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RBOG 2021 Nr. 9

Entschädigungspflicht bei verspäteter Abweisung eines Gesuchs um unentgeltliche Rechtsverbeiständung


Art. 117 ZPO


1. Der Vermieter stellte beim Bezirksgericht ein Gesuch um Mieterausweisung gegen die Mieter. Das Bezirksgericht eröffnete ein Verfahren betreffend Rechtsschutz in klaren Fällen. Der Rechtsanwalt der Mieter stellte ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und -verbeiständung. Das Bezirksgericht schützte die Klage, auferlegte den Mietern die Gerichtskosten und sprach dem Vermieter eine Parteientschädigung zu. Das Gesuch der Mieter um unentgeltliche Rechtspflege und -verbeiständung wies es ab, wogegen die Mieter Beschwerde erhoben.

2. a) Das Gericht gewährt Rechtsschutz im summarischen Verfahren, wenn der Sachverhalt unbestritten oder sofort beweisbar ist, und wenn zudem die Rechtslage klar ist[1]. Die erste Voraussetzung - ein klarer Sachverhalt - ist erfüllt, wenn die Gegenseite den Sachvortrag des Gesuchstellers nicht bestreitet oder wenn es Letzterem gelingt, den Sachverhalt substantiiert und schlüssig darzulegen[2]. Die zweite Voraussetzung ist gegeben, wenn die Rechtsanwendung unter Berücksichtigung von Lehre und Rechtsprechung ohne weiteres zu einem eindeutigen Ergebnis führt[3]. Die Rechtsfolge muss sich gleichsam aufdrängen[4]. Ein klarer Fall ist dann zu verneinen, wenn die beklagte Partei substantiiert und schlüssig Einwendungen vorträgt, die in tatsächlicher Hinsicht nicht sofort widerlegt werden können und die geeignet sind, die bereits gebildete richterliche Überzeugung zu erschüttern[5].

b) Eine Person hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn sie nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und ihr Rechtsbegehren nicht aussichtlos erscheint[6]. Als aussichtslos gelten Begehren, deren Gewinnaussichten beträchtlich geringer sind als die Verlustgefahren und die deshalb kaum als ernsthaft bezeichnet werden können. Dagegen gilt ein Begehren nicht als aussichtslos, wenn sich Gewinnaussichten und Verlustgefahren ungefähr die Waage halten oder jene nur wenig geringer sind als diese. Massgebend ist, ob eine Partei, die über die nötigen Mittel verfügt, sich bei vernünftiger Überlegung zu einem Prozess entschliessen würde. Eine Partei soll einen Prozess, den sie auf eigene Rechnung und Gefahr nicht führen würde, nicht deshalb anstrengen können, weil er sie nichts kostet[7].

c) Nach ständiger, bereits unter Herrschaft der thurgauischen Zivilprozessordnung[8] geltender Praxis sind die Anspruchsvoraussetzungen der Aussichtslosigkeit im Zeitpunkt der Gesuchstellung zu prüfen[9]. Der Gesuchsteller hat in diesem Sinn ein Recht auf Vorausbeurteilung[10]. Das bedeutet aber nicht, das Gericht müsse in jedem Fall sofort entscheiden. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist die Beurteilung eines Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege zusammen mit dem Endentscheid in denjenigen Fällen nicht zu beanstanden, in denen das Gesuch mit der Eingabe in der Hauptsache verbunden wird und keine weiteren Vorkehren des Rechtsvertreters erforderlich sind. Anders verhält es sich aber, wenn der Rechtsvertreter nach Einreichung des Gesuchs gehalten ist, weitere Verfahrensschritte zu unternehmen. In diesen Fällen erscheint ein zeitnaher Entscheid unabdingbar, damit Klient und Rechtsvertreter sich über das finanzielle Verfahrensrisiko Klarheit verschaffen können. Mit dem aus Art. 29 Abs. 1 BV fliessenden Fairnessgebot wäre es nicht zu vereinbaren, wenn das Gericht zuwartet und dadurch allenfalls ungedeckte Prozesskosten bei der gesuchstellenden Partei (beziehungsweise ihrem Rechtsvertreter) verursacht[11].

