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RBOG 2024 Nr. 04

Negativer Kompetenzkonflikt der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden: Zuständigkeit für ein im Kanton Thurgau fremdplatziertes Kind, nachdem die sorgeberechtigte Mutter ihren Wohnsitz in einen anderen Kanton verlegte

Art. 315 Abs. 1 ZGBArt. 315 Abs. 2 ZGB Art. 444 Abs. 4 ZGB Art. 25 Abs. 1 ZGB


Zusammenfassung des Sachverhalts:

Im Jahr 2017 zogen Mutter und Kind in den Kanton Thurgau, wobei die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde der damaligen Wohnsitzgemeinde die bestehenden gesetzlichen Massnahmen für das Kind übernahm. Zwei Jahre später wurde das Kind bei einer Pflegefamilie in einem anderen Bezirk im Kanton Thurgau auf Dauer fremdplatziert. Die elterliche Sorge verblieb ausschliesslich bei der Mutter. Diese zog später in eine Gemeinde ausserhalb des Kantons Thurgau. Eine Übernahme der Kindesschutzmassnahmen wurde sowohl von der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde am neuen Wohnsitz der Mutter als auch von der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde am Aufenthaltsort des Kindes abgelehnt. Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde der ehemaligen Wohnsitzgemeinde der Mutter wandte sich schliesslich an das Obergericht und bat um Mithilfe bei der Klärung der örtlichen Zuständigkeit.

Aus den Erwägungen:

1.

1.1.

Die Kindesschutzmassnahmen werden von der Kindesschutzbehörde am Wohnsitz des Kindes angeordnet. Lebt das Kind bei Pflegeeltern oder sonst ausserhalb der häuslichen Gemeinschaft der Eltern oder liegt Gefahr im Verzug, so sind auch die Behörden am Ort zuständig, wo sich das Kind aufhält[1].

1.2.

1.2.1.

Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde prüft ihre Zuständigkeit von Amtes wegen. Hält sie sich nicht für zuständig, so überweist sie die Sache unverzüglich der Behörde, die sie als zuständig erachtet. Zweifelt sie an ihrer Zuständigkeit, so pflegt sie einen Meinungsaustausch mit der Behörde, deren Zuständigkeit in Frage kommt. Kann im Meinungsaustausch keine Einigung erzielt werden, so unterbreitet die zuerst befasste Behörde die Frage ihrer Zuständigkeit der gerichtlichen Beschwerdeinstanz[2].

1.2.2.

Gerichtliche Beschwerdeinstanz ist vorliegend das Obergericht[3].

1.2.3.

Bei innerkantonalen Zuständigkeitskonflikten sind sämtliche Behörden an den Entscheid der Beschwerdeinstanz gebunden. Bei interkantonalen Zuständigkeitskonflikten kann die kantonale Beschwerdeinstanz nur festlegen, dass die Behörde des eigenen Kantons zuständig ist[4].

2.

2.1.

2.1.1.

Kindesschutzmassnahmen sind primär am Wohnsitz des Kindes anzuordnen. Als Wohnsitz des Kindes unter elterlicher Sorge gilt der Wohnsitz der Eltern oder, wenn die Eltern keinen gemeinsamen Wohnsitz haben, der Wohnsitz des Elternteils, unter dessen Obhut das Kind steht; in den übrigen Fällen gilt sein Aufenthaltsort als Wohnsitz[5].

2.1.2.

Auch Kinder, die unter der Obhut Dritter stehen, haben ihren Wohnsitz am gemeinsamen Wohnsitz ihrer Eltern respektive am Wohnsitz des alleinigen Inhabers der elterlichen Sorge, solange diesen die elterliche Sorge noch zusteht. Wenn an die elterliche Sorge angeknüpft wird, spielt die Obhut keine Rolle[6]. Nur in den übrigen Fällen gilt gemäss Art. 25 Abs. 1 ZGB der Aufenthaltsort eines Kindes als sein Wohnsitz[7].

2.1.3.

