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RBOG 2022 Nr. 40

Verwertbarkeit von Einvernahmen, bei denen die einvernommene Person von Anfang an in der falschen Parteirolle befragt wurde oder die Parteirolle nachträglich wechselte


Art. 141 Abs. 1 StPO Art. 141 Abs. 2 StPO Art. 158 Abs. 2 StPO Art. 177 Abs. 1 StPO Art. 181 Abs. 1 StPO


  1. Im Jahr 2010 eröffnete die Staatsanwaltschaft eine Strafuntersuchung gegen mehrere verdächtige Personen wegen eines gemeinsam verübten Delikts. Im Lauf der Ermittlungen traten weitere Sachverhalte und verdächtige Personen hinzu. Die Staatsanwaltschaft führte gegen jede beschuldigte Person ein eigenes Strafverfahren mit einem separaten Aktenbestand. Die Berufungskläger wurden vom Bezirksgericht verurteilt, wogegen sie Berufung erhoben. Im Berufungsverfahren ist strittig, ob die einvernommenen Personen in der richtigen Rolle befragt wurden, was die Konsequenzen für die Verwertbarkeit sind, wenn dies verneint wird, und wie sich ein nachträglicher Rollenwechsel auf die Verwertbarkeit der Einvernahmen auswirkt.

  2. a)    aa)    Zeugin oder Zeuge ist nach Art. 162 StPO eine an der Begehung einer Straftat nicht beteiligte Person, die der Aufklärung dienende Aussagen machen kann und nicht Auskunftsperson ist. Mitbeschuldigte Personen, gegen die bereits ein rechtskräftiges Urteil vorliegt, können als Zeuge oder Zeugin einvernommen werden[1]. Dies setzt freilich voraus, dass die mitbeschuldigte Person nicht aus einem anderen Grund als nach Art. 178 lit. f StPO als Auskunftsperson zu befragen ist.

          bb)    Als Auskunftsperson wird nach Art. 178 StPO unter anderem einvernommen, wer ohne selber beschuldigt zu sein, als Täterin, Täter, Teilnehmerin oder Teilnehmer der abzuklärenden Straftat oder einer anderen damit zusammenhängenden Straftat nicht ausgeschlossen werden kann (lit. d), als mitbeschuldigte Person zu einer ihr nicht selber zur Last gelegten Straftat zu befragen ist (lit. e) oder in einem andern Verfahren wegen einer Tat, die mit der abzuklärenden Straftat in Zusammenhang steht, beschuldigt ist (lit. f). Die Auskunftspersonen nach Art. 178 lit. b‑g StPO sind nicht zur Aussage verpflichtet; für sie gelten sinngemäss die Bestimmungen über die Einvernahme der beschuldigten Person[2]. Die Strafbehörden machen die Auskunftspersonen zu Beginn der Einvernahme auf ihre Aussagepflicht oder ihre Aussage- oder Zeugnisverweigerungsrechte aufmerksam[3].

          cc)    Als beschuldigte Person gilt nach Art. 111 Abs. 1 StPO die Person, die in einer Strafanzeige, einem Strafantrag oder von einer Strafbehörde in einer Verfahrenshandlung einer Straftat verdächtigt, beschuldigt oder angeklagt wird. Polizei oder Staatsanwaltschaft weisen die beschuldigte Person nach Art. 158 Abs. 1 StPO zu Beginn der ersten Einvernahme in einer ihr verständlichen Sprache darauf hin, dass gegen sie ein Vorverfahren eingeleitet worden ist und welche Straftaten Gegenstand des Verfahrens bilden (lit. a), sie die Aussage und die Mitwirkung verweigern kann (lit. b), sie berechtigt ist, eine Verteidigung zu bestellen oder gegebenenfalls eine amtliche Verteidigung zu beantragen (lit. c) und sie eine Übersetzerin oder einen Übersetzer verlangen kann (lit. d). Einvernahmen der beschuldigten Person ohne diese Hinweise sind nicht verwertbar[4].

