8], wobei der Untersuchungsgrundsatz[9] und die Offizialmaxime[10] gelten.

b) Im Kanton Thurgau werden Streitigkeiten in ordentlichen Zivilverfahren erstinstanzlich von den Bezirksgerichten in Dreierbesetzung entschieden[11]; die im vereinfachten Verfahren zu erledigenden Streitigkeiten fallen hingegen in die Zuständigkeit der Einzelrichterinnen und Einzelrichter[12].

7. a) Zu prüfen ist, ob die Unterhaltsklage, welche eine volljährige Person gestützt auf Art. 277 Abs. 2 ZGB gegen ihre Eltern einreicht, unter den Titel «Kinderbelange in familienrechtlichen Angelegenheiten» fällt.

b) Der Wortlaut der Bestimmung ist nicht eindeutig. «Kind» ist zwar einerseits die noch nicht erwachsene Person, andererseits aber auch ein unmittelbarer Nachkomme unabhängig vom Alter[13]. Diese zweite Bedeutung findet sich auch im ZGB wieder, so sieht beispielsweise Art. 457 Abs. 2 ZGB vor, dass die «Kinder» zu gleichen Teilen erben. In der Gesamtbetrachtung von Art. 277 ZGB wird sodann ersichtlich, dass auch der volljährige Unterhaltsberechtigte im Sinn von Art. 277 Abs. 2 ZGB noch als «Kind» betrachtet wird, denn Eltern haben einen Unterhalt zu leisten, wenn «es» – gemeint ist das Kind[14] – nach seiner Volljährigkeit noch keine angemessene Ausbildung hat.

c) aa) In der Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung wurde festgehalten, der siebte Titel des zweiten Teils vereinige die zivilprozessualen Bestimmungen über die Kinderbelange in familienrechtlichen Angelegenheiten. Die entsprechenden Vorschriften des ZGB (Art. 144–147, 254, 280–284 ZGB) könnten damit aufgehoben werden. Das erste Kapitel enthalte Bestimmungen, die dem Kindeswohl dienten. Art. 290 ZPO (der heutige Art. 295 ZPO) schreibe für selbstständige Klagen – streitwertunabhängig – das vereinfachte Verfahren vor. Solche Klagen seien namentlich selbstständige Unterhaltsklagen (vgl. Art. 276 ff. ZGB), aber auch Klagen betreffend Feststellung oder Anfechtung des Kindesverhältnisses. Sodann würden für alle Kinderbelange in familienrechtlichen Angelegenheiten die uneingeschränkte Untersuchungsmaxime und die Offizialmaxime[15] gelten. Dies entspreche dem geltenden Recht (vgl. insbesondere Art. 133 und 145 ZGB) und der ständigen Bundesgerichtspraxis (BGE 128 III 412 f.)[16].

bb) Auch die Botschaft äussert sich somit nicht ausdrücklich dazu, ob die Bestimmungen des siebten Titels auch auf Unterhaltsklagen von bereits volljährigen Kindern anzuwenden seien. Es ist der Botschaft aber zu entnehmen, dass die Regelungen der neuen ZPO den bisherigen gesetzlichen Bestimmungen sowie der ständigen Bundesgerichtspraxis entsprechen sollten.

