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RBOG 2023 Nr. 6

Keine zwingende Wiederholung der Kinderanhörung im Rechtsmittelverfahren

Art. 314a ZGB Art. 298 Abs. 1 ZPO Art. 29 Abs. 2 BV Art. 6 Ziff. 1 EMRK Art. 12 KRK


Zusammenfassung des Sachverhalts:

Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde hörte die unverheirateten Eltern und deren Tochter an. In der Folge räumte sie dem Vater ein Besuchsrecht ein und errichtete für die Tochter eine Beistandschaft. Im Beschwerdeverfahren verlangte der Vater die erneute Anhörung der Tochter durch das Obergericht.

Aus den Erwägungen:

[…]

2.3.9.1.

Die Kindesanhörung wird für das Verfahren vor der Kindesschutzbehörde in Art. 314a ZGB und für eherechtliche Verfahren in Art. 298 Abs. 1 ZPO geregelt. Art. 314a ZGB und Art. 298 Abs. 1 ZPO konkretisieren die Ansprüche aus Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 12 KRK auf rechtliches Gehör[1]. Gemäss Art. 314a ZGB wird das Kind durch die Kindesschutzbehörde oder durch eine beauftragte Drittperson in geeigneter Weise persönlich angehört, soweit nicht sein Alter oder andere wichtige Gründe dagegensprechen. Nach der bundesgerichtlichen Praxis sollen Kinder ab ihrem sechsten Altersjahr grundsätzlich angehört werden[2]. Dabei kann von einer Kindesanhörung insofern abgesehen werden, als dass eine Anhörung des Kindes bei gegebener Ausgangslage überhaupt keinen Erkenntniswert hätte. Das heisst, wenn allfällige Ergebnisse aus der Kindesanhörung mit Blick auf die Feststellung der konkret rechtserheblichen Tatsachen von vornherein objektiv untauglich beziehungsweise irrelevant sind. Insbesondere wenn im selben Verfahren bereits eine Kindesanhörung durchgeführt wurde, ist von einer wiederholten Anhörungen abzusehen, wenn dies für das Kind eine unzumutbare Belastung bedeuten würde und überdies keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind oder der erhoffte Nutzen in keinem vernünftigen Verhältnis zu der durch die erneute Befragung verursachten Belastung steht[3]. Somit besteht die Pflicht, ein Kind anzuhören, in der Regel nur einmal im Verfahren, und zwar grundsätzlich nicht nur auf die einzelne Instanz gesehen, sondern einschliesslich des Instanzenzugs. Ein Verzicht auf eine erneute Anhörung setzt allerdings voraus, dass das Kind zu den entscheidrelevanten Punkten befragt worden und das Ergebnis der Anhörung noch aktuell ist[4]. Dabei ist der Gefahr, das Kind mit seinem latenten Loyalitätskonflikt zu konfrontieren, bei der Entscheidung über eine erneute Anhörung ein ungleich grösseres Gewicht beizumessen als bei der ersten Anhörung[5].

2.3.9.2.

Vorliegend bestehen weder Anzeichen noch wird von den Parteien geltend gemacht, dass der Wunsch der Tochter im vorinstanzlichen Verfahren ungenügend gehört worden sei. Diese Anhörung wurde am 15. September 2022 durchgeführt. Inwiefern sich die Lebenssituation des Mädchens seither veränderte, ist nicht ersichtlich. Eine erneute Befragung wäre daher mit keinem Erkenntnisgewinn verbunden. Im Gegenteil würde die Tochter dadurch zusätzlich belastet. Um das Mädchen nicht erneut mit dem latenten Loyalitätskonflikt zu konfrontieren, ist daher von einer erneuten Anhörung abzusehen.

[…]

Obergericht, 3. Abteilung, 31. Mai 2023, KES.2023.9


[1]    BGE vom 4. Dezember 2017, 5A_457/2017, Erw. 4.1.1

[2]    BGE 131 III 555 ff.; BGE vom 4. Dezember 2017, 5A_457/2017, Erw. 4.1.1

[3]    BGE 146 III 208; BGE 133 III 554

[4]    BGE 146 III 208

[5]    BGE 146 III 210


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