                  Beweise, die die StPO als unverwertbar bezeichnet, sind in keinem Fall verwertbar[5].

    b)    aa)    Wurde eine Person als Zeuge oder Zeugin einvernommen, sind ihre Aussagen gegen sie als beschuldigte Person nicht verwertbar[6], egal ob von Anfang an hätte klar sein sollen, dass sie beschuldigte Person ist oder ob sich das erst später im Verfahren herausstellt[7]. Mit anderen Worten ist hier irrelevant, ob die Rolle als Zeuge oder Zeugin im Zeitpunkt der Befragung (noch) korrekt oder aber von Beginn an fehlerhaft war, da so oder anders nicht alle Verfahrensrechte berücksichtigt wurden, die für die neue Rolle als beschuldigte Person relevant sind[8].

                  Wurde eine Person ursprünglich zu Recht als Zeuge oder Zeugin einvernommen und ergibt sich erst aufgrund eines später eingetretenen Umstands, dass sie als Auskunftsperson hätte befragt werden sollen, bleibt ihre Aussage verwertbar[9]. Anders ist es hingegen, wenn bereits im Zeitpunkt der Einvernahme die Befragung als Zeuge oder Zeugin falsch war und sie richtigerweise als Auskunftsperson zu befragen gewesen wäre. In diesem Fall ist die Aussage nach Art. 141 Abs. 2 StPO unverwertbar[10]. Dies deshalb, weil es gegen Art. 180 Abs. 1 StPO verstösst, eine Person unter Aussagezwang und Wahrheitspflicht zu befragen, die das Recht hat, die Aussage zu verweigern und sich nicht selbst zu belasten[11].

          bb)    Wurde eine Person (korrekt) als Auskunftsperson befragt, und stellt sich erst im Nachhinein heraus, dass diese Person als Zeuge oder Zeugin einzuvernehmen gewesen wäre, bleibt die Einvernahme verwertbar[12]. Unverwertbar ist die Aussage hingegen, wenn die Befragung als Auskunftsperson statt als Zeuge oder Zeugin bereits im Zeitpunkt der Einvernahme falsch war[13]. Solche Einvernahmen sind mangels Hinweis auf die Zeugnis- und Wahrheitspflichten absolut unverwertbar[14].

                  Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass die Polizei mangels entsprechender Befugnis im Kanton Thurgau[15] keine Zeugen und Zeuginnen einvernehmen darf, weshalb solche Befragungen im staatsanwaltschaftlichen Untersuchungsverfahren von der Polizei nicht durchgeführt werden dürfen[16]. Unzulässig ist es auch, eine Person, die richtigerweise als Zeuge oder Zeugin zu befragen wäre, durch die Polizei delegiert als Auskunftsperson befragen zu lassen. Das Gesetz legt die Rollen von zu befragenden Personen verbindlich fest; eine Ausnahme in der Zuweisung dieser Rolle zugunsten einer delegierten Einvernahme ist gerade nicht vorgesehen. Eine solche Ausnahme würde auch Sinn und Zweck des Gesetzes widersprechen, das verlangt, dass Zeugen und Zeuginnen unter Wahrheitspflicht und Aussagezwang auszusagen haben, was bei einer Auskunftsperson gerade nicht der Fall ist. Es hat bei den gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen zur Einvernahme von Zeugen beziehungsweise Zeuginnen durch die Polizei zu bleiben; nämlich einerseits im Rahmen des selbstständigen polizeilichen Ermittlungsverfahrens, in dem nach Art. 179 Abs. 1 StPO alle nicht als beschuldigte Personen in Betracht kommenden Personen (also auch potentielle Zeugen und Zeuginnen) vorerst als Auskunftspersonen befragt werden müssen und andererseits nach Eröffnung des staatsanwaltschaftlichen Untersuchungsverfahrens, sofern der Kanton nach Art. 142 Abs. 2 StPO Angehörige der Polizei hierzu ausdrücklich ermächtigt hat[17].

          cc)    Das Bundesgericht hat die Frage, ob die von der beschuldigten Person in der Befragung als Auskunftsperson gemachten Angaben im gegen sie als beschuldigte Person geführten Verfahren verwertet werden können, bisher offen gelassen[18]. In der Lehre ist die Frage umstritten. Der überwiegende Teil der Lehre stellt sich auf den Standpunkt, dass die Aussagen einer im Zeitpunkt der Befragung verfahrensfehlerhaft als Auskunftsperson einvernommenen Person (da bereits ein konkreter Tatverdacht vorlag) nach Art. 158 Abs. 2 StPO absolut unverwertbar sind[19].