8. a) aa) Das Bundesgericht hielt in BGE 118 II 93 ff. fest, sowohl Art. 280 Abs. 2 aZGB[17] als auch Art. 254 Ziff. 1 aZGB[18] würden nach ihrem Wortlaut ausschliesslich vorsehen, dass das Gericht den Sachverhalt von Amtes wegen zu erforschen und die Beweise nach seiner freien Überzeugung zu würdigen habe. Diese verfahrensrechtlichen Vorschriften hätten ihren Grund darin, dass sowohl bei der Abstammung als auch beim Unterhalt ein erhöhtes Interesse an der materiellen Wahrheit bestehe, deren Findung gefördert werden solle. Ein besonderes, verstärktes Bedürfnis nach Schutz der Kindesinteressen bestehe zudem im Scheidungsverfahren, weil hier dem Kind selber keine Parteistellung zukomme, so dass seine Interessen in vermehrtem Masse vom Gericht gewahrt werden müssten[19]. Die Höhe des Unterhaltsbeitrags, der vom Elternteil, dem das Kind nicht zugewiesen werde, zu bezahlen sei, hänge wesentlich davon ab, was der das Kind unmittelbar betreuende Elternteil selber an den Kindesunterhalt beisteuern könne. Dies werde aber massgeblich verändert, wenn dem Inhaber der elterlichen Gewalt in letzter kantonaler Instanz eine Scheidungsrente verweigert oder diese erheblich gekürzt werde. Hier müsse es möglich sein, der durch das letzte kantonale Urteil bewirkten Änderung der Leistungskraft auch im Berufungsverfahren vor Bundesgericht noch Rechnung zu tragen. Mit Bezug auf die Leistungskraft der Ehegatten bildeten eben die Scheidungsrente und der Kindesunterhalt ein Ganzes, dessen einzelne Teile nicht vollständig unabhängig voneinander festgesetzt werden könnten. Verlange demgegenüber das mündige Kind Unterhalt, stelle sich die Frage nicht in gleicher Weise. Dieses Verfahren erfolge unabhängig von einem Scheidungsprozess, so dass keine unmittelbare Wechselwirkung zwischen dem Kindesunterhalt und der Höhe der Scheidungsrente entstehen könne. Auch die Interessenlage zeige sich nicht in gleicher Weise. Während die Unterhaltspflicht gegenüber dem unmündigen Kind die Regel darstelle, unterstreiche das Gesetz mit dem Erfordernis der Zumutbarkeit den Ausnahmecharakter, den die Unterhaltsleistungen gegenüber dem mündigen Kind darstellten. Dies rechtfertige es aber, dem Anspruchsberechtigten einen weniger starken prozessualen Schutz zu gewähren und die Elterninteressen stärker zu berücksichtigen[20].

bb) In der Folge bestätigte das Bundesgericht mehrfach, dass die Offizialmaxime für den Prozess um Mündigenunterhalt nicht gelte[21], und der Untersuchungsgrundsatz nur in einer eingeschränkten Weise anwendbar sei[22].

b) aa) Unter der Geltung der Schweizerischen ZPO erwog das Bundesgericht im Entscheid vom 17. April 2013, 5A_155/2013, der siebte Titel des zweiten Teils der ZPO vereinige die zivilprozessualen Bestimmungen über die Kinderbelange in familienrechtlichen Angelegenheiten, womit die entsprechenden Vorschriften des ZGB (Art. 144-147, 254, 280-284 ZGB) hätten aufgehoben werden können. Unter dem mit «Kinderbelange in familienrechtlichen Angelegenheiten» überschriebenen siebten Titel der ZPO regle Art. 295 ZPO als Grundsatz, dass für selbstständige Klagen das vereinfachte Verfahren (Art. 243 ff. ZPO) gelte. Bei der von der (volljährigen) Beschwerdegegnerin angehobenen Klage handle es sich um eine selbstständig erhobene Unterhaltsklage, die somit dem Willen des Gesetzgebers entsprechend im vereinfachten Verfahren durchzuführen sei[23]. Im Bundesgerichtsentscheid vom 11. Dezember 2013, 5A_627/2013, welcher denselben Rechtsstreit betraf, trat das Bundesgericht auf die Beschwerde nicht ein, soweit der Beschwerdeführer wiederum die Wahl des Verfahrens für die Beurteilung der Unterhaltsforderung sowie die Zuständigkeit des Einzelrichters beanstandete; über diese Fragen habe das Bundesgericht in seinem früheren Entscheid abschliessend befunden[24].

bb) aaa) In dem am 3. Juli 2013 in Fünferbesetzung gefällten BGE 139 III 368 ff. entschied das Bundesgericht, wenn eine volljährige Person (oder an ihrer Stelle das in ihren Anspruch subrogierte Gemeinwesen) auf Bezahlung von Verwandtenunterstützungsbeiträgen klage, so sei der Prozess bei gegebenem Streitwert im ordentlichen Verfahren (Art. 219 ff. ZPO) zu führen.

bbb) Dabei erwog das Bundesgericht, die Materialien würden sich nicht zum Fall äussern, dass der Anspruch einer volljährigen Person strittig sei. Falls er nach Ansicht des Gesetzgebers unter Art. 295 f. ZPO fallen sollte, so würde jedenfalls die in der Botschaft vertretene Ansicht nicht zutreffen, dass durch die Anordnung der uneingeschränkten Untersuchungs- und der Offizialmaxime bloss der bisherige Rechtszustand weitergeführt würde. Vielmehr käme es durch die Unterstellung unter Art. 295 f. ZPO zu einer Neuausrichtung des Verfahrens für volljährige Personen. Dass solche Änderungen gewollt gewesen wären, lasse sich den Gesetzgebungsarbeiten nicht entnehmen. Hingegen gebe die Botschaft zu erkennen, dass Art. 295 f. ZPO dem Kindeswohl hätte dienen sollen. Dies lasse es fraglich erscheinen, ob sich diese Normen nach ihrem Zweck überhaupt auf Volljährige bezögen und auf sie zugeschnitten seien[25].

