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RBOG 2022 Nr. 49

Eine Wiederherstellung der Einsprachefrist ist erst zu prüfen, nachdem das erstinstanzliche Gericht über die strittige rechtsgültige Zustellung eines Strafbefehls entschieden hat.


Art. 356 StPO Art. 94 StPO


  1. Die Staatsanwaltschaft sprach den Beschwerdeführer mit Strafbefehl schuldig. Weder mit eingeschriebener noch mit uneingeschriebener Sendung konnte diesem der Strafbefehl zugestellt werden. Erst am 25. Januar 2022 war die polizeiliche Zustellung an den Beschwerdeführer erfolgreich. Am 27. Januar 2022 ersuchte er einerseits um Wiederherstellung der Einsprachefrist, andererseits erhob er Einsprache gegen den Strafbefehl. Die Staatsanwaltschaft wies das Gesuch um Wiederherstellung der Frist ab. Dagegen erhob der Beschwerdeführer Beschwerde.

  2. a)    aa)    Gegen den Strafbefehl kann unter anderem die beschuldigte Person bei der Staatsanwaltschaft innert zehn Tagen schriftlich Einsprache erheben[1]. Die Einsprachen sind zu begründen; ausgenommen ist die Einsprache der beschuldigten Person[2]. Ohne gültige Einsprache wird der Strafbefehl zum rechtskräftigen Urteil[3]. Entschliesst sich die Staatsanwaltschaft bei einer Einsprache, am Strafbefehl festzuhalten, so überweist sie die Akten unverzüglich dem erstinstanzlichen Gericht zur Durchführung des Hauptverfahrens. Der Strafbefehl gilt als Anklageschrift[4]. Das erstinstanzliche Gericht entscheidet über die Gültigkeit des Strafbefehls und der Einsprache[5].

    bb)    Ist demnach die Gültigkeit der Einsprache gegen den Strafbefehl umstritten, so entscheidet darüber nicht die Staatsanwaltschaft, sondern das erstinstanzliche Gericht[6]. Ungültig ist die Einsprache unter anderem, wenn sie verspätet ist[7].

    b)    Allfällige Säumnisfolgen bei Fristen können mit der Wiederherstellung gemäss Art. 94 StPO behoben werden. Hat eine Partei eine Frist versäumt und würde ihr daraus ein erheblicher und unersetzlicher Rechtsverlust erwachsen, so kann sie die Wiederherstellung der Frist verlangen; dabei hat sie glaubhaft zu machen, dass sie an der Säumnis kein Verschulden trifft[8]. Das Gesuch ist innert 30 Tagen nach Wegfall des Säumnisgrundes schriftlich und begründet bei der Behörde zu stellen, bei welcher die versäumte Verfahrenshandlung hätte vorgenommen werden sollen. Innert der gleichen Frist muss die versäumte Verfahrenshandlung nachgeholt werden[9].

    c)    aa)    Ein nicht rechtsgültig zugestellter Entscheid entfaltet indessen von vornherein keine Rechtswirkung; Fristen werden nicht ausgelöst. Einem Betroffenen kann folglich auch nicht vorgehalten werden, er habe eine Frist verpasst. Eine Wiederherstellung zufolge versäumter Frist im Sinn von Art. 94 StPO fällt insoweit ausser Betracht. Von der Möglichkeit zur Ergreifung eines Rechtsmittels oder eines Rechtsbehelfs kann selbstredend nur Gebrauch machen, wer einen Entscheid tatsächlich oder kraft Fiktion rechtsgültig erhielt[10].

    bb)    Die Frage nach der Wiederherstellung einer Frist zur Einsprache gegen einen Strafbefehl stellt sich deshalb nur, wenn die Frist versäumt wurde. Dies setzt voraus, dass die Einsprachefrist gelaufen ist. Dies wiederum setzt voraus, dass der Strafbefehl rechtsgültig tatsächlich oder fiktiv zugestellt wurde. Gleichwohl ist die Frage der rechtsgültigen Zustellung nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht von der Staatsanwaltschaft gleichsam als Vorfrage im Verfahren der Wiederherstellung gemäss Art. 94 StPO zu beurteilen, sondern vom erstinstanzlichen Gericht im Verfahren der Einsprache gemäss Art. 356 Abs. 2 StPO zu entscheiden[11].

    cc)    Die Staatsanwaltschaft hat daher das Wiederherstellungsverfahren zu sistieren, bis das erstinstanzliche Gericht über die Gültigkeit der Einsprache und somit über die Frage entschieden hat, ob der Strafbefehl rechtsgültig gemäss Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO (fiktiv) zugestellt wurde. Die Staatsanwaltschaft darf folglich nicht über das Gesuch um Wiederherstellung der Einsprachefrist entscheiden und dieses abweisen, ohne den Entscheid des erstinstanzlichen Gerichts betreffend die Gültigkeit der Einsprache abzuwarten. Über das Gesuch um Wiederherstellung muss gar nicht (mehr) entschieden werden, wenn das erstinstanzliche Gericht die Einsprache als gültig erachten sollte. Wenn die Staatsanwaltschaft vor dem Entscheid des erstinstanzlichen Gerichts über die Gültigkeit der Einsprache das Wiederherstellungsgesuch abweist, ist diese Abweisung des Wiederherstellungsgesuchs aufzuheben und die Staatsanwaltschaft anzuweisen, das Wiederherstellungsverfahren zu sistieren, bis das Strafgericht über die Gültigkeit der Einsprache (und des Strafbefehls) entschieden hat[12].