d) Verletzt das Gericht den dargelegten Anspruch auf Vorausbeurteilung, so stellt sich die Frage nach den Rechtsfolgen. Die Zivilprozessordnung äussert sich dazu nicht. Massgebend für die Rechtsfolgebestimmung muss der Zweck der Vorausbeurteilung sein. Diese dient dazu, frühzeitig Klarheit über das Kostenrisiko zu schaffen. Durch die verspätete Beurteilung nimmt das Gericht der Partei und ihrem Rechtsvertreter die Möglichkeit, in Kenntnis eines abschlägigen Entscheids darüber zu entscheiden, wie sie weiterverfahren wollen. Aus Sicht des betroffenen Rechtsanwalts wird namentlich die Frage nach einem Kostenvorschuss aktuell werden, wenn das Gesuch abgelehnt wird. Vor diesem Zeitpunkt darf der Rechtsvertreter keinen Kostenvorschuss für Bemühungen erheben, die Gegenstand des Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege bilden[12]. Aus anwaltlicher Sicht ist der Zeitpunkt der Gesuchsbewilligung deshalb entscheidend für weitere Dispositionen im Mandatsverhältnis. Als einzige Rechtsfolge, welche den durch Zeitablauf erlittenen Nachteil wirksam ausgleicht, fällt in Betracht, den Gesuchsteller so zu stellen, wie wenn das Gesuch zeitnah beurteilt worden wäre. Sofern alle Voraussetzungen der unentgeltlichen Rechtspflege erfüllt sind, ist der Offizialvertreter deshalb für alle getroffenen Aufwendungen zu entschädigen. Im Gegenzug sind Aufwendungen, die auch bei zeitnaher Erledigung angefallen wären, bei Abweisung des Gesuchs nicht zu entschädigen.

3. a) Zuerst ist auf die Rüge einzugehen, die Vorinstanz sei zu Unrecht von Aussichtslosigkeit ausgegangen.

aa) Der massgebende Sachverhalt ist nicht umstritten. Insbesondere wendeten sich die Beschwerdeführer in ihrer Gesuchsantwort nicht substantiiert gegen die im Ausweisungsgesuch und in den Kündigungen zusammengefassten Sachverhalte. Die Vorinstanz durfte vor diesem Hintergrund von einem klaren Sachverhalt im Sinn von Art. 257 ZPO ausgehen.

bb) Der zu beurteilende Mietvertrag ersetzte ein früheres Vertragswerk und die Parteien hielten in Ziffer 16 des Vertrags verschiedene Verhaltenspflichten der Beschwerdeführer fest. Aus dieser Vertragsziffer ergibt sich, dass es bereits in der Vergangenheit zu erheblichen und grundlegenden Unstimmigkeiten im Mietverhältnis gekommen ist. Bei dieser Ausgangslage durfte die Vor­instanz von einer klaren Rechtslage ausgehen: Zum einen erfüllt Ziffer 16 des Mietvertrags die Funktion einer schriftlichen Abmahnung im Sinn von Art. 257f Abs. 3 OR, zum anderen hätte sich im konkreten Fall die schriftliche Abmahnung als formalistischer Leerlauf herausgestellt, weil die Beschwerdeführer systematisch die Post des Vermieters nicht entgegennahmen. Entgegen den Vorbringen in der Beschwerde traf die Vorinstanz auch keinen Ermessensentscheid (im Sinn von Art. 4 ZGB). Vielmehr ist die vorinstanzliche Schlussfolgerung das Ergebnis einer teleologischen Interpretation von Art. 257f OR. Das Ergebnis dieser Auslegung ist klar im Sinn von Art. 257 ZPO.

cc) Der von den Beschwerdeführern vertretene Rechtsstandpunkt muss überdies als aussichtlos bezeichnet werden. Auch wenn es verständlich ist, dass sie sich gegen die Ausweisung zunächst zur Wehr setzten, erfüllen die im Ausweisungsgesuch und in den Kündigungen erwähnten (und nicht substantiiert bestrittenen) Verfehlungen offensichtlich die Voraussetzungen für eine ausserordentliche Kündigung. Der Umstand, wonach die Beschwerdeführer als Gesuchsgegner unfreiwillig vom Verfahren betroffen seien, führt noch nicht dazu, dass ihr Standpunkt, nämlich die Abweisung des Rechtsbegehrens, per se Aussicht auf Erfolg hat. Damit fehlt es an einer der kumulativ zu erfüllenden Voraussetzungen für die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.

b) Zu prüfen bleibt, ob das Vorgehen der Vorinstanz trotzdem den Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege begründet.

aa) Im vorinstanzlichen Verfahren liessen die Beschwerdeführer am 17. April 2021 ein unbegründetes Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege stellen und kündeten schnellstmöglich eine nähere Begründung an. Gestützt auf diese Eingabe konnte und musste die Vorinstanz das Gesuch nicht beurteilen. Am 22. April 2021 folgte das ausführlich begründete Gesuch. Die Beschwerdeführer legten ihre Bedürftigkeit dar und hielten zur Aussichtslosigkeit fest, diese sei nicht zu prüfen, da sie - als Gesuchsgegner - ins Verfahren hineingezogen worden seien. Am 25. Mai 2021 erstatteten die Beschwerdeführer die Gesuchsantwort. Am 28. Mai 2021 reichte der Rechtsvertreter der Beschwerdeführer die Honorarnote ein, verbunden mit der Bemerkung, das Gericht habe keinen zweiten Schriftenwechsel angeordnet. Indessen hatte die Vorinstanz zwei Tage vorher, am 26. Mai 2021, dem Beschwerdegegner eine Frist für die Replik angesetzt. Am 2. Juni 2021 eröffnete die Vorinstanz den Beschwerdeführern eine Frist für die Duplik. Sie führte demnach einen zweiten Schriftenwechsel durch, ohne das Gesuch vom 22. April 2021 zu behandeln. Dadurch verletzte die Vorinstanz den Anspruch der Beschwerdeführer auf Vorausbeurteilung des Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege.

