Skip to main content

RBOG 2022 Nr. 29

Nichtanhandnahme einer Strafuntersuchung wegen Beschimpfung bei Retorsion


Art. 177 Abs. 3 StGB Art. 310 StPO


  1. Der Beschwerdeführer stellte bei der Polizei Strafantrag gegen den Beschwerdegegner, weil Letzterer ihn mit den Worten "Ficksch jetzt alli?" beschimpft habe. Damit habe der Beschwerdegegner wohl die Freundin des Beschwerdeführers und deren ‑ bei der Beschimpfung anwesende ‑ Schwiegertochter gemeint. Der Beschwerdeführer habe daraufhin vor sich hingesagt: "Kein Wunder bist du nicht Schweizer geworden", und dass der Beschwerdegegner ein "dummer Siech" sei. Die Staatsanwaltschaft verzichtete im angefochtenen Entscheid gestützt auf Art. 8 StPO auf eine Strafverfolgung wegen Retorsion im Sinn von Art. 177 Abs. 3 StGB. Dagegen erhob der Beschwerdeführer Beschwerde.

  2. Gestützt auf Art. 310 Abs. 1 StPO verfügt die Staatsanwaltschaft die Nichtanhandnahme, sobald aufgrund der Strafanzeige oder des Polizeirapports feststeht, dass die fraglichen Straftatbestände oder die Prozessvoraussetzungen eindeutig nicht erfüllt sind (lit. a), Verfahrenshindernisse bestehen (lit. b) oder aus den in Art. 8 StPO genannten Gründen auf eine Strafverfolgung zu verzichten ist (lit. c). Gemäss Art. 8 Abs. 1 StPO sehen Staatsanwaltschaft und Gerichte von der Strafverfolgung ab, wenn das Bundesrecht es vorsieht, namentlich unter den Vor­aussetzungen der Art. 52, 53 und 54 StGB. Sie verfügen in diesen Fällen, dass kein Verfahren eröffnet oder das laufende Verfahren eingestellt wird[1]. Die Aufstellung in Art. 8 Abs. 1 StPO ist nicht abschliessend; die Bestimmung erfasst sämtliche denkbaren Fälle, in denen das Bundesrecht ein Absehen von Strafverfolgung ermöglicht oder gebietet[2]. Darunter fallen nicht nur Bundesbestimmungen, die den Verzicht auf die Strafverfolgung vorsehen, sondern auch solche, die die Strafbefreiung ermöglichen[3]. Gemäss Art. 310 Abs. 2 StPO richtet sich das Verfahren im Übrigen nach den Bestimmungen über die Verfahrenseinstellung. Die Einstellung ist gestützt auf Art. 319 Abs. 1 lit. e StPO (unter anderem) zulässig, wenn nach gesetzlicher Vorschrift auf Strafverfolgung oder Bestrafung verzichtet werden kann.

  3. a)    aa)    Wer jemanden in anderer Weise durch Wort, Schrift, Bild, Gebärde oder Tätlichkeiten in seiner Ehre angreift, wird nach Art. 177 Abs. 1 StGB, auf Antrag, mit Geldstrafe bis zu 90 Tagessätzen bestraft. Hat der Beschimpfte durch sein ungebührliches Verhalten zu der Beschimpfung unmittelbar Anlass gegeben, so kann der Richter den Täter gemäss Art. 177 Abs. 2 StGB von Strafe befreien. Ist die Beschimpfung unmittelbar mit einer Beschimpfung oder Tätlichkeit erwidert worden, so kann der Richter gestützt auf Art. 177 Abs. 3 StGB einen oder beide Täter von Strafe befreien.

          bb)    Bei den Bestimmungen von Art. 177 Abs. 2 StGB (Provokation) und Art. 177 Abs. 3 StGB (Retorsion) handelt es sich nicht um Rechtfertigungs-, sondern um fakultative Strafbefreiungsgründe[4]. Abs. 2 ist ein Spezialfall zu Art. 48 lit. b StGB[5]; Abs. 3 stellt wiederum einen Spezialfall zu Abs. 2 dar[6].

          cc)    Das Bundesgericht sieht den Grund für die Strafbefreiung vor allem im Affekt des Täters. Das Gesetz zwingt jedoch nicht zu so enger Auslegung: Wie bei Abs. 3 lässt es hier im Bagatellbereich Selbstjustiz zu[7]. Der Richter kann von Strafe absehen, wenn die streitenden Teile sich selber schon an Ort und Stelle Gerechtigkeit verschafft haben und der Streit zu unbedeutend ist, als dass das öffentliche Interesse nochmalige Sühne verlangen würde[8].