                  Was die Verwertbarkeit der Aussagen von einer im Zeitpunkt der Befragung zu Recht als Auskunftsperson einvernommenen Person angeht, sind die Ansichten differenziert: Der überwiegende Teil der Lehre geht davon aus, dass die Aussagen einer Auskunftsperson bei einem (echten) Rollenwechsel zur beschuldigten Person grundsätzlich gegen sie nicht verwertbar sind. Im Detail gehen die Meinungen indes auseinander: Ein Teil der Lehre geht von absoluter Unverwertbarkeit aus[20]. Ein Teil hält diese Aussagen für absolut unverwertbar, soweit der Auskunftsperson der Vorhalt auf die Rechte einer beschuldigten Person nach Art. 158 Abs. 1 StPO nicht gemacht wurde, namentlich auch darauf, dass gegen sie ein Vorverfahren eingeleitet worden sei und welche Straftaten Gegenstand des Verfahrens bilden, wobei ein sinngemässer Hinweis nicht genüge[21]. Ein weiterer Teil der Lehre erachtet die Aussagen für verwertbar, sofern folgende (sinngemässen) Hinweise erfolgt sind: (1) Aussage und Mitwirkungsrecht, (2) dass die Aussagen gegen die befragte Person als Beweismittel verwendet werden können, (3) dass sie die Unterstützung eines Übersetzers und die Anwesenheit eines Rechtsanwalts verlangen könne sowie (4) Verfahrensgegenstand und Stand des Verfahrens[22]. Einzig Riklin hält solche Aussagen ohne weiteres für verwertbar, weil die Rechte der Auskunftsperson und der beschuldigten Person "in den entscheidenden Punkten deckungsgleich" seien[23].

    c)    Nach herrschender Lehre sind Aussagen, die eine beschuldigte Person in der Rolle als Zeuge machte, demnach absolut unverwertbar nach Art. 158 Abs. 2 i.V.m. Art. 141 StPO. Gleiches gilt für im Zeitpunkt der Befragung fälschlicherweise als Auskunftsperson einvernommene beschuldigte Personen (unechter Rollenwechsel). Unverwertbar sind die Einvernahmen als Auskunftsperson auch dann, wenn sich erst im Nachhinein herausstellt, dass sie als beschuldigte Person zu befragen gewesen wäre und ihr nicht mindestens ein Vorhalt nach Art. 158 StPO gemacht wurde. Ebenfalls unverwertbar sind sodann Einvernahmen von Personen, die im Zeitpunkt der Befragung fälschlicherweise als Auskunftspersonen statt als Zeuge beziehungsweise Zeugin befragt wurden und umgekehrt. Das Verwertungsverbot wirkt in allen Fällen auch gegenüber Dritten, namentlich Mitbeschuldigten.

                  Verwertbar sind hingegen Einvernahmen, soweit sich bei einer als Zeuge oder Zeugin einvernommenen Person erst im Nachhinein erweist, dass sie als Auskunftsperson zu befragen gewesen wäre und umgekehrt.

    d)    Die obgenannten Ausführungen gelten auch für im Ausland rechtshilfeweise durchgeführte Einvernahmen, da auf die Frage der Verwertbarkeit im Schweizer Verfahren Schweizer Recht anwendbar ist[24].