bb) Es ergibt sich, dass die Vorinstanz zwar zu Recht von Aussichtslosigkeit ausging, aber den Anspruch auf Vorausbeurteilung des Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege verletzte. Als Rechtsfolge sind die Beschwerdeführer so zu stellen, als wäre ihr Gesuch fristgerecht behandelt worden. Die Honorarnote des Rechtsanwalts erweist sich für das vorinstanzliche Verfahren als angemessen. Bis und mit 22. April 2021 (Datum der begründeten Gesuchstellung) fielen 2.25 Stunden an. Hätte die Vorinstanz umgehend über das Gesuch vom 22. April 2021 entschieden, wären die Beschwerdeführer für diesen anwaltlichen Aufwand nicht entschädigt worden. Diese Positionen sind auch im vorliegenden Verfahren nicht ersatzfähig, andernfalls würden die Beschwerdeführer von der verzögerten Anspruchsprüfung durch die Vorinstanz profitieren. Der nach dem 22. April 2021 angefallene Aufwand hingegen ist vollumfänglich ersatzfähig. Der überwiegende anwaltliche Aufwand fiel Anfang Mai 2021 und im Juni 2021 an. Bis zu diesem Zeitpunkt hätte die Vorinstanz über das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege entscheiden können beziehungsweise entscheiden müssen. Demnach sind die Beschwerdeführer im Umfang von 5,67 Stunden[13] zu entschädigen. Der Stundenansatz für den unentgeltlichen Rechtsvertreter beträgt Fr. 200.00.

cc) In Bezug auf die Verfahrenskosten hat der Umstand, dass über das Gesuch erst später entschieden wurde, keinen Einfluss, denn diese wären ohnehin angefallen.

Obergericht, 1. Abteilung, 29. Juli 2021, ZR.2021.31


[1] Art. 257 Abs. 1 ZPO

[2] BGE 144 III 464; BGE 141 III 26

[3] BGE 138 III 126

[4] "S’impose de façon évidente"; BGE 144 III 464

[5] BGE 144 III 464; BGE vom 26. Mai 2020, 4A_623/2019, Erw. 2

[6] Art. 117 lit. a und lit. b ZPO

[7] BGE 142 III 139 f.; BGE 139 III 476; BGE 105 Ia 113 f.

[8] RBOG 2001 Nr. 41 Erw. 2a; Merz, Die Praxis zur thurgauischen Zivilprozessordnung, 2.A., § 80 N. 14c

[9] BGE 139 III 476 f.; BGE 138 III 218; BGE 133 III 617; BGE 101 Ia 34; Bühler, Berner Kommentar, Bern 2012, Art. 117 ZPO N. 253 ff.; Emmel, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (Hrsg.: Sutter-Sohm/Hasenböhler/Leuenberger), 3.A., Art. 120 N. 3; Huber, in: Schweizerische Zivilprozessordnung (Hrsg.: Brunner/Gasser/Schwander), 2.A., Art. 117 N. 60; Jent-Sørensen, in: Schweizerische Zivilprozessordnung, Kurzkommentar (Hrsg.: Oberhammer/Domej/Haas), 3.A., Art. 120 N. 5; Rüegg/Rüegg, Basler Kommentar, 3.A., Art. 117 ZPO N. 4; Meichssner, Das Grundrecht auf unentgeltliche Rechtspflege (Art. 29 Abs. 3 BV), Diss. Basel 2008, S. 108 f; Wuffli, Die unentgeltliche Rechtspflege in der Schweizerischen Zivilprozessordnung, Diss. Bern 2015, N. 368 ff.; Wuffli/Fuhrer, Handbuch unentgeltliche Rechtspflege im Zivilprozess, Zürich/St. Gallen 2019, N. 414

[10] Bühler, Art. 117 ZPO N. 253

[11] BGE vom 11. April 2011, 4A_20/2011, Erw. 7.2.2, bestätigt in BGE vom 2. März 2020, 4A_110/2020; BGE vom 26. August 2019, 4D_44/2019; Bühler, Art. 117 ZPO N. 257 f.

[12] Vgl. BGE 142 II 312

[13] 7,92 Stunden - 2,25 Stunden

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