ccc) Weiter wandte sich das Bundesgericht auch dagegen, für die Klage des Volljährigen zwar grundsätzlich das Verfahren gemäss Art. 295 f. ZPO gelten zu lassen, aber diejenigen prozessualen Besonderheiten von Art. 295 f. ZPO nicht anzuwenden, die auch im früheren Recht für die Klage des Volljährigen gemäss Rechtsprechung und Lehre nicht gegolten hätten. Gemäss Bundesgericht würde damit zwar die bisherige Lösung im Ergebnis fortgeführt, jedoch würde zugleich ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage und ohne Not ein weiteres Spezialverfahren in die ZPO eingeführt. Da die verschiedenen Verfahrensarten in der ZPO grundsätzlich abschliessend aufgeführt seien, gelte es, solches im Interesse der Klarheit der ZPO und der Rechtssicherheit zu vermeiden[26].

ddd) Kämen die neuen Bestimmungen über die Unterhaltsklage des Kindes in der ZPO aus den genannten Gründen für die Ansprüche volljähriger Personen nicht in Betracht, so bestehe keine Grundlage, stattdessen an Art. 243 ff. ZPO anzuknüpfen. Es bleibe somit zur Beurteilung dieser Ansprüche einzig das ordentliche Verfahren gemäss Art. 219 ff. ZPO[27]. Die mit dem vereinfachten Verfahren verbundenen Abweichungen vom ordentlichen Verfahren (zum Beispiel hinsichtlich der Form der Klage[28] oder der verstärkten Fragepflicht[29]) hätten prozessökonomische Funktion (Entlastung von Parteien und Gerichten, Prozessbeschleunigung), dienten dem Schutz der schwächeren Partei (soziale Funktion) und sollten das Verfahren allgemein laienfreundlich gestalten. Bei der Unterhaltsklage des Kindes würden im Interesse des Kindeswohls diese Schutzgedanken durch die Anordnung des unbeschränkten Untersuchungs- und des Offizialgrundsatzes[30] noch verstärkt, wobei die Unterschiede zum «normalen» vereinfachten Verfahren (gemäss Art. 243 ff. ZPO) oder sogar zum ordentlichen Verfahren (Art. 219 ff. ZPO) auch nicht überschätzt werden dürften. Dass der Volljährige, der Unterhalts- oder eben Verwandten-unterstützungsbeiträge verlange, keines derart ausgebauten prozessualen Schutzes bedürfe, sei in BGE 118 II 93 bereits dargelegt worden. Klage der volljährige Unterstützungsbedürftige selber, so könne seiner finanziellen Schwäche und allfälligen prozessualen Unerfahrenheit durch Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistands ein Stück weit abgeholfen werden[31].

cc) Mit der Frage, ob eine Unterhaltsklage des volljährigen Kindes im vereinfachten oder im ordentlichen Verfahren zu behandeln sei, befasste sich das Bundesgericht – soweit ersichtlich – in der Folge nicht mehr. In einem unpublizierten Entscheid vom 9. Oktober 2017 erwog es jedoch[32], die Offizialmaxime von Art. 296 Art. 3 ZPO gelte für alle Kinderbelange in familienrechtlichen Angelegenheiten nach dem siebten Titel des zweiten Teils der ZPO. In Anbetracht der Rechtsprechung zu Art. 280 Abs. 2 aZGB, welcher in die ZPO übernommen worden sei, gelte aber Art. 296 Abs. 3 ZPO nicht in Bezug auf Unterhaltsklagen von volljährigen Kindern, da ein erhöhter Schutz in diesem Fall nicht gerechtfertigt sei[33].

c) aa) In Anbetracht dieser Rechtsprechung ist davon auszugehen, dass gemäss Auffassung des Bundesgerichts das vereinfachte Verfahren nach den Bestimmungen von Art. 295 f. ZPO weder für die Verwandtenunterstützungsklage im Sinn von Art. 328 ff. ZGB noch für die Unterhaltsklage eines volljährigen Kindes gestützt auf Art. 277 Abs. 2 ZGB anwendbar ist[34].

