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RBOG 2023 Nr. 35

Hafturlaub im vorzeitigen Strafvollzug

Art. 84 Abs. 6 StGB Art. 84 Abs. 1 StGB Art. 236 Abs. 1 StPO


Zusammenfassung des Sachverhalts:

Der Beschwerdeführer befindet sich im Rahmen eines Untersuchungsverfahrens im vorzeitigen Strafvollzug. Er ersuchte um Beziehungsurlaub mit Begleitperson für einen Tag, was die Staatsanwaltschaft – auch generell, solange sie als Verfahrensleitung dafür zuständig sei – ablehnte. Dagegen erhob er Beschwerde.

Aus den Erwägungen:

[…]

2.2.2.

Die Verfahrensleitung liegt bis zur Einstellung oder Anklageerhebung und mithin während des Untersuchungsverfahrens bei der Staatsanwaltschaft[1]. Daran ändert nichts, dass sich der Beschwerdeführer derzeit im vorzeitigen Strafvollzug befindet. Demnach ist die Staatsanwaltschaft für die Bewilligung von Ausgang und Urlaub im vorzeitigen Strafvollzug zuständig[2].

[…]

3.

Zu prüfen bleibt, ob die Staatsanwaltschaft Beziehungsurlaub, solange sie als Verfahrensleiterin zuständig ist, zu Recht generell ablehnte.

3.1

[…]

3.2.

3.2.1.

Die Verfahrensleitung kann der beschuldigten Person bewilligen, Freiheitsstrafen oder freiheitsentziehende Massnahmen vorzeitig anzutreten, sofern der Stand des Verfahrens es erlaubt[3]. Mit dem Eintritt in die Vollzugsanstalt tritt die beschuldigte Person ihre Strafe oder Massnahme an; sie untersteht von diesem Zeitpunkt an dem Vollzugsregime, wenn der Zweck der Untersuchungs- oder der Sicherheitshaft dem nicht entgegensteht[4]. Der vorzeitige Straf- oder Massnahmenantritt stellt seiner Natur nach eine strafprozessuale Zwangsmassnahme auf der Schwelle zwischen Strafverfolgung und Strafvollzug dar. Damit soll schon vor Erlass des rechtskräftigen Strafurteils ein Haftregime ermöglicht werden, das auf die persönliche Situation der beschuldigten Person zugeschnitten ist; ausserdem können erste Erfahrungen mit der voraussichtlich sachlich gebotenen Vollzugsform gesammelt werden. Der vorzeitige Straf- und Massnahmenvollzug betrifft nur das Vollzugsregime[5]. Für dessen Durchführung gelten dieselben Bestimmungen wie für den ordentlichen Straf- und Massnahmenvollzug mit Ausnahme derjenigen über die bedingte Entlassung[6].

3.2.2.

Der Gefangene hat das Recht, Besuche zu empfangen und mit Personen ausserhalb der Anstalt Kontakt zu pflegen. Der Kontakt mit nahestehenden Personen ist zu erleichtern[7]. Dem Gefangenen ist zur Pflege der Beziehungen zur Aussenwelt, zur Vorbereitung seiner Entlassung oder aus besonderen Gründen in angemessenem Umfang Urlaub zu gewähren, soweit sein Verhalten im Strafvollzug dem nicht entgegensteht und keine Gefahr besteht, dass er flieht oder weitere Straftaten begeht[8]. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts verfügen die kantonalen Behörden im Strafvollzug über ein weites Ermessen, also auch betreffend die Gewährung von Urlaub. Die Nichtbewilligung von Urlaub oder Ausgang muss sich allerdings auf ernsthafte und objektive Gründe stützen. Flucht- und Rückfallgefahr müssen im Einzelfall sorgfältig geprüft werden. Von einer gutachterlichen Beurteilung darf nicht ohne triftige Gründe abgewichen werden[9].

3.2.3.

