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RBOG 2020 Nr. 29

Vor der Nichtanhandnahme der Strafuntersuchung gegen eine Magistratsperson ist grundsätzlich die Ermächtigung zur Strafverfolgung einzuholen; Ausnahmen.


Art. 7 Abs. 2 lit. b StPO, Art. 303 StPO, § 15 Abs. 1 VerantwG


1. a) Gemäss Art. 7 Abs. 1 StPO sind die Strafbehörden verpflichtet, im Rahmen ihrer Zuständigkeit ein Verfahren einzuleiten und durchzuführen, wenn ihnen Straftaten oder auf Straftaten hinweisende Verdachtsgründe bekannt werden. Nach Art. 7 Abs. 2 lit. b StPO können die Kantone vorsehen, dass die Strafverfolgung der Mitglieder ihrer Vollziehungs- und Gerichtsbehörden wegen im Amt begangener Verbrechen oder Vergehen von der Ermächtigung einer nicht richterlichen Behörde abhängt. Aus dem in Art. 7 StPO verankerten Legalitätsprinzip folgt, dass die Strafbehörden verpflichtet sind, eine Ermächtigung zu beantragen[1]. Bei Ermächtigungsdelikten ist eine gültige Ermächtigung Prozessvoraussetzung[2].

b) Gestützt auf § 15 Abs. 1 VerantwG[3] bedarf die Strafverfolgung von Mitgliedern des Grossen Rates, des Regierungsrates und der kantonalen Gerichte gemäss § 12 Abs. 2 VerantwG wegen strafbarer Handlungen, die sich auf ihre amtliche Tätigkeit beziehen, der Ermächtigung durch den Grossen Rat. Da sich die Strafanzeige gegen das Verhalten eines Mitglieds des Regierungsrates richtet, ist eine Strafverfolgung nur möglich, wenn eine Ermächtigung des Grossen Rates vorliegt.

c) aa) Richtet sich ein Ermächtigungsverfahren gegen eine Magistratsperson, so dürfen für den Entscheid, ob die Ermächtigung zu erteilen oder zu verweigern ist, nicht nur strafrechtliche Gesichtspunkte allein, sondern auch politische beziehungsweise staatspolitische Überlegungen berücksichtigt werden[4]. Die Regelung, die Strafverfolgung gegen Mitglieder der Kantonsregierung und der obersten Gerichtsbehörden von einem Vorentscheid einer nicht richterlichen Instanz abhängig zu machen, beruht auf dem Grundgedanken, dass die obersten Vollziehungs- und Gerichtsbehörden für ihre amtliche Tätigkeit vorab der übergeordneten Instanz verantwortlich sind, und dass diese übergeordnete Instanz nach freiem Ermessen darüber entscheiden soll, ob wegen einer angeblich im Amt begangenen Verfehlung die Einleitung eines Strafverfahrens gerechtfertigt ist[5].

bb) Das Ermächtigungserfordernis dient namentlich dem Zweck, Behördenmitglieder und Beamte vor ungerechtfertigter Strafverfolgung zu schützen und damit das reibungslose Funktionieren staatlicher Organe sicherzustellen[6]. Ferner ist von Gewicht, dass die Personen, die öffentlich-rechtliche Aufgaben erfüllen, darauf zählen können, dass sie nach Ende ihrer Amtstätigkeit vor trölerischen oder mutwilligen Strafanzeigen geschützt sind. Damit soll verhindert werden, dass ihr Verhalten wegen der allfälligen späteren Verwicklung in derartige Strafverfahren beeinflusst und der gesetzmässige Gang der Verwaltung (oder Justiz) auf diese Weise beeinträchtigt wird. Darüber hinaus ist das Ermächtigungsverfahren im Interesse der mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betrauten Personen selber aufgestellt[7].

