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RBOG 2022 Nr. 21

Keine Prüfung der Voraussetzungen von vorsorglichen Massnahmen nach Art. 261 Abs. 1 ZPO bei der negativen Feststellungsklage gemäss Art. 85a SchKG


Art. 85 a SchKG Art. 261 Abs. 1 ZPO


  1. a)    Gegen die Berufungskläger läuft je eine Lohnpfändung. Sie reichten beim Bezirksgericht eine Feststellungs- und Rückforderungsklage gestützt auf Art. 85a f. SchKG ein und beantragten als vorsorgliche Massnahme, das Betreibungsamt sei anzuweisen, die Betreibungen gegen sie vorläufig einzustellen und die Verteilung von gepfändeten Beträgen an die Berufungsbeklagten auszusetzen, bis das Hauptsacheverfahren betreffend die negative Feststellungsklage und die Aufhebung der Betreibung rechtskräftig abgeschlossen sei.

    b)    Die Einzelrichterin des Bezirksgerichts wies das Gesuch um vorsorgliche Massnahmen mangels hinreichender Substantiierung ab. Insbesondere seien weder die zeitliche Dringlichkeit der beantragten vorläufigen Einstellungen der Betreibungen noch der nicht leicht wiedergutzumachende Nachteil durch die Aussetzung der Verteilung der gepfändeten Beträge genügend glaubhaft gemacht worden. Dagegen erhoben die Berufungskläger Berufung.

  2. a)    Nach Art. 85a Abs. 1 SchKG kann der Betriebene ungeachtet eines allfälligen Rechtsvorschlags jederzeit vom Gericht des Betreibungsorts feststellen lassen, dass die Schuld nicht oder nicht mehr besteht oder gestundet ist. Erscheint dem Gericht die Klage als sehr wahrscheinlich begründet, so stellt es die Betreibung vorläufig ein; in der Betreibung auf Pfändung oder auf Pfandverwertung vor der Verwertung oder, wenn diese bereits stattgefunden hat, vor der Verteilung[1]. Bei der vorläufigen Einstellung der Betreibung nach Art. 85a Abs. 2 SchKG handelt es sich um eine besondere vorsorgliche Massnahme mit eigenen inhaltlichen Vorgaben, wobei Art. 269 lit. a ZPO die Bestimmungen des SchKG über sichernde Massnahmen bei der Vollstreckung von Geldforderungen ausdrücklich vorbehält[2]. Die Möglichkeit der vorläufigen Einstellung der Betreibung nach Art. 85a Abs. 2 SchKG stellt eine abschliessende Ordnung dar[3] Dabei legt der Gesetzestext nahe, wenn auch nicht eindeutig, dass das Gericht hier von Amtes wegen auch ohne entsprechenden Antrag des Betriebenen zu prüfen hat, ob diese vorsorgliche Massnahme getroffen werden soll[4].

    b)    Nach Eingang der Klage hat das Gericht die Parteien anzuhören und die bereits vorgelegten Beweismittel zu würdigen[5]. Dies erfolgt im Hinblick auf die vom Gericht zu treffende Hauptsachenprognose, ob die negative Feststellungsklage "sehr wahrscheinlich begründet" ist. Das Beweismass für die Hauptsachenprognose ist höher als jenes der üblicherweise für vorsorgliche Massnahmen verlangten überwiegenden Wahrscheinlichkeit. "Sehr wahrscheinlich begründet" bedeutet, dass die Prozesschance des Schuldners deutlich besser erscheinen muss, als jene des Gläubigers. Anders als beim Glaubhaftmachen genügt ein blosses Überwiegen der Prozesschancen des Klägers nicht; umgekehrt kann auch keine offensichtlich begründete Begründetheit verlangt werden[6].