  3. a)    aa)    In den Akten finden sich verschiedene Einvernahmen, in denen Personen als Auskunftspersonen oder Zeugen und Zeuginnen befragt wurden, obschon im Zeitpunkt der Befragung ein Strafverfahren gegen sie in gleicher Sache lief. Grund dafür ist in den meisten Fällen, dass die Staatsanwaltschaft getrennte Verfahren gegen die Beschuldigten führte, weshalb sie davon ausging, dass den Beschuldigten im Verfahren gegen die Mitbeschuldigten keine Parteistellung zukommt und sie demnach als Auskunftspersonen im Sinn von Art. 178 lit. f StPO[25] zu befragen sind. Das Obergericht stellte in mehreren rechtskräftigen Entscheiden fest, dass die Voraussetzungen für getrennte Verfahren nicht gegeben waren; das Bundesgericht bestätigte die Entscheide. Demnach war trotz unterschiedlicher Verfahrensnummern von einem gemeinsam geführten Untersuchungsverfahren auszugehen beziehungsweise wäre die Staatsanwaltschaft mindestens verpflichtet gewesen, für Delikte mit mehreren Verfahrensbeteiligten ein gemeinsames Verfahren zu führen. Die Befragung einer mitbeschuldigten Person als Auskunftsperson nach Art. 178 lit. f StPO zu einem Sachverhalt, welcher der befragten Person selber vorgeworfen wurde, war damit falsch, da es keine getrennten Verfahren gab beziehungsweise - mangels sachlicher Gründe - hätte geben dürfen. Wäre das Verfahren (korrekt) gemeinsam geführt worden, wären alle Mitbeschuldigten in den mutmasslich gemeinsam begangenen Sachverhalten auch gegeneinander als beschuldigte Person zu befragen gewesen, womit die Befragung als Auskunftsperson von Beginn an unzulässig respektive verfahrensfehlerhaft war. Daran ändert - entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft - nichts, dass die als Auskunftsperson befragten Personen teilweise bereits vorgängig als Beschuldigte zum gleichen Sachverhalt befragt wurden, war doch die Einvernahme als Auskunftsperson wie gesehen von Beginn an falsch. Es kommt hinzu, dass zwar eine (korrekte) Belehrung nicht vor jeder Einvernahme wiederholt werden muss. Erfolgt hingegen - wie hier - nach einer richtigen Belehrung eine falsche, erweckt dies bei der befragten Person den falschen Eindruck, die aktuellere Belehrung sei korrekt[26]. Dieser falsche Eindruck verstärkt sich umso mehr in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die beschuldigte Person in einem (fälschlicherweise) getrennt geführten Verfahren gegen eine andere (beschuldigte) Person befragt wird, womit sie - mangels entsprechendem Hinweis - nicht damit rechnen musste, dass diese Einvernahme auch gegen sie selber verwendet werden könnte. Aus einer allfälligen bereits erfolgten korrekten Belehrung in einer vorherigen Einvernahme als beschuldigte Person kann daher nichts zugunsten des staatsanwaltschaftlichen Standpunktes abgeleitet werden. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die beschuldigten Personen vertreten waren. Im Übrigen war die Befragung als Auskunftsperson auch gestützt auf Art. 178 lit. e StPO[27] nicht zulässig, da die Straftaten den befragten Personen selbst zur Last gelegt wurden. Die Befragungen als Auskunftspersonen waren damit von Beginn an fehlerhaft. Soweit keine vollständige Belehrung nach Art. 158 StPO stattfand - was nie der Fall war -, sind die Einvernahmen unverwertbar.

          bb)    Als Grundsatz kann demnach festgehalten werden: Einvernahmen, in denen ein Beschuldigter in einer anderen Parteirolle als derjenigen der beschuldigten Person befragt wurde, obwohl ihm im Zeitpunkt der Einvernahme deren Gegenstand im Rahmen des gemeinsamen (oder korrekterweise gemeinsam zu führenden) Strafverfahrens selber zur Last gelegt wurde oder mindestens bereits ein hinreichender Tatverdacht gegen ihn bestand, sind grundsätzlich gegenüber allen beschuldigten Personen unverwertbar. Richtig war beziehungsweise ist die Befragung als Auskunftsperson - und nicht als beschuldigte Person - im Rahmen des gemeinsamen Verfahrens nur, soweit der Befragungsgegenstand der befragten Person nicht zur Last gelegt wird[28].

    b)    E wurde ab seiner Verhaftung im Herbst 2011 in allen Einvernahmen, die im Aktenbestand von C abgelegt sind, in der Rolle der beschuldigten Person einvernommen. Allerdings finden sich in den Strafakten betreffend E verschiedene Befragungen, in denen er als Auskunftsperson einvernommen wurde:

                  Anfang des Jahres 2012 wurde E das erste Mal zum Sachverhalt 1 befragt. Da er zur Zeit der Haupttat, als die anderen Beschuldigten dem Opfer einen "Besuch" zu Hause abstatteten, in Haft war und soweit ersichtlich damals kein Verdacht auf eine Mittäterschaft bestand, befragte die Polizei ihn aus damaliger Sicht wohl zu Recht als Auskunftsperson. Erst später - mitunter auch aufgrund seiner damaligen Aussage - geriet er selbst unter Tatverdacht; schliesslich wurde er als Mittäter angeklagt. Die Rolle erweist sich damit im Nachhinein als falsch. Da eine Belehrung nach Art. 158 StPO fehlte, ist die Einvernahme absolut unverwertbar.