  3. a)    Nachdem die Polizei dem Beschwerdeführer am 25. Januar 2022 den Strafbefehl persönlich ausgehändigt hatte, teilte dieser am 26. Januar 2022 der Staatsanwaltschaft telefonisch mit, er habe den Strafbefehl bis dahin "weder erhalten noch rechtzeitig anfechten können". Er habe "nichts in der Post gehabt […]. Die Post müsse einen Fehler gemacht haben". In seinem Gesuch um Wiederherstellung der Einsprachefrist machte der Beschwerdeführer sodann geltend, er habe zu keiner Zeit eine Abholungseinladung im Briefkasten gehabt, trotz Postweiterleitung der alten Adresse.

    b)    Gestützt auf diese Vorbringen des Beschwerdeführers wie auch jene in der Beschwerdeschrift sowie die Entgegnungen der Staatsanwaltschaft dazu in der angefochtenen Verfügung und namentlich auch in der Beschwerdeantwort ergibt sich, dass der Beschwerdeführer in erster Linie die von der Staatsanwaltschaft am 31. Dezember 2021 verortete Zustellung bestreitet und diese nicht gelten lässt. Daran ändern der Betreff "Wiederherstellung der Einsprache Frist" und der allein dahin gestellte Antrag nichts, zumal die Staatsanwaltschaft den offensichtlich nicht rechtskundigen Beschwerdeführer mit Telefonat vom 26. Januar 2022 anhielt, sowohl Einsprache zu erheben als auch ein Gesuch um Wiederherstellung der Einsprachefrist zu stellen. Darin müsse er darlegen, weshalb er nicht in der Lage gewesen sei, rechtzeitig Einsprache zu erheben. Richtigerweise wäre der Beschwerdeführer indessen nach seinem Vorbringen, er habe den Strafbefehl bis zur polizeilichen Zustellung gar nicht erhalten, darauf hinzuweisen gewesen, er habe diesfalls zu begründen, weshalb seiner Auffassung nach nicht von fiktiver Zustellung des Strafbefehls am 31. Dezember 2021 ausgegangen werden dürfe. Allerdings ergeben sich daraus keine rechtlichen Probleme, da die beschuldigte Person die Einsprache ohnehin nicht begründen muss.

    c)    Zusammenfassend ergibt sich, dass der Beschwerdeführer nicht nur die Wiederherstellung der Einsprachefrist verlangt, sondern in erster Linie die rechtsgültige (fiktive) Zustellung des Strafbefehls bestreitet. Die Staatsanwaltschaft stellt sich demgegenüber auf den Standpunkt, der Strafbefehl sei rechtsgültig zugestellt worden. Demnach ist zuvorderst die Frage strittig, ob der Strafbefehl rechtsgültig ‑ fiktiv ‑ zugestellt wurde. Darüber hat gemäss Art. 356 Abs. 2 StPO das erstinstanzliche Gericht zu entscheiden. Erst danach stellt sich allenfalls die Frage der Wiederherstellung der Einsprachefrist nach Art. 94 StPO. Das Wiederherstellungsverfahren ist demnach zu sistieren, bis das erstinstanzliche Gericht über die Gültigkeit der Einsprache und somit über die Frage entschieden hat, ob der Strafbefehl (überhaupt) rechtsgültig gemäss Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO (fiktiv) zugestellt wurde. Dass so vorzugehen ist, folgt unmittelbar aus BGE 142 IV 201. Die dortige Regeste fasst die Rechtslage prägnant zusammen.

Obergericht, 2. Abteilung, 14. April 2022, SW.2022.20


[1]  Art. 354 Abs. 1 lit. a StPO

[2]  Art. 354 Abs. 2 StPO

[3]  Art. 354 Abs. 3 StPO

[4]  Art. 356 Abs. 1 StPO

[5]  Art. 356 Abs. 2 StPO

[6]  BGE 140 IV 195

[7]  BGE 142 IV 204

[8]  Art. 94 Abs. 1 StPO

[9]  Art. 94 Abs. 2 StPO

[10] BGE 142 IV 205

[11] BGE 142 IV 205 f.

[12] BGE 142 IV 206


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