Der Kanton Thurgau ist Mitglied des Konkordats der ostschweizerischen Kantone über den Vollzug von Strafen und Massnahmen[10]. Gemäss Art. 2 Abs. 1 des Konkordats ist die Strafvollzugskommission das oberste Organ des Konkordats. Sie besteht aus je einem Regierungsmitglied der beteiligten Kantone[11] und erlässt Richtlinien zur Zusammenarbeit im Vollzugsbereich und zur Ausgestaltung des Vollzugs, die mit Zustimmung aller Beteiligten als verbindlich erklärt werden können[12]. Das vom Grossen Rat des Kantons Thurgau genehmigte Konkordat ist in seiner Wirkung Gesetzen gleichgestellt[13]. Die Strafvollzugskommission hat am 7. April 2006 Richtlinien über die Ausgangs- und Urlaubsgewährung erlassen, welche mit Zustimmung aller Beteiligten als verbindlich erklärt wurden. Diese Richtlinien gehen den jeweiligen kantonalen Justizvollzugsverordnungen vor[14]. Sie gelten für eingewiesene Personen im Normalvollzug[15], wozu auch der vorzeitige Strafvollzug gehört. Die Richtlinien definieren in Ziff. 4.1 allgemeine Voraussetzungen für die Gewährung von Ausgang und Urlaub. Dazu gehört, dass die Gefahr einer Flucht oder der Begehung weiterer Straftaten aufgrund einer Analyse des konkreten Risikos hinreichend verneint werden kann oder einer verbleibenden Gefahr durch begleitende Massnahmen oder Auflagen ausreichend begegnet werden kann[16], die eingewiesene Person den Vollzugsplan einhält und bei den Eingliederungsbemühungen aktiv mitwirkt[17] und ihre Einstellung und Haltung im Vollzug sowie ihre Arbeitsleistungen zu keinen Beanstandungen Anlass geben[18]. Sodann unterscheiden die Richtlinien zwischen Sach‑[19] und Beziehungsurlaub[20]. Sachurlaube dienen der Besorgung dringlicher, unaufschiebbarer persönlicher, geschäftlicher und rechtlicher Angelegenheiten, für welche die Anwesenheit der eingewiesenen Person ausserhalb der Vollzugseinrichtung unerlässlich ist[21]. Beziehungsurlaube dienen dem Aufbau, der Aufrechterhaltung und der Pflege persönlicher und familiärer Beziehungen, soweit diese für die soziale Wiedereingliederung der eingewiesenen Person wertvoll und nötig sind[22]. Im geschlossenen Strafvollzug kann der Beziehungsurlaub frühestens nach Verbüssung eines Drittels der Strafe bewilligt werden[23].

3.3.

Die Staatsanwaltschaft wirft dem Beschwerdeführer unter Verweis auf die Stellungnahme des Amts für Justizvollzug vor, er bearbeite aktuell sein Problemprofil nicht. Gemäss dem Vollzugsbericht der Justizvollzugsanstalt wird nach Eingang eines rechtskräftigen und begründeten Urteils die Erarbeitung einer Vollzugsplanung an die Hand genommen. Während des vorzeitigen Strafvollzugs des Beschwerdeführers findet demnach noch keine Vollzugsplanung statt. Dennoch muss den Richtlinien zufolge Ausgang und Urlaub im vorzeitigen Strafvollzug bei gegebenen Voraussetzungen möglich sein. Die Bewilligung von Ausgang oder Urlaub kann somit nicht davon abhängig gemacht werden, ob eine Vollzugsplanung besteht und sich die eingewiesene Person konkret mit den von ihr begangenen Delikten auseinandersetzt, zumal noch kein Strafurteil vorliegt und damit keine deliktorientierte Therapie stattfinden kann. Dass der Beschwerdeführer aktuell sein Problemprofil nicht bearbeitet, kann ihm daher nicht vorgeworfen werden. Urlaub darf somit nicht allein mit dieser Begründung abgelehnt werden. Im Übrigen absolvierte der Beschwerdeführer während des vorzeitigen Strafvollzugs den Kurs "TisKo", Training sozialer Fertigkeiten, und schloss diesen erfolgreich ab. Laut Abschlussbericht unterstützt dieses Programm die Teilnehmer darin, die Hintergründe für das menschliche Handeln besser zu verstehen, den persönlichen Umgang mit Herausforderungen kritisch zu überprüfen, die eigenen sozialen Kompetenzen einzuschätzen und zu erweitern, Methoden kennen zu lernen, um auf eigene Herausforderung situationsgerecht und adäquat reagieren zu können, Strategien zu erarbeiten, um negative Verhaltenskonsequenzen zu verhindern und die erarbeiteten Strategien anzuwenden und aufrecht zu erhalten.

3.4.

Die Staatsanwaltschaft verneinte Urlaube auch aufgrund der bestehenden Wiederholungsgefahr. Indessen kann gestützt auf das eingeholte psychiatrische Gutachten nicht ohne Weiteres von Wiederholungsgefahr ausgegangen werden. Der Gutachter diagnostizierte beim Beschwerdeführer eine akzentuierte Persönlichkeit mit emotionaler Instabilität. Die Anlasstat habe er im Rahmen eines aggressiven Erregungszustands beziehungsweise einer akuten Belastungsreaktion begangen. Der damalige Zustand könnte am ehesten als Anpassungsstörung mit gemischter Störung von Gefühlen und Sozialverhalten gemäss ICD-10 klassifiziert werden. Der Beschwerdeführer stehe innerhalb seiner diagnostischen Gruppe relativ unauffällig und hochfunktional da. Der Gutachter sieht prognostisch überwiegend günstige Kriterien und kommt nach Anwendung der standardisierten Prognosetools zum Schluss, dass all diese Evaluationsverfahren auf eine eher günstige Prognose in Bezug auf ein erneutes Aggressionsdelikt hinweisen würden. Der Beschwerdeführer ist zudem Ersttäter und somit nicht vorbestraft. Es scheint sich um eine singuläre Tat zu handeln, auch wenn der Beschwerdeführer vorher ein Messer behändigte. Damit kann die Verweigerung des Urlaubs nicht mit Wiederholungsgefahr begründet werden.

3.5.

Schliesslich begründete die Staatsanwaltschaft die Ablehnung von Urlauben mit Fluchtgefahr.

3.5.1.