                  Anfang des Jahres 2013 befragte die Polizei E rechtshilfeweise (delegiert) als Auskunftsperson im Strafverfahren eines anderen Staates wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Sachverhalt 2). Die Staatsanwaltschaft wies die Polizei vorgängig an, E rechtshilfeweise als Beschuldigten zu befragen. Dem kam die Polizei, wie das Protokoll der Befragung zeigt, offensichtlich nicht nach: E wurde anfangs einzig darauf hingewiesen, nicht zur Aussage verpflichtet zu sein. Im Übrigen fehlte eine Belehrung im Sinn von Art. 158 StPO gänzlich. Dass im Zeitpunkt der Befragung ein konkreter Tatverdacht gegen E bestand, die Befragung als Beschuldigter also korrekt gewesen wäre, zeigt sich allein schon darin, dass ihm zu Beginn der Einvernahme - gestützt auf aufgezeichnete Telefonate - vorgeworfen wurde, zusammen mit weiteren Personen eine Rauschgiftlieferung organisiert zu haben. Die Rollenzuweisung war somit fehlerhaft. Die Einvernahme ist im Schweizer Verfahren absolut unverwertbar, auch gegenüber den Mitbeschuldigten.

                  Im Sommer des Jahres 2013 wurde E als Auskunftsperson einvernommen im Strafverfahren gegen B und K betreffend den Sachverhalt 1. Die Staatsanwaltschaft führte zu diesem Zeitpunkt aber auch ein Verfahren gegen E in gleicher Sache; im Sommer des Jahres 2012 wurde er staatsanwaltschaftlich als beschuldigte Person zu diesem Sachverhalt befragt. Die Befragung als Auskunftsperson im Sommer 2013 war damit nicht korrekt. Die Rolle war im Zeitpunkt der Einvernahme falsch; die Einvernahme ist damit absolut unverwertbar.

                  Die gerichtlichen Befragungen von E als Auskunftsperson zu Delikten, derer er nicht angeklagt wurde, sind sodann nach Art. 178 lit. e StPO korrekt erfolgt.

    c)    T wurde im Februar 2013 im Strafverfahren gegen E, B und L betreffend schwere Körperverletzung, Erpressung (Gewaltanwendung) und Verbrechen gegen das BetmG[29] als Auskunftsperson einvernommen. Anfänglich wurde der Sachverhalt 3[30] thematisiert, in dem er Geschädigter ist. Sodann erfolgte von Seiten der Verfahrensleitung folgender Hinweis: "Bevor ich zu meinen nächsten Fragen komme, mache ich Sie explizit nochmals darauf aufmerksam, dass ihre Antworten auch gegen Sie verwendet werden können." Alsdann folgten Fragen zu einem Betäubungsmittelgeschäft über Fr. 30'000.00 unter Vorhalt eines Protokolls einer Telefonüberwachung von einem Gespräch zwischen L und B aus dem Jahr 2011, worin B zu Ersterem sagte: "Er müsse Drogen verkaufen für diese Leute, dieses Arschloch. Diesen Hurensohn, den sie geschlagen haben, diesen von [Tatort]. [B] habe mit dessen Bruder geredet, dass sei nicht [B's] Geld, 30'000.--.". Die Staatsanwaltschaft führte im Zeitpunkt der Befragung bereits ein Strafverfahren gegen T wegen des Sachverhalts 4. Im Januar 2013 ersuchte die Staatsanwaltschaft in dieser Sache das Zwangsmassnahmengericht um Genehmigung der Überwachung verschiedener Rufnummern von T und ordnete diese gleichentags an. Dass die Staatsanwaltschaft erst im März 2013 - und somit nach der Befragung vom Februar 2013 als Auskunftsperson - T (formell) mitteilte, sie müsse ein Verfahren wegen qualifizierten Betäubungsmittelhandels eröffnen, spielt keine Rolle. Das Strafverfahren gegen T war zum Zeitpunkt der Befragung als Auskunftsperson materiell bereits eröffnet, allerspätestens nachdem die Staatsanwaltschaft im Januar 2013 Zwangsmassnahmen anordnete[31]. Entsprechend war die Rollenzuweisung auch hier objektiv von Beginn an fehlerhaft, soweit es um diesen Lebenssachverhalt ging, und die Einvernahme ist damit vollumfänglich - da es sich nicht um voneinander unabhängige Sachverhalte handelt - absolut unverwertbar.