cc) Die Ziele des Ermächtigungsverfahrens können nur erreicht werden, wenn die Ermächtigung zu Beginn eines Strafverfahrens eingeholt wird. Wird das Ermächtigungsverfahren erst zu einem späteren Zeitpunkt und nach (umfangreichen) Untersuchungshandlungen eingeleitet, wird die Schutzfunktion unterlaufen. Verweigert die zuständige Behörde die Ermächtigung, so sind der Beschuldigte und die betroffene staatliche Institution regelmässig stärker tangiert als nach bloss dringlichen sichernden Massnahmen respektive nach den nötigen Erhebungen im Hinblick auf das Bewilligungsverfahren[8]. Die Ermächtigung zur Strafverfolgung ist daher im Voraus und möglichst frühzeitig einzuholen[9]. Dementsprechend bestimmt Art. 303 Abs. 1 StPO, dass bei Straftaten, die nur auf Antrag oder nach Ermächtigung verfolgt werden, ein Vorverfahren erst eingeleitet wird, wenn der Strafantrag gestellt oder die Ermächtigung erteilt wurde.

dd) Der Entscheid über die Erteilung der Ermächtigung zur Strafuntersuchung ist folglich demjenigen über die Anhandnahme eines Strafverfahrens beziehungsweise über die Einstellung eines eröffneten Strafverfahrens vorangestellt[10]. Der Fall ist mit den Akten unverzüglich der zuständigen Ermächtigungsbehörde vorzulegen[11]. Allerdings würde die strikte Anwendung des Grundsatzes nach Art. 303 Abs. 1 StPO den Erfolg der späteren Untersuchung bisweilen in Frage stellen. Flüchtige Beweismittel (Fingerabdrücke usw.) würden verloren gehen und der Beschuldigte hätte ausreichend Zeit, Beweismittel verschwinden zu lassen. Deshalb kann die zuständige Behörde gemäss Art. 303 Abs. 2 StPO schon vorher die unaufschiebbaren sichernden Massnahmen treffen. Unaufschiebbar sind sichernde Massnahmen, die im Hinblick auf die Durchführung des Verfahrens sachlich notwendig sind und in zeitlicher Hinsicht keinen Aufschub dulden, also nicht nachgeholt werden können. So muss es der zuständigen Behörde insbesondere erlaubt sein, bereits vor der Erteilung der Ermächtigung allenfalls vorhandene Beweismittel sicherzustellen[12].

2. a) Zusammenfassend hat die Staatsanwaltschaft bei Straftaten, die nur auf Ermächtigung verfolgt werden, möglichst früh um Ermächtigung zu ersuchen, damit der Zweck des Ermächtigungsverfahrens erfüllt werden kann. Grundsätzlich hat sie vor der Einholung der Ermächtigung keine Untersuchungshandlungen durchzuführen; davon ausgenommen sind unaufschiebbare sichernde Massnahmen im Sinn von Art. 303 Abs. 2 StPO. Weitergehende Abklärungen sind vor dem Ermächtigungsentscheid le­diglich zulässig, wenn sie im Hinblick auf einen begründeten Entscheid im Ermächtigungsverfahren unabdingbar erscheinen. Dazu gehört beispielsweise die Feststellung der möglichen Täterschaft, weil die Behandlung eines Ermächtigungsgesuchs «gegen Unbekannt» kaum möglich ist[13]. Welche Handlungen aber konkret notwendig sind, ist aufgrund der konkreten Umstände zu entscheiden.