bb) Dass das Bundesgericht im Entscheid 5A_155/2013 gegenteilig entschied, vermag an dieser Einschätzung nichts zu ändern. Das Bundesgericht verwies in diesem Entscheid, den es vor dem Grundsatzentscheid und in Dreierbesetzung fällte, lediglich auf die Gesetzesbestimmungen und die Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung. Es befasste sich weder mit seiner früheren Rechtsprechung zum Mündigenunterhalt noch mit der juristischen Literatur dazu. Weiter hatte sich das Bundesgericht auch nicht primär mit der Frage zu befassen, ob das vereinfachte Verfahren anwendbar sei, sondern ob für die erstinstanzliche Beurteilung der Unterhaltsklage der Beschwerdegegnerin der Einzelrichter oder die Abteilung des Bezirksgerichts zuständig gewesen wäre und daher eine willkürliche Anwendung von § 35 Abs. 1 lit. b des Luzerner OGB[35] vorliege[36].

cc) Soweit sich die juristische Lehre kritisch gegenüber BGE 139 III 368 ff. äusserte, so beanstandete sie im Wesentlichen, aufgrund der Schutzbedürftigkeit des volljährigen Kindes sei es sachgerecht, das vereinfachte Verfahren anzuwenden[37]. Wie das Bundesgericht aber in BGE 139 III 368 ff. festhielt, kann der finanziellen Schwäche des volljährigen Kindes und seiner allfälligen prozessualen Unerfahrenheit durch Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistands ein Stück weit abgeholfen werden[38]. Weiter gilt auch im ordentlichen Verfahren die richterliche Fragepflicht[39], und das Gericht kann jederzeit Instruktionsverhandlungen durchführen[40].

d) An der Auffassung, dass Unterhaltsklagen eines volljährigen Kindes nicht unter Art. 295 ZPO fallen, ändert auch die vorgesehene Revision der ZPO nichts. Der Vorentwurf zur Revision sah zwar für die selbstständigen Unterhaltsklagen von Kindern das vereinfachte Verfahren ausdrücklich ungeachtet ihrer Volljährigkeit vor[41], und gemäss der Botschaft zur Änderung der Schweizerischen Zivilprozessordnung gilt dies auch für den Entwurf[42], auch wenn dies im Unterschied zum Vorentwurf nicht mehr ausdrücklich aus dem Gesetzeswortlaut hervorgehe[43]. Dies kann jedoch im hier zu entscheidenden Verfahren nicht massgebend sein, denn die entsprechenden Bestimmungen sind noch nicht in Kraft, und es steht noch nicht einmal fest, wie die revidierte ZPO dereinst aussehen wird.

9. a) Zusammenfassend sind selbstständige Unterhaltsklagen volljähriger Kinder gegen ihre Eltern gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts im ordentlichen Verfahren zu behandeln; das vereinfachte Verfahren kommt nur dann zur Anwendung, wenn die Streitwertgrenze von Fr. 30'000.00 nicht erreicht ist[44].

b) Die Vorinstanz bezifferte den Streitwert – gestützt auf die Angaben der Berufungsbeklagten – auf «mindestens Fr. 42'000.00».

c) Demzufolge ist der Entscheid der Vorinstanz aufzuheben und die Sache an das örtlich und sachlich zuständige Bezirksgericht in Dreierbesetzung[45] zurückzuweisen. Die Vorinstanz wird noch einmal eine Hauptverhandlung durchzuführen haben, sofern die Parteien nicht gemeinsam auf die Durchführung verzichten[46]. Die Hauptverhandlung findet vor dem gesamten Spruchkörper des Gerichts statt; eine Delegation an den Instruktionsrichter ist unzulässig[47].

Obergericht, 2. Abteilung, 5. Mai 2020, ZBR.2019.43


[1] In Kraft seit 1. Januar 2017

[2] Art. 276 Abs. 2 ZGB

[3] Art. 276 Abs. 3 ZGB

[4] Art. 278 Abs. 1 ZGB

[5] Art. 279 Abs. 1 ZGB

[6] BGE vom 18. Februar 2020, 4A_595/2019, Erw. 2.3.2; BGE vom 7. Dezember 2017, 4A_229/2017, Erw. 3.4.3

[7] BGE 143 III 497, 137 III 225

[8] BGE 139 III 371

[9] Art. 296 Abs. 1 ZPO

[10] Art. 296 Abs. 3 ZPO

[11] § 21 Abs. 2 ZSRG (Gesetz über die Zivil- und Strafrechtspflege, RB 271.11)

[12] § 20 Abs. 2 ZSRG

[13] Vgl. www.duden.de/rechtschreibung/Kind

[14] BGE 127 I 206

[15] Gemäss dem Entwurf Art. 291 ZPO, heute Art. 296 ZPO

[16] Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung vom 28. Juni 2006, BBl 2006 S. 7366

[17] Diese Bestimmung betraf das Verfahren in Bezug auf Kindesunterhaltsklagen; sie wurde am 1. Januar 2011 aufgehoben.