    b)    aa)    Nach dem Wortlaut von Art. 177 Abs. 3 StGB kann das Gericht einen oder beide Täter von Strafe befreien. Daraus folgern Trechsel/Lehmkuhl, nur der urteilende Richter sei zum Entscheid gemäss Art. 177 Abs. 3 StGB zuständig, nicht die Untersuchungsorgane[9]. Die bei Trechsel/Lehmkuhl für ihre Meinung angeführten Entscheide ‑ RS 1974 Nr. 758 und PKG 1991 Nr. 50 ‑ stammen jedoch aus der Zeit (weit) vor Erlass der StPO.

          bb)    Hingegen erläutert Ege, während nach früherer Gesetzesordnung teilweise davon ausgegangen worden sei, dass nur der urteilende Richter für den Entscheid über die Strafbefreiung zuständig sei, ermögliche Art. 319 Abs. 1 lit. e StPO der Staatsanwaltschaft heute die Verfahrenseinstellung im Vorverfahren[10]. Fiolka/Riedo sehen es ebenso: In manchen Bestimmungen des Bundesrechts ist ihnen gemäss nur davon die Rede, dass der Richter von Strafe absieht. In all diesen Fällen komme nun aber nach Massgabe von Art. 8 StPO, der dem Absehen von Strafe eine neue Gestalt verliehen habe, eine Einstellung durch Staatsanwaltschaft und Gericht in Betracht. Auch in all diesen Fällen wäre es nämlich unsinnig, die Ermittlungen voranzutreiben oder die Angelegenheit gar vor Gericht zu bringen, obwohl feststehe, dass bei einem beliebigen Schuldigen von Strafe abzusehen wäre[11]. Und auch Riklin hält dafür, dass Art. 319 Abs. 1 lit. e StPO die Staatsanwaltschaft bei Vorliegen der Voraussetzungen bereits im Vorverfahren ermächtigt, aus Gründen der Opportunität das Verfahren einzustellen[12]. Grädel/Heiniger präzisieren sodann, aufgrund des Gesetzestextes und der Materialien könne als gesichert gelten, dass das Verfahren auch dann eingestellt werden dürfe, wenn das materielle Recht keine Verfahrenseinstellung, sondern nur eine Strafbefreiung vorsehe[13].

          cc)    Unter der Herrschaft der StPO ist somit nicht ersichtlich, weshalb Art. 177 Abs. 2 und 3 StGB nicht eine gesetzliche Vorschrift im Sinn von Art. 319 Abs. 1 lit. e StPO sein sollte, beziehungsweise diese nicht unter Art. 310 Abs. 1 lit. c i.V.m. Art. 8 Abs. 1 StPO fallen sollte. Die StPO als jüngeres Recht geht diesbezüglich älterem Recht von Art. 177 Abs. 2 und 3 StGB vor. Damit ist die Staatsanwaltschaft ermächtigt, bei Vorliegen der Voraussetzungen von Art. 177 Abs. 2 und 3 StGB bereits im Vorverfahren im Sinn der Opportunität das Verfahren einzustellen beziehungsweise nicht anhand zu nehmen[14]. Allerdings hat sich die Staatsanwaltschaft dabei Zurückhaltung aufzuerlegen, ihre Kompetenz dazu bleibt auf eindeutige Bagatellfälle beschränkt.

  4. a)    Aus den eigenen Aussagen des Beschwerdeführers ergibt sich unmissverständlich, dass er auf die im Sinn von Art. 177 Abs. 1 StGB wohl beleidigende Frage beziehungsweise Äusserung des Beschwerdegegners unmittelbar selbst mit einer Formalinjurie[15] reagiert hat, indem er den Beschwerdegegner als "dumme Siech" betitelte.

    b)    aa)    Wenn der Beschwerdeführer sodann aussagte, er wisse nicht, ob der Beschwerdegegner seine Verbalinjurie gehört habe, ergibt sich, dass der Beschwerdeführer zumindest damit rechnete respektive in Kauf nahm, dass es der Beschwerdegegner hört. Der Beschwerdegegner seinerseits weiss nicht, ob ihn der Beschwerdeführer beleidigt habe. Er machte geltend, er müsse viele Medikamente nehmen und könne daher nicht mehr nachvollziehen, was bei jener Begegnung mit dem Beschwerdeführer vorgefallen sei.