b) aa) Dem Zweck des Ermächtigungsverfahrens wird somit nicht entsprochen, wenn im Fall von Strafanzeigen gegen Magistratspersonen vor dem Ermächtigungsentscheid eine Nichtanhandnahmeverfügung ergeht. Dem Grossen Rat kommt als Ermächtigungsbehörde eine grössere Kognition zu als dem Obergericht im Beschwerdeverfahren. So berücksichtigt er nicht nur die strafrechtliche Begründetheit der Vorwürfe gegen die Magistratsperson, sondern kann die Ermächtigung auch aufgrund staatspolitischer Überlegungen verweigern. Es scheint nicht sachgerecht, Magistratspersonen einem Beschwerdeverfahren nach Art. 393 ff. StPO auszusetzen und sie in die Lage zu versetzen, sich im Rahmen der Beschwerdeantwort[14] bereits materiell zu den Vorwürfen äussern zu müssen, bevor feststeht, ob die Ermächtigung überhaupt erteilt wird. Dies gilt insbesondere, weil sich die Magistratsperson für die Ausübung des ihr zustehenden rechtlichen Gehörs vom Amtsgeheimnis entbinden lassen muss[15]. Es soll daher grundsätzlich bereits vor Erlass einer Nichtanhandnahmeverfügung und vor einem allfälligen Beschwerdeverfahren ein Ermächtigungsverfahren durchgeführt werden, wo sichergestellt wird, dass beim Entscheid auch die politische Komponente zum Tragen kommt. Somit hat die Staatsanwaltschaft die Strafanzeige (mit allfälligen Beilagen) sofort nach deren Eingang (und einer allfälligen Ermittlung der möglichen Täterschaft) der Ermächtigungsbehörde vorzulegen.

bb) Von diesem Grundsatz kann nur abgewichen werden, wenn schon aufgrund der Strafanzeige selber zweifellos feststeht, dass diese missbräuchlich, mutwillig oder trölerisch angehoben wurde. Weiter kann auf die Ermächtigung verzichtet werden und direkt eine Nichtanhandnahmeverfügung ergehen, wenn notwendige Prozessvoraussetzungen eindeutig und definitiv fehlen, beispielsweise kein rechtzeitig eingereichter Strafantrag vorliegt[16], denn diesfalls würde die Ermächtigung zu einem blossen administrativen Leerlauf führen[17].

3. Vor diesem Hintergrund durfte die Generalstaatsanwaltschaft ohne weitere Abklärungen und somit auch ohne vorgängige Durchführung eines Ermächtigungsverfahrens die Nichtanhandnahme des Verfahrens gegen das Regierungsratsmitglied verfügen, sofern die Strafanzeige als eindeutig missbräuchlich, mutwillig oder trölerisch einzustufen ist.

Obergericht, 2. Abteilung, 5. November 2020, SW.2020.16


[1] Riedo/Boner, Basler Kommentar, 2.A., Art. 303 StPO N. 14; Landshut/Bosshard, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Hansjakob/Lieber), 2.A., Art. 303 N. 15

[2] Riedo/Boner, Art. 303 StPO N. 10; Riedo/Fiolka/Niggli, Strafprozessrecht sowie Rechtshilfe in Strafsachen, Basel 2011, N. 121

[3] Verantwortlichkeitsgesetz, RB 170.3

[4] BGE 135 I 115, 106 IV 44; Schmid, Handbuch des Schweizerischen Strafprozessrechts, 2.A., N. 177; vgl. BGE 137 IV 277 f.

[5] BGE 106 IV 44

[6] BGE 137 IV 277; BGE vom 1. September 2015, 1C_97/2015, Erw. 2.1

[7] BGE 111 IV 39, 106 Ib 277

[8] BGE 139 IV 164; der Entscheid bezog sich auf Art. 15 VG (Verantwortlichkeitsgesetz, SR 170.32), welcher die Ermächtigung für Behördenmitglieder und Beamte des Bundes regelt.

[9] BGE 139 IV 165

[10] BGE vom 23. April 2014, 1C_633/2013, Erw. 3.4

[11] Landshut/Bosshard, Art. 303 StPO N. 15

[12] BGE vom 22. Juli 2014, 1B_424/2013, 1B_436/2013, Erw. 4.4 (nicht publiziert in BGE 140 IV 108 ff.); Riedo/Boner, Art. 303 StPO N. 17 ff.

[13] Riedo/Boner, Art. 303 StPO N. 26 f.

[14] Art. 390 Abs. 2 StPO

[15] Art. 320 Ziff. 2 StGB

[16] Omlin, Basler Kommentar, 2.A., Art. 310 StPO N. 9

[17] Vgl. ZR 2013 Nr. 86 S. 300

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