    c)    aa)    Betreibungsrechtliches Ziel der negativen Feststellungsklage nach Art. 85a SchKG ist die Aufhebung oder Einstellung der Betreibung. Entsprechend hat die Klage nur während laufender Betreibung einen Sinn, das heisst, solange eine Betreibung vorliegt, die überhaupt noch eingestellt oder aufgehoben werden kann. In der Betreibung auf Pfändung muss die Klage vor Verteilung des Verwertungserlöses angehoben werden. Der Betreibungsschuldner ist nicht mehr "Betriebener" im Sinn des Gesetzes, wenn die Fristen zur Stellung des Fortsetzungsbegehrens[7] oder des Verwertungsbegehrens[8] im Fall der Betreibung auf Pfändung unbenutzt abgelaufen sind. Auf eine nach diesem Zeitpunkt anhängig gemachte Feststellungsklage nach Art. 85a SchKG darf somit nicht mehr eingetreten werden[9]. Ein Verwertungsbegehren ist nicht erforderlich, wenn sich das gepfändete Objekt selbst in Schweizer Geld umgesetzt hat[10]. Solange bei einer Lohnpfändung der Arbeitgeber die gepfändeten Beträge monatlich an das Betreibungsamt überweist, bedarf es keines Verwertungsbegehrens[11]

          bb)    Art. 85a Abs. 2 SchKG bestimmt nach einhelliger Lehre und bundesgerichtlicher Rechtsprechung wiederum nicht etwa den spätestmöglichen Zeitpunkt in dem Sinn, dass eine vorläufige Einstellung jederzeit, das heisst auch vor einer Pfändung erfolgen könnte, solange dies vor der Verwertung beziehungsweise Verteilung geschehe. Vielmehr hat das Gericht das Betreibungsverfahren so lange laufenzulassen, bis der Gläubiger durch dieses selbst Sicherheit für die Forderung erhält, das heisst in der Spezialexekution bis zur Pfändung. Vorher kann die Betreibung nicht vorläufig eingestellt werden[12].

  3. a)    In den Betreibungen für die geltend gemachte Forderung der Berufungsbeklagten wurde die Pfändung der künftigen Einkommen der Berufungskläger verfügt. Aus den Akten geht hervor, dass die gepfändeten Beträge regelmässig von den Arbeitgebern der Berufungskläger an das Betreibungsamt überwiesen werden. Die Stellung eines Verwertungsbegehrens ist nicht notwendig. Die Feststellungsklage nach Art. 85a SchKG kann somit während laufender Lohnpfändung erhoben werden (allerdings nur für denjenigen Teil des gepfändeten Einkommens, welcher noch nicht an die Berufungsbeklagten verteilt wurde), wobei in diesem Verfahrensstadium auch die vorläufige Einstellung der Betreibung nach Art. 85a Abs. 2 SchKG möglich ist.

    b)    Da das Gericht auch von Amtes wegen zu prüfen hat, ob die vorläufige Einstellung der Betreibung als vorsorgliche Massnahme im Sinn von Art. 85a Abs. 2 SchKG angeordnet werden soll, mussten die Berufungskläger als Gesuchsteller im vorinstanzlichen Verfahren nicht darlegen, dass im Übrigen die (allgemeinen) Voraussetzungen von Art. 261 ZPO für den Erlass vorsorglicher Massnahmen vorliegen. Es traf sie ‑ entgegen der Ansicht der Vorinstanz ‑ somit keine Substantiierungspflicht. Dies betrifft sowohl die Voraussetzung der zeitlichen Dringlichkeit als auch der Drohung eines nicht leicht wiedergutzumachenden Nachteils. Diese beiden Voraussetzungen, welche im allgemeinen Massnahmenverfahren nach Art. 261 ZPO verlangt werden, sind der besonderen vorsorglichen Massnahme von Art. 85a Abs. 2 SchKG bereits inhärent: Art. 85a SchKG soll dem Betriebenen die Möglichkeit geben, zu verhindern, dass er zur Vermeidung der Vollstreckung in sein Vermögen dem Betreibenden eine Nichtschuld oder eine Schuld vor Fälligkeit bezahlen muss. Der Betriebene erreicht diesen Zweck indessen nur dann, wenn das Gericht nach Anhörung der Parteien und Würdigung der Beweismittel die negative Feststellungsklage als sehr wahrscheinlich begründet erachtet und deshalb die Betreibung vorläufig einstellt. Erlangt der Betriebene diesen vorläufigen Schutz nicht und wird dementsprechend der Konkurs eröffnet oder werden die Pfändungsstücke verwertet, so wird der Kläger zwar möglicherweise einen weitergeführten Feststellungsprozess gewinnen, inzwischen jedoch entweder zur Abwendung von Pfändung, Pfandverwertung oder Konkurs die Betreibungsforderung bezahlen oder die Pfändung beziehungsweise Pfandverwertung und die darauffolgende Verteilung hinnehmen und eine Rückforderungsklage nach Art. 86 SchKG anstreben müssen[13].

