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RBOG 2021 Nr. 5

Auferlegung von Kosten im Rahmen der freiwilligen Gerichtsbarkeit nicht ohne Anhörung der betroffenen Partei


Art. 92 OR, Art. 106 ZPO, Art. 107 Abs. 1 lit. f ZPO


1. A unterzeichnete eine Vereinbarung, welche unter anderem den Verkauf aller Aktien der B AG an die Beschwerdegegnerinnen regelte. In der Folge stellten die Beschwerdegegnerinnen ein Gesuch um gerichtliche Hinterlegung des Kaufpreises für die Aktien der B AG beim Bezirksgericht. Als Gegenparteien führten sie A und D (ein Verwaltungsrat der B AG) auf. Ohne einen Schriftenwechsel durchzuführen, bewilligte der Einzelrichter des Bezirksgerichts die Hinterlegung bei der Bank Z, verpflichtete A und D zur Tragung der Hinterlegungskosten und auferlegte ihnen Gerichtsgebühr sowie Parteientschädigung. Dagegen erhoben A und D Beschwerde und beantragten die Aufhebung der Kostentragungspflicht für die Hinterlegung sowie der Auferlegung der Verfahrensgebühr und Parteientschädigung.

2. a) Wenn der Gläubiger sich im Verzug befindet, so ist der Schuldner berechtigt, die geschuldete Sache auf Gefahr und Kosten des Gläubigers zu hinterlegen und sich dadurch von seiner Verbindlichkeit zu befreien[1]. Den Ort der Hinterlegung bestimmt das Gericht[2]. Die Hinterlegung kommt nur bei Sachleistungen, nicht aber bei anderen vertraglich geschuldeten Leistungen in Frage. Insbesondere eine Geldleistung kann hinterlegt werden[3].

b) Das Verfahren der Hinterlegung nach Art. 92 OR zählt zur freiwilligen Gerichtsbarkeit[4]. Allerdings ist der Begriff der freiwilligen Gerichtsbarkeit, wie ihn die Zivilprozessordnung verwendet[5], nicht definiert und wird vom Gesetzgeber eher als historische denn als technische Bezeichnung verstanden[6]. Zur freiwilligen Gerichtsbarkeit wird eine Vielzahl sehr heterogener Angelegenheiten gerechnet; in der Lehre ist dementsprechend umstritten, welche Eigenschaften die freiwillige Gerichtsbarkeit auszeichnen[7]. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung meint freiwillige Gerichtsbarkeit die Mitwirkung staatlicher Organe, seien es Gerichte oder Verwaltungsbehörden, bei der Begründung, Änderung oder Aufhebung von Privatrechtsverhältnissen[8]. Meist tritt nur eine Partei als Gesuchstellerin auf, doch kann es auch zu Mehrparteienverfahren kommen. Das Vorliegen eines Ein- oder Mehrparteienverfahrens bildet nicht das entscheidende Abgrenzungskriterium. Zudem mündet das Einparteienverfahren zwangsläufig in ein strittiges Zweiparteienverfahren, wenn eine Partei gegen Anordnungen der freiwilligen Gerichtsbarkeit Einspruch erhebt[9].

c) Die Zivilprozessordnung weist Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit in das Summarverfahren[10]. Es handelt sich um ein "atypisches"[11] Summarverfahren, weil das Gesetz den Untersuchungsgrundsatz vorschreibt und das Beweismass nicht beschränkt ist[12]. Zudem passt der kontradiktorische Ablauf des Summarverfahrens mit zumindest einem Schriftenwechsel[13] nicht auf alle Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Fehlt es an einer Gegenpartei, kann selbstredend kein Schriftenwechsel durchgeführt werden. Da die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit aber nicht zwingend Einparteienverfahren sind, muss das Gericht jeweils prüfen, ob die Interessen einer anderen Partei tangiert werden[14]. Der Anspruch auf rechtliches Gehör vor Erlass belastender Anordnungen[15] gilt grundsätzlich auch in Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit.

d) Im Zusammenhang mit den Prozesskosten sieht Art. 106 ZPO als Grundsatz die Kostenverteilung zwischen den Parteien nach Obsiegen und Unterliegen vor. Art. 107 ZPO enthält eine Reihe von Ausnahmetatbeständen, die dem Gericht erlauben, die Kosten nach Ermessen zu verteilen. Die in Art. 107 Abs. 1 lit. a bis f ZPO typisierten Fallgruppen erlauben dem Gericht, auf die Besonderheiten des Einzelfalls Rücksicht zu nehmen[16]. Auf das "atypische" Summarverfahren in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit ist die Regel in Art. 106 Abs. 1 ZPO nicht zugeschnitten[17]. In der Lehre wird dafür plädiert, Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit der Auffangklausel in Art. 107 Abs. 1 lit. f ZPO zuzuordnen und die Kosten fallspezifisch zu verlegen[18]. Die höchstrichterliche Rechtsprechung geht – zumindest bei Einparteienverfahren – vom Verursacherprinzip aus[19].

