RBOG 2020 Nr. 31
Erlass von Verfahrenskosten; Änderung der Rechtsprechung gemäss RBOG 2015 Nr. 29
Art. 425 StPO, Art. 112 Abs. 1 ZPO
1. a) Forderungen aus Verfahrenskosten können gemäss Art. 425 StPO gestundet oder unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse der kostenpflichtigen Person herabgesetzt oder erlassen werden. Zweck dieser Bestimmung ist die Unterstützung der Resozialisierung vorab der verurteilten beschuldigten Person. Denn eine Kostenauflage kann sie in Anbetracht der mitunter sehr hohen Auslagen finanziell ganz erheblich belasten und die Rückkehr in geordnete Verhältnisse erschweren[1]. Damit Art. 425 StPO zur Anwendung gelangt, müssen die wirtschaftlichen Verhältnisse der kostenpflichtigen Person derart angespannt sein, dass eine (ganz oder teilweise) Kostenauflage als unbillig erscheint. Dies ist dann der Fall, wenn die kostenpflichtige Person mittellos ist oder die Höhe der Kosten zusammen mit ihren übrigen Schulden die Resozialisierung beziehungsweise das finanzielle Weiterkommen von ihr und der von ihr unterstützten Personen ernsthaft gefährden kann. Bei einer verurteilten beschuldigten Person kann das aber auch der Fall sein, wenn die Kostenauflage sie und die von ihr unterstützten Personen finanziell entscheidend belastet und in keinem vernünftigen Verhältnis zur Höhe der Strafe steht[2].
b) Im Hinblick auf diese Zwecke ist gemäss herrschender Lehre[3] nicht einsichtig, weshalb Verfahrenskosten nur im Zeitpunkt des Vollzugs gestundet, herabgesetzt oder erlassen werden können. Um den gleichen Zweck zu erreichen, soll es der Strafbehörde schon im Zeitpunkt ihres Kostenentscheids erlaubt sein, auf die Erhebung von Verfahrenskosten ganz oder teilweise zu verzichten, wenn bereits dann offenkundig ist, dass die Kostenauflage zu einer unbilligen Härte für die an sich zahlungspflichtige Person führen wird. Ist dies der Fall, so ist auch keineswegs der Prozessökonomie gedient, wenn die Behörde später in einem Vollstreckungsverfahren über die Herabsetzung oder den Erlass befinden muss. Dafür spricht auch die systematische Stellung von Art. 425 StPO. So wurde diese Norm nicht in die Vollstreckungsbestimmungen im elften Titel der StPO eingereiht, sondern vielmehr unter die Bestimmungen über die Verfahrenskosten im zehnten Titel eingeordnet. Nichts anderes lässt sich aus dem Kommentar des Bundesrats in der Botschaft[4] zu dieser Bestimmung schliessen, der wie folgt lautet: «Im Rahmen der vom Bundesrat erlassenen Verordnung kann die zuständige Behörde die Gebühren nach ihrem Ermessen festsetzen, wobei sie den Kosten, die dem Staat erwachsen sind, Rechnung trägt. Für Gebühren wie für Auslagen gilt, dass die Behörde die finanzielle Lage der kostenpflichtigen Person berücksichtigen kann».