    c)    Demzufolge kann das Gesuch um vorläufige Einstellung der Betreibungen nicht mit der Begründung abgewiesen werden, das Massnahmegesuch sei nicht hinreichend substantiiert worden. Insbesondere die allgemeinen Voraussetzungen für den Erlass einer vorsorglichen Mass­nahme von Art. 261 ZPO ‑ die zeitliche Dringlichkeit und der nicht leicht wiedergutzumachende Nachteil - ergeben sich bereits aus der Art. 85a SchKG zugrundeliegenden Konstellation und sind bei der Prüfung der vorläufigen Einstellung der Betreibung nach Art. 85a Abs. 2 SchKG nicht mass­gebend.

    Obergericht, 2. Abteilung, 24. Februar 2022, ZBS.2022.4


[1]  Art. 85a Abs. 2 Ziff. 1 SchKG

[2]  BGE vom 16. April 2020, 4A_580/2019, Erw. 3.3; Vock/Aepli-Wirz, in: Kommentar zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs (Hrsg.: Kren Kostkiewicz/Vock), 4.A., Art. 85a N. 10; Terekhov, Neuerung im Betreibungsregisterrecht ‑ von den diversen Schwachstellen des Art. 8a Abs. 3 lit. d SchKG, in: zzz 2019 S. 230

[3]  BGE vom 16. April 2020, 4A_580/2019, Erw. 3.3; Huber, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (Hrsg.: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger), 3.A., Art. 269 N. 5; Güngerich, Berner Kommentar, Bern 2012, Art. 269 ZPO N. 11

[4]  Bangert, Basler Kommentar, 3.A., Art. 85a SchKG N. 19; Brönnimann, in: Schuldbetreibungs- und Konkursgesetz, Kurzkommentar (Hrsg.: Hunkeler), 2.A., Art. 85a N. 12

[5]  Art. 85a Abs. 2 SchKG

[6]  Bangert, Art. 85a SchKG N. 19 und 21; Vock/Aepli-Wirz, Art. 85a SchKG N. 12; Brönnimann, Art. 85a SchKG N. 11; Wagner, Die negative Feststellungsklage nach Art. 85a SchKG, in: AJP 2021 S. 1463; Terekhov, S. 230

[7]  Art. 88 Abs. 2 SchKG

[8]  Art. 116 Abs. 2 i.V.m. Art. 121 SchK  Bangert, Art. 85a SchKG N. 14; Brönnimann, Art. 85a SchKG N. 6 ff.

[9]  Bangert, Art. 85a SchKG N. 14; Brönnimann, Art. 85a SchKG N. 6 ff.

[10] Frey/Staible, Basler Kommentar, 3.A., Art. 116 SchKG N. 8; Rüetschi, in: Schuldbetreibungs- und Konkursgesetz, Kurzkommentar (Hrsg.: Hunkeler), 2.A., Art. 116 N. 7

[11] Frey/Staible, Art. 116 SchKG N. 31; Rüetschi, Art. 116 SchKG N. 25

[12] BGE vom 16. April 2020, 4A_580/2019, Erw. 3.3; Bangert, Art. 85a SchKG N. 22; Vock/Aepli-Wirz, Art. 85a SchKG N. 13; Brönnimann, Art. 85a SchKG N. 14

[13] Bangert, Art. 85a SchKG N. 10


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