    d)    L wurde sodann im Jahr 2014 rechtshilfeweise durch ein Gericht in einem anderen Staat einvernommen. Bei dieser Gelegenheit erfolgten im Wesentlichen die Schlussvorhalte zu den ihm im Schweizer Verfahren angelasteten Delikten. Hierzu wurde er korrekt als beschuldigte Person einvernommen - und verweigerte weitestgehend die Aussage. Einzig zum Sachverhalt 2, für den L in jenem anderen Staat in diesem Zeitpunkt bereits rechtskräftig verurteilt worden war, wurde er als Zeuge einvernommen. Weil gegen L (und die anderen Beschuldigten) aber weiterhin wegen anderer Delikte ein gemeinsames Verfahren geführt wurde beziehungsweise korrekterweise gemeinsam hätte geführt werden müssen, wäre er nach Art. 178 lit. e StPO als Auskunftsperson zu befragen gewesen. Die Einvernahme ist daher, soweit sie den Sachverhalt 2 betrifft, aufgrund falscher Parteirolle nicht verwertbar. Zu den übrigen Sachverhalten wurde er korrekt als beschuldigte Person befragt; die Einvernahme war klar gegliedert, und er wurde vor jedem Sachverhaltskomplex erneut auf sein Aussageverweigerungsrecht hingewiesen und über den Vorwurf informiert. Zudem wurde L zu Beginn der Einvernahme ausführlich über seine Rechte als beschuldigte Person belehrt. Nur beim Sachverhalt 2 wies die Staatsanwaltschaft darauf hin, dass das Aussageverweigerungsrecht nicht für Lebenssachverhalte gelte, für die er bereits rechtskräftig verurteilt worden sei. Unter diesen Umständen war für L klar, dass er - mit Ausnahme des Sachverhalts 2, für den er bereits verurteilt worden war - als beschuldigte Person einvernommen wurde. Dies zeigt sich gerade auch darin, dass er einzig zum Sachverhalt 2 Aussagen machte und sich bei den übrigen Vorhalten auf sein Schweigerecht berief. Die Einvernahme ist daher ausschliesslich zum Sachverhalt 2 unverwertbar, im Übrigen indes verwertbar.

    Obergericht, 1. Abteilung, 10. Februar 2022, SBR.2019.43


[1]  BGE 144 IV 111 f.; Donatsch, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Lieber/Summers/Wohlers), 3.A., Art. 178 N. 36

[2]  Art. 180 Abs. 1 StPO

[3]  Art. 181 Abs. 1 StPO

[4]  Art. 158 Abs. 2 StPO

[5]  Art. 141 Abs. 1 StPO

[6]  Donatsch, Art. 178 StPO N. 17; Moser/El-Hakim, Verwertbarkeit von Einvernahmen eines Zeugen oder einer Auskunftsperson bei einem Rollenwechsel, in: forumpoenale 2018 S. 304; Ruckstuhl, Basler Kommentar, 2.A., Art. 158 StPO N. 4

[7]  Ruckstuhl, Art. 158 StPO N. 4

[8]  Ruckstuhl, Art. 158 StPO N. 4; vgl. auch BGE vom 20. Juni 2018, 6B_9/2018, Erw. 1.3

[9]  Donatsch, Art. 178 StPO N. 23

[10] Donatsch, Art. 178 StPO N. 16

[11] Vgl. Ruckstuhl, Art. 158 StPO N. 4 allerdings zum Rollenwechsel bei einer beschuldigten Person.