          bb)    Selbst wenn der Beschwerdegegner die Bemerkung "dumme Siech" nicht hörte, so wäre die Tat aber nicht einfach straflos, sondern sie wäre nur, aber immerhin, nicht vollendet, und es fehlte der Taterfolg. Indes ist der Täter gemäss Art. 22 Abs. 1 StGB auch strafbar, wenn der zur Vollendung der Tat gehörende Erfolg nicht eintritt; er kann diesfalls allerdings milder bestraft werden. Somit läge auch im Fall, dass der Beschwerdegegner die Formalinjurie des Beschwerdeführers nicht gehört haben sollte, eine versuchte Beschimpfung im Sinn von Art. 177 Abs. 1 StGB vor.

    c)    Es liegt somit ein Fall einer Retorsion im Sinn von Art. 177 Abs. 3 StGB vor: Die Beschimpfung (Verbalinjurie) des Beschwerdegegners ("Ficksch jetzt alli?") wurde unmittelbar mit einer Beschimpfung (Verbalinjurie) des Beschwerdeführers ("dumme Siech") erwidert. Weiter handelt es sich dabei ganz offensichtlich um Selbstjustiz im Bagatellbereich. Dass die Staatsanwaltschaft die Strafuntersuchung nicht anhand nahm, ist somit nicht zu beanstanden. Der Umstand, dass sich der Beschwerdeführer noch weitergehend am Verhalten des Beschwerdegegners stört (und umgekehrt), vermag an diesem Ergebnis nichts zu ändern, denn dies führt nicht dazu, dass zwingend eine Strafuntersuchung wegen Beschimpfung zu eröffnen wäre.

  5. Damit ist die Beschwerde abzuweisen.

    Obergericht, 2. Abteilung, 10. Februar 2022, SW.2021.131


[1]  Art. 8 Abs. 4 StPO

[2]  Fiolka/Riedo, Basler Kommentar, 2.A., Art. 8 StPO N. 9

[3]  Roth/Villard, Commentaire romand, 2.A., Art. 8 StPO N. 17b

[4]  BGE 109 IV 43; Riklin, Basler Kommentar, 4.A., Art. 177 StGB N. 19; Trechsel/Lehmkuhl, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar (Hrsg.: Trechsel/Pieth), 4.A., Art. 177 N. 7

[5]  Art. 48 lit. b StGB lautet: Das Gericht mildert die Strafe, wenn der Täter durch das Verhalten der verletzten Person ernsthaft in Versuchung geführt worden ist.

[6]  Riklin, Art. 177 StGB N. 20; Trechsel/Lehmkuhl, Art. 177 StGB N. 7 f.

[7]  Trechsel/Lehmkuhl, Art. 177 StGB N. 7; Riklin, Art. 177 StGB N. 19

[8]  BGE 72 IV 21; BGE 82 IV 181; Trechsel/Lehmkuhl, Art. 177 StGB N. 8; Riklin, Art. 177 StGB N. 29

[9]  Trechsel/Lehmkuhl, Art. 177 StGB N. 8

[10] Ege, Der Affekt im schweizerischen Strafrecht, Diss. Zürich 2017, S. 293 f. und 303

[11] Fiolka/Riedo, Art. 8 StPO N. 114

[12] Riklin, Art. 177 StGB N. 22

[13] Grädel/Heiniger, Basler Kommentar, 2.A., Art. 319 StPO N. 21

[14] BGE vom 4. Januar 2012, 1B_383/2011, Erw. 3.1 (zur Nichtanhandnahme einer Strafuntersuchung gestützt auf Art. 177 Abs. 2 StGB i.V.m. Art. 310 Abs. 1 lit. c und Art. 8 Abs. 1 StPO); vgl. in diesem Sinn auch Urteil des Appellationsgerichts Basel-Stadt vom 31. März 2021, BES.2020.139, Erw. 3.3.2; Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft vom 9. Februar 2016, 470 15 275, Erw. 4.2

[15] Eine Formalinjurie - man spricht auch von reinem Werturteil oder Verbalinjurie - ist ein blosser Ausdruck der Missachtung, ohne dass sich die Aussage erkennbar auf bestimmte, dem Beweis zugängliche Tatsachen stützt (Riklin, Vor Art. 173 StGB N. 44).


JavaScript errors detected

Please note, these errors can depend on your browser setup.

If this problem persists, please contact our support.