2. a) Vor diesem rechtstheoretischen Hintergrund sind die drei Kriterien, an denen die Generalstaatsanwaltschaft und das Obergericht Erlassgesuche in der Vergangenheit massen, einer kritischen Würdigung zu unterziehen. Angesprochen sind die Argumente der Opfersymmetrie[5], der zukünftigen Schuldenfreiheit[6] sowie der Karenzfrist[7]. Vorauszuschicken ist, dass sich diese Argumente nirgends in der Rechtsprechung des Bundesgerichts oder in der Lehre finden. Diese in RBOG 2015 Nr. 29[8] wiedergegebene «Thurgauer Praxis» geht, wie die Verweise zeigen, auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau aus dem Jahr 1985 zurück[9]. Diese Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts erweist sich indessen als nicht einschlägig: Zum einen ging es dort um die Anwendung von kantonalem Recht[10], während es hier mit Art. 425 StPO eine bundesrechtliche Bestimmung anzuwenden gilt. Zum anderen kann diese Rechtsprechung nur schon deshalb nicht angewendet werden, weil im Verwaltungsverfahrensrecht der Resozialisierungszweck, anders als bei der Anwendung von Art. 425 StPO, keine Rolle spielt. Ausserdem besteht Grund zur Annahme, dass bei einer strikten Anwendung der drei Kriterien letztlich niemand mehr in den Genuss eines Kostenerlasses kommt, obwohl das Bundesgericht klarstellte, dass das Gesetz die mögliche Privilegierung im Sinn von Art. 425 StPO ausdrücklich vorsehe, weshalb diese Bestimmung nicht in einer Weise auszulegen und anzuwenden sei, dass sie toter Buchstabe bleibe[11]. Nicht festzuhalten ist deshalb an dem in RBOG 2015 Nr. 29[12] wiedergegebenen Kriterium der zukünftigen Schuldenfreiheit. Eine solche Forderung erweist sich als unrealistisch und höhlt das gesetzliche Institut faktisch aus, weil bei überschuldeten Personen ein Erlass nur noch im Rahmen einer gesamthaften Schuldensanierung überhaupt möglich wäre. Eine solch weitreichende Folge lässt sich weder mit dem Wortlaut noch mit Sinn und Zweck von Art. 425 StPO vereinbaren. Auch das Kriterium der einjährigen Karenzfrist bedarf der Präzisierung respektive Relativierung: Mit diesem Argument kann auf einen Kostenerlass (nur) verzichtet werden, wenn feststeht, dass der die Kosten damals auferlegende Richter[13] die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schuldners auch tatsächlich geprüft und berücksichtigt hat, und zudem der Schuldner keine Änderung der Verhältnisse geltend macht. In allen anderen Fällen erweist sich dieses Argument als nicht stichhaltig. Schliesslich ist auch das Argument der Opfersymmetrie kein «Killerkriterium», wenn die bundesrechtlichen Vorgaben (Resozialisierungszweck) für einen Kostenerlass sprechen.
b) aa) Im Übrigen enthält RBOG 2015 Nr. 29 durchaus bedenkenswerte Erwägungen. So führte das Obergericht in jenem Entscheid mit Blick auf das Erfordernis der Mittellosigkeit des Gesuchstellers aus, dass ein strengerer Massstab als bei der Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege gelte[14]. Ausserdem müsse die Mittellosigkeit voraussichtlich länger andauern, weshalb eine bloss vorübergehende Mittellosigkeit nicht ausreiche[15]. Ferner führte das Obergericht in quantitativer Hinsicht aus, dass in der Regel kein Zuschlag zum Grundbetrag zu machen sei[16]. Ferner erwog das Obergericht, dass Mittellosigkeit insbesondere vorliege bei längerer Arbeitslosigkeit oder Aussteuerung ohne Aussicht auf eine zukünftige Anstellung, bei hohen familiären Unterhaltspflichten, die noch über Jahre andauerten, bei hohen Krankheits- und Pflegekosten der kostenpflichtigen Person, die nicht von Dritten – wie etwa Versicherungen – getragen würden, oder bei anderen ausserordentlichen Aufwendungen, die in den persönlichen Verhältnissen der kostenpflichtigen Person begründet seien und für die sie nicht einzustehen habe[17]. Sodann stellte das Obergericht klar, dass Mittellosigkeit allein nicht genüge. Der Erlass sei vielmehr von einer Interessenabwägung abhängig: Gegenüberzustellen seien die schutzwürdigen Interessen des Pflichtigen, die durch ein Weiterbestehen der Forderung betroffen würden, und die öffentlichen Interessen an einer gleichmässigen, konsequenten, aber auch kostendeckenden Durchsetzung staatlicher Ansprüche[18].