Die Staatsanwaltschaft stützte sich dabei auf den Kassiber, welchen der Beschwerdeführer heimlich seinem Bruder zulassen kommen wollte, und verwies ausserdem auf ihre Ausführungen im Haftverlängerungsgesuch. Dort begründete sie die Fluchtgefahr damit, dass seine Beziehung zu seiner Lebenspartnerin zerbrochen sei. Würde der Beschwerdeführer aus der Haft entlassen, müsste er sich seinem Leben, welches in privater und beruflicher Hinsicht aus einem Scherbenhaufen bestehe, stellen. Er hätte daher ein grosses Interesse daran, sich unter diesen Bedingungen dem Strafverfahren zu entziehen und in den Staat A, zu welchem er nach wie vor starke Beziehungen pflege, zu flüchten. Dies insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass er seinem Bruder im Schmuggelbrief mitgeteilt habe, er beabsichtige, eine Frau aus dem Staat A zu heiraten. Den Aussagen des Beschwerdeführers zufolge scheint diese Frau inzwischen offenbar anderweitig verheiratet zu sein und ein Kind zu haben, was jedoch nicht entscheidend ist. Zwar mag es sein, dass es im Staat A wohl auch andere junge heiratswillige Frauen gibt, doch genügt dieser nicht konkrete Umstand einer allfälligen Heirat im Staat A nicht zur Begründung von Fluchtgefahr. Es ist in diesem Zusammenhang ausserdem zu berücksichtigen, dass der Kassiber bald zwei Jahre alt ist und gestützt darauf nicht unbesehen von aktueller Fluchtgefahr ausgegangen werden kann.

3.5.2.

Die Staatsanwaltschaft sieht die Fluchtgefahr auch aufgrund der drohenden mehrjährigen Freiheitsstrafe als gegeben an. Sie macht in der Beschwerdeantwort geltend, der Beschwerdeführer habe noch keinen Drittel seiner Strafe verbüsst, da noch gar nicht feststehe, wie hoch seine Strafe ausfallen werde. Die Staatsanwaltschaft ist grundsätzlich nicht verpflichtet, während des Untersuchungsverfahrens oder in der Anklageschrift das beantragte Strafmass bereits bekannt zu geben, sondern kann dies anlässlich der erstinstanzlichen Verhandlung machen. Allerdings kann sie einen Urlaub nicht mit der pauschalen Begründung ablehnen, es sei noch kein Drittel der Strafe im Sinn von Ziff. 4.6.2 lit. b der Richtlinien verbüsst, ohne sich zum konkret drohenden Strafmass zu äussern. Damit kommt sie ihrer Begründungspflicht nicht hinreichend nach. Mit der pauschalen Begründung der Staatsanwaltschaft kann die generelle Verweigerung von Beziehungsurlauben bis zur Anklageerhebung daher nicht aufrechterhalten werden. Insofern ist die Beschwerde zu schützen und Dispositiv-Ziff. 2 des angefochtenen Entscheids aufzuheben. Die Staatsanwaltschaft wird bei zukünftigen Urlaubsgesuchen die Voraussetzungen erneut zu prüfen und sich insbesondere auch zum konkret drohenden Strafmass zu äussern haben, wenn sie Urlaube weiterhin ablehnen will.

[…]

Obergericht, 2. Abteilung, 5. Januar 2023, SW.2022.110


[1]    Art. 61 lit. a StPO

[2]    Ziff. 2 Abs. 1 lit. b der Richtlinien der Ostschweizer Strafvollzugskommission über die Ausgangs- und Urlaubsgewährung (nachfolgend: Richtlinien); vgl. § 71 Abs. 2 JVV (Justizvollzugsordnung, RB 340.31)

[3]    Art. 236 Abs. 1 StPO

[4]    Art. 236 Abs. 4 StPO

[5]    BGE 146 IV 53 f.

[6]    § 18 Abs. 1 JVV

[7]    Art. 84 Abs. 1 StGB

[8]    Art. 84 Abs. 6 StGB

[9]    BGE vom 1. Juli 2021, 1B_248/2021, Erw. 4.2

[10]  RB 341.1 (nachfolgend: Konkordat)

[11]  Art. 2 Abs. 1 des Konkordats

[12]  Art. 2 Abs. 2 lit. c des Konkordats

[13]  § 36 Abs. 2 KV (Verfassung des Kantons Thurgau, RB 101)

[14]  Vgl. BGE vom 20. April 2022, 1B_122/2022, Erw.3.5

[15]  Ziff. 1.1 Abs. 1 der Richtlinien

[16]  Ziff. 4.1.2 lit. a der Richtlinien

[17]  Ziff. 4.1.2 lit. b der Richtlinien

[18]  Ziff. 4.1.2 lit. c der Richtlinien

[19]  Ziff. 4.5 der Richtlinien

[20]  Ziff. 4.6 der Richtlinien

[21]  Ziff. 4.5.1 Abs. 1 der Richtlinien

[22]  Ziff. 4.6.1 Abs. 1 der Richtlinien

[23]  Ziff. 4.6.2 Abs. 1 lit. b der Richtlinien


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