[12] Donatsch, Art. 178 StPO N. 15; Kerner, Basler Kommentar, 2.A., Art. 178 StPO N. 15

[13] Vgl. Donatsch, Art. 179 StPO N. 13; Hasler, Rollenwechsel im Strafverfahren, Zürich 2019, S. 324 ff. und 336

[14] Art. 177 Abs. 1 i.V.m. Art. 141 Abs. 1 StPO; anderer Ansicht: Donatsch, Art. 178 StPO N. 14

[15] Gemäss Art. 179 Abs. 2 i.V.m. Art. 142 Abs. 2 StPO dürfen Kantone delegierte Zeugeneinvernahmen durch die Polizei erlauben; im Kanton Thurgau besteht keine entsprechende Befugnis. Anmerkung: Gemäss § 39a ZSRG (Gesetz über die Zivil- und Strafrechtspflege, RB 271.1; in Kraft seit 1. Januar 2022) können Angehörige der Kantonspolizei in begründeten Einzelfällen und im Auftrag der Staatsanwaltschaft Zeuginnen und Zeugen einvernehmen.

[16] Donatsch, Art. 179 StPO N. 13; Schmid/Jositsch, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 3.A., Art. 179 N. 5

[17] Was im Kanton Thurgau nicht der Fall ist. Anmerkung: siehe Fn. 15

[18] BGE vom 24. August 2018, 6B_208/2015, Erw. 1.4; BGE vom 23. Mai 2016, 1B_48/2016, Erw. 2.5.2; vgl. auch BGE 141 IV 28

[19] Ebneter/Heimgartner, Von der Auskunftsperson zur beschuldigten Person - Verwertbarkeit vormaliger Aussagen?, in: AJP 2018 S. 269, wobei sie sich jedoch für eine relative Unverwertbarkeit aussprechen; Godenzi, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Lieber/Summers/Wohlers), 3.A., Art. 158 N. 42; Riklin, Art. 158 StPO N. 6; Ruckstuhl, Art. 158 StPO N. 4; vgl. auch BGE vom 20. Juni 2018, 6B_9/2018, Erw. 1.3, allerdings betreffend eine Zeugeneinvernahme.

[20] Petermann, Auskunftsperson oder Beschuldigter?, in: AJP 2012 S. 1058 f.; Schmid/Jositsch, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 3.A., N. 928 (mit Ausnahme von einer Einvernahme als Auskunftsperson nach Art. 178 lit. f StPO)

[21] Donatsch, Art. 178 StPO N. 19; Epprecht/Gfeller, Verwertbarkeit von Aussagen nach dem Rollenwechsel von der Auskunftsperson zur beschuldigten Person, in: AJP 2017 S. 1283; Godenzi, Art. 158 StPO N. 43; Kerner, Art. 178 StPO N. 17, der zusätzlich verlangt, dass die befragte Person keinen "Verlust an materiellen Verteidigungsrechten" erlitten hatte und auf eine Wiederholung verzichtete; Moser/El-Hakim, S. 306, die dafürhalten, dass der Auskunftsperson zudem deutlich zu verstehen zu geben ist, dass ein Rollenwechsel nicht ausgeschlossen sei und diesfalls die Aussagen verwertbar wären; Ruckstuhl, Art. 158 StPO N. 5

[22] Ebneter/Heimgartner, S. 269

[23] Riklin, Art. 158 StPO N. 5

[24] Gless, Internationales Strafrecht, 3.A., N. 267; vgl. auch Wohlers, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Lieber/Summers/Wohlers), 3.A., Art. 148 N. 2

[25] Nach dieser Bestimmung wird als Auskunftsperson einvernommen, wer in einem anderen Verfahren wegen einer Tat, die mit der abzuklärenden Straftat in Zusammenhang steht, beschuldigt ist.

[26] Vgl. BGE vom 5. Oktober 2021, 1B_56/2021, Erw. 5.2

[27] Nach dieser Bestimmung wird als Auskunftsperson einvernommen, wer als mitbeschuldigte Person zu einer ihr nicht selber zur Last gelegten Straftat zu befragen ist.

[28] Vgl. Art. 178 lit. e StPO

[29] Betäubungsmittelgesetz, SR 812.121

[30] Sachverhalt 4 (gemeinsamer Betäubungsmittelhandel) ist die mutmassliche Vorgeschichte des Sachverhaltes 3 (Erpressung zum Nachteil von T wegen Schulden aus dem gemeinsamen Betäubungsmittelhandel).

[31] Art. 309 Abs. 1 lit. b StPO


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