bb) Invalidenrenten gemäss IVG[19] und Ergänzungsleistungen des Bundes und der Kantone sind unpfändbar[20]. Klarzustellen ist jedoch, dass das Bestehen einer unpfändbaren Rente oder Ergänzungsleistung nicht automatisch zur Gewährung eines Kostenerlasses führt. So hat auch das Bundesgericht[21] betont, dass es keinen Anspruch auf Kostenerlass gebe; selbst im Fall eines dauerhaft mittellosen Betroffenen verbleibe es im Ermessen der Behörde, ob sie einem Gesuch um Erlass ganz oder teilweise Folge gebe. Dabei sei – so das Bundesgericht weiter – nicht zu verkennen, dass sich die Kostentragung als hart erweisen könne; dies sei aber eine gesetzliche Folge der Straftat. Insofern ist es dem Kostenpflichtigen durchaus zuzumuten, eine gewisse Zeit unter dem betreibungsrechtlichen Existenzminimum zu leben. Ausserdem ist nicht ausgeschlossen, dass jemand nebst einer unpfändbaren Rente über Vermögen verfügt; insofern kann für die Beurteilung der Mittellosigkeit im Zusammenhang mit dem Kostenerlass die unpfändbare Leistung aus Sozialversicherungsrecht nicht das alleinige Kriterium sein. Selbstverständlich sind aber im Rahmen einer allfälligen (späteren) Zwangsvollstreckung (der nicht erlassenen Kosten) die Bestim-mungen über die unpfändbaren respektive beschränkt pfändbaren Vermögenswerte im Sinn von Art. 92 f. SchKG massgeblich. Dafür, dass die über den Kostenerlass befindende Behörde nicht wie das Betreibungsamt bei einer Pfändung vorzugehen hat, spricht auch der Umstand, dass für das die Kosten auferlegende Gemeinwesen selbst ein definitiver Pfändungs- oder Konkursverlustschein bedeutsam sein kann, weil die durch den Verlustschein verurkundete Forderung erst nach 20 Jahren verjährt[22] und nicht ausgeschlossen ist, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse des Kostenpflichtigen wieder verbessern können[23]. Demgegenüber erlischt die Forderung bei einem Kostenerlass im Sinn von Art. 425 StPO unmittelbar und definitiv.
Obergericht, 2. Abteilung, 20. Februar 2020, SW.2020.5
[1] Domeisen, Basler Kommentar, 2.A., Art. 425 StPO N. 3; Riklin, Schweizerische Strafprozessordnung, Kommentar, 2.A., Art. 425 N. 1; Schmid/Jositsch, Handbuch des Schweizerischen Strafprozessrechts, 3.A., N. 1781
[2] Domeisen, Art. 425 StPO N. 4
[3] Domeisen, Art. 425 StPO N. 3; Schmid/Jositsch, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 3.A., Art. 425 N. 3; Griesser, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Hansjakob/Lieber), 2.A., Art. 425 N. 2
[4] Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 S. 1326
[5] Nach dem Kriterium der Opfersymmetrie darf ein Erlass nicht dazu dienen, dass der Staat als Einziger auf seine Forderung verzichtet, während die übrigen Gläubiger an ihren Forderungen festhalten.
[6] Nach diesem Kriterium ist ein Erlass nur möglich, wenn Gewähr dafür besteht, dass der Schuldner danach schuldenfrei ist.
[7] Nach diesem Kriterium sind weniger als 12 Monate ausstehende Kosten nicht zu erlassen.
[8] Erw. 3g. Dieser Entscheid erging zu § 64 Abs. 2 KESV und Art. 112 Abs. 1 ZPO.
[9] In RBOG 2015 Nr. 29 S. 241, wurde auf TVR 1985 Nr. 24 S. 115, TVR 1985 Nr. 8 S. 38 ff. sowie auf TVR 2012 Nr. 12 S. 77 verwiesen, welcher wiederum auf TVR 1985 Nr. 24 Bezug nahm (es ging um die Frage, ob die Grundsätze für natürliche Personen auf juristische Personen anwendbar seien).
[10] So ging es in TVR 1985 Nr. 24 um die VGV (Verordnung des Grossen Rates über die Gebühren der kantonalen Verwaltungsbehörden, RB 631.1) sowie die VGG (Verordnung des Grossen Rates über die Gebühren der Strafverfolgungs- und Gerichtsbehörden, RB 638.1).
[11] BGE vom 9. Dezember 2016, 6B_500/2016, Erw. 3
[12] Erw. 3g
[13] Bei Strafbefehlen ist dies der Staatsanwalt.
[14] Erw. 3f.aa
[15] Erw. 3f.bb
[16] Erw. 3f.cc
[17] Erw. 3h
[18] Erw. 3j
[19] Bundesgesetz über die Invalidenversicherung, SR 831.20
[20] Art. 92 Abs. 1 Ziff. 9a SchKG; Kostkiewicz, in: Schuldbetreibungs- und Konkursgesetz, Kurzkommentar (Hrsg.: Hunkeler), 2.A., Art. 92 N. 69
[21] BGE vom 9. Dezember 2016, 6B_500/2016, Erw. 3
[22] Art. 149a Abs. 1 und 265 Abs. 2 SchKG
[23] Zum Beispiel durch eine Erbschaft