Die elterliche Sorge über das Kind steht seiner Mutter zu; diese wurde ihr nicht entzogen. Somit wäre gestützt auf Art. 315 Abs. 1 i.V.m. Art. 25 Abs. 1 ZGB primär die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde am Wohnsitz der Mutter ausserhalb des Kantons Thurgau für Kindesschutzmassnahmen zuständig.

2.2.

2.2.1.

Zu beurteilen ist somit, wie sich die Bestimmung von Art. 315 Abs. 1 ZGB zu derjenigen von Art. 315 Abs. 2 ZGB verhält, wonach auch die Behörden am Ort zuständig sind, wo sich das Kind aufhält, wenn das Kind bei Pflegeeltern oder sonst ausserhalb der häuslichen Gemeinschaft der Eltern lebt.

2.2.2.

Art. 315 Abs. 2 ZGB steht in einem solchen Fall gemäss der Lehre und entgegen einem älteren Entscheid des Bundesgerichts aus dem Jahr 2003[8] kumulativ zu Art. 315 Abs. 1 ZGB. Die Wohnortzuständigkeit und die Zuständigkeit am Aufenthaltsort sind rechtlich gleichwertig[9]. Zweckmässigerweise gebührt der Vorrang der mit den Verhältnissen besser vertrauten Behörde; das ist zumindest nach Eintritt der Schulpflicht in der Regel die Aufenthaltsbehörde[10]. Für eine kumulative Zuständigkeit spricht sich auch die Präsidienvereinigung der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden des Kantons Zürich aus[11].

2.2.3.

Die Lehrmeinungen einer kumulativen Zuständigkeit vermögen zu überzeugen. So hielt auch das Bundesgericht in seinem Entscheid BGE 135 III 49 E. 6 fest, dass es sich nicht rechtfertige, an einen fiktiven Wohnsitz anzuknüpfen, wenn die dortigen Behörden mit den Kindern – abgesehen von Einzelmassnahmen – bisher nichts zu tun gehabt hätten. Auf den entsprechenden Einzelfall bezogen führte das Bundesgericht aus, dass das Kindeswohl es gebiete, dass ein Vormund am Ort des Aufenthalts der Kinder bestellt würde, insbesondere um den direkten Kontakt zu den Mündeln sowie die unmittelbare Kontrolle der Unterbringung der Kinder zu gewährleisten[12].

2.2.4.

Für den vorliegenden Fall gilt es Folgendes zu berücksichtigen: Momentan führt die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde der ehemaligen Wohnsitzgemeinde der Mutter im Kanton Thurgau die Beistandschaft. Weder das Kind noch seine Mutter wohnen aber dort, weshalb kein Bezug (mehr) zur ehemaligen Wohnsitzgemeinde der Mutterbesteht. Vielmehr lebt das Kind seit längerer Zeit bei einer Pflegemutter in einem anderen Bezirk des Kantons Thurgau. Dort scheint es ihm gut zu gehen und es ist aufgrund der gesamten Umstände nicht damit zu rechnen, dass es in näherer Zukunft zu seiner leiblichen Mutter, die mittlerweile ausserhalb des Kantons Thurgau wohnt, zurückkehren könnte. Das Kind lebte im Übrigen auch vorher nie mit seiner Mutter ausserhalb des Kantons Thurgau. Es hat keinerlei Bezug zur Wohnsitzgemeinde der Mutter oder zur dortigen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, welche bis anhin noch nie für es zuständig war. Eine Übertragung der Kindesschutzmassnahmen an die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde am ausserkantonalen Wohnsitz der Mutter würde zum jetzigen Zeitpunkt daher kaum Sinn machen. Aufgrund des längerdauernden und wohl auch zukünftigen Aufenthalts des Kindes bei der Pflegefamilie besteht hingegen ein enger Bezug zum Aufenthaltsort des Kindes. Es drängt sich daher geradezu auf, dass die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde am Aufenthaltsort des Kindes im vorliegenden Fall die Kindesschutzmassnahmen übernimmt, da