[18] Diese Bestimmung betraf das Verfahren zur Feststellung oder Anfechtung des Kindesverhältnisses; sie wurde am 1. Januar 2011 aufgehoben.

[19] BGE 118 II 94 f.

[20] BGE 118 II 95

[21] BGE vom 31. Mai 2005, 5C.53/2005, Erw. 4.3; vgl. BGE vom 27. Januar 2004, 5C.238/2003, Erw. 1

[22] BGE vom 3. September 2007, 5A_266/2007, Erw. 3.2.3

[23] BGE vom 17. April 2013, 5A_155/2013, Erw. 2.4

[24] BGE vom 11. Dezember 2013, 5A_627/2013, Erw. 1.3

[25] BGE 139 III 375 f.

[26] BGE 139 III 376 f.

[27] BGE 139 III 377

[28] Art. 244 ZPO

[29] Art. 247 Abs. 1 ZPO

[30] Art. 296 ZPO

[31] BGE 139 III 377 f.

[32] Unter Hinweis auf BGE 118 II 93 und auf die Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung

[33] BGE vom 9. Oktober 2017, 5A_524/2017, Erw. 3.1

[34] Ebenso: Marzan/Steck, Basler Kommentar, 3.A., Art. 295 ZPO N. 5 und Art. 296 ZPO N. 5; Entscheid des Obergerichts des Kantons Zürich vom 5. Dezember 2014, LZ140010, in: ZR 2015 Nr. 77 S. 285; Entscheid des Obergerichts des Kantons Zürich vom 13. März 2018, PC180006, Erw. 4.3; vgl. Ceregato, Der Vorentwurf zur Revision der Schweizerischen Zivilprozessordnung – Übersicht und Würdigung, in: Jusletter 10. September 2018 N. 131; a.M. Sutter-Somm, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3.A., N. 1281; Leuenberger/Uffer-Tobler, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 2.A., N. 11.250; Bachofner/Pesenti, Aktuelle Fragen zum Unterhaltsprozess von Volljährigen, in: FamPra.ch 2016 S. 631; ferner Entscheid des Obergerichts des Kantons Bern vom 30. Oktober 2018, ZK 17 340, in: FamPra.ch 2019, S. 680 ff., wonach Art. 295 ZPO auch auf Verfahren betreffend Unterhaltsansprüche Volljähriger Anwendung finde, wobei der Untersuchungsgrundsatz und die Offizialmaxime nicht gelten würden.

[35] Gesetz über die Organisation der Gerichte und Behörden in Zivil- und Strafsachen, SRL 260

[36] BGE vom 17. April 2013, 5A_155/2013, Erw. 2.1

[37] Schweighauser, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (Hrsg.: Sutter-Somm/Hasen-böhler/Leuenberger), 3.A., Art. 295 N. 10; Pfänder/Baumann, in: Schweizerische Zivilprozessordnung (Hrsg.: Brunner/Gasser/Schwander), 2.A., Art. 295 N. 2; vgl. Bachofner/Pesenti, S. 631

[38] BGE 139 III 377 f.

[39] Art. 56 ZPO

[40] Art. 226 Abs. 1 ZPO

[41] Neuer Art. 295 Abs. 2 VE-ZPO: «Für selbstständige Unterhaltsklagen von Kindern gilt ungeachtet ihrer Volljährigkeit das vereinfachte Verfahren.»

[42] Art. 295 E-ZPO: «Für selbstständige Klagen über Kinderbelange sowie über den Unterhalt von Kindern gilt das vereinfachte Verfahren.»

[43] Botschaft, S. 71, vgl. https://www.bj.admin.ch/dam/data/bj/staat/gesetzgebung/aenderung-zpo/bot-d.pdf

[44] Art. 243 Abs. 1 ZPO

[45] § 21 Abs. 2 ZSRG

[46] Art. 233 ZPO

[47] Killias, Berner Kommentar, Bern 2012, Art. 228 ZPO N. 3

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