3. In Anwendung der dargelegten Grundsätze hätte die Vorinstanz das Hinterlegungsgesuch den Beschwerdeführern zur Stellungnahme zustellen müssen. Indem die Vorinstanz entschied, ohne die Beschwerdeführer im Verfahren zu begrüssen, verletzte sie deren Anspruch auf rechtliches Gehör. Dass es sich um eine Angelegenheit der freiwilligen Gerichtsbarkeit handelt, ändert daran nichts. Selbst wenn man in der Hauptsache einen Anspruch auf vorgängige Anhörung zum Hinterlegungsgesuch verneinen wollte, hätte den Beschwerdeführern zumindest zum Kostenpunkt das rechtliche Gehör gewährt werden müssen. Folge der vorinstanzlichen Gehörsverletzung ist, dass die Beschwerdeführer erstmals im Rechtsmittelverfahren geltend machen können, der Kaufpreis sei im Zeitpunkt des Hinterlegungsgesuchs bereits hinterlegt gewesen. Aufgrund der stark eingeschränkten Kognition im Beschwerdeverfahren kann dieser Sachverhalt hier nicht geprüft werden. Damit fällt eine Heilung der Gehörsverletzung ausser Betracht[20]. Zudem würden die Beschwerdeführer eine Instanz verlieren, wenn sich das Obergericht erstmals mit dem in der Beschwerde vorgetragenen Sachverhalt befassen müsste. Es würde gegen den bundesrechtlich vorgeschriebenen Grundsatz des Erfordernisses eines doppelten Instanzenzugs[21] verstossen, wenn der Sachverhalt erst in zweiter Instanz geprüft würde[22]. Die Beschwerde ist aus diesen Gründen zu schützen und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese einen Schriftenwechsel durchführt und danach gestützt auf die dargelegten Grundsätze die Kosten der Hinterlegung sowie die Kosten- und Entschädigungsfolgen des erstinstanzlichen Verfahrens neu regelt.

Obergericht, 1. Abteilung, 4. November 2021, ZR.2021.39


[1] Art. 92 Abs. 1 OR

[2] Art. 92 Abs. 2 OR

[3] Weber, Berner Kommentar, 2.A., Art. 92 OR N. 71 und 73; Leimgruber, Basler Kommentar, 7.A., Art. 92 OR N. 1 f.; Gross, in: Obligationenrecht, Kurzkommentar (Hrsg.: Honsell), Basel 2014, Art. 92 N. 1 f.

[4] Weber, Art. 92 OR N. 91; Leimgruber, Art. 92 OR N. 4; Gross, Art. 92 OR N. 3; Berger, Berner Kommentar, Bern 2012, Art. 1 ZPO N. 35; a.M. Jent-Sørensen, in: Schweizerische Zivilprozessordnung, Kurzkommentar (Hrsg.: Oberhammer/Domej/Haas), 3.A., Art. 248 N. 35; Gasser, in: Schweizerische Zivilprozessordnung (Hrsg.: Brunner/Gasser/Schwander), 2.A., Art. 1 N. 37

[5] Vgl. Art. 1 lit. b ZPO; Art. 248 lit. e ZPO

[6] Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung vom 28. Juni 2006, BBl 2006 S. 7258; Brüesch, Basler Kommentar, 3.A., Art. 19 ZPO N. 4

[7] Vgl. Jent-Sørensen, Art. 248 ZPO N. 22 ff.; Berger, Art. 1 ZPO N. 32 f.; Mazan, Basler Kommentar, 3.A., Art. 248 ZPO N. 11; Kaufmann, in: Schweizerische Zivilprozessordnung (Hrsg.: Brunner/Gasser/Schwander), 2.A., Art. 248 N. 11 f.

[8] BGE 136 III 182; BGE 118 Ia 476

[9] BGE 136 III 182; vgl. Jent-Sørensen, Art. 248 ZPO N. 31, wonach mit dem Übergang ins Zweiparteienverfahren ein Paradigmenwechsel stattfinden soll.

[10] Art. 248 lit. e ZPO; dies ergibt sich für Art. 92 OR aus Art. 250 lit. a Ziff. 3 ZPO.

[11] Mazan, Art. 248 ZPO N. 14

[12] Art. 255 lit. b ZPO; Mazan, Art. 248 ZPO N. 14

[13] Art. 253 ZPO

[14] Vgl. Jent-Sørensen, Art. 248 ZPO N. 30

[15] Art. 29 Abs. 2 BV; BGE 141 I 64; BGE 140 I 102 f.; BGE 134 I 148

[16] Vgl. BGE 141 III 427; BGE 139 III 35

[17] BGE 142 III 114

[18] Vgl. Schmid/Jent-Sørensen, in: Schweizerische Zivilprozessordnung, Kurzkommentar (Hrsg.: Oberhammer/Domej/Haas), 3.A., Art. 107 N. 10 mit Verweis auf Tappy, Commentaire Romand, 2.A., Art. 107 CPC N. 21 und 28 f.

[19] BGE 142 III 114; Rüegg/Rüegg, Basler Kommentar, 3.A., Art. 106 ZPO N. 1

[20] Vgl. Gehri, Basler Kommentar, 3.A., Art. 53 ZPO N. 34; Hurni, Berner Kommentar, Bern 2012, Art. 53 ZPO N. 83; Göksu, in: Schweizerische Zivilprozessordnung (Hrsg.: Brunner/Gasser/Schwander), 2.A., Art. 53 N. 44

[21] "Double instance"

[22] Vgl. BGE vom 28. Januar 2021, 4A_520/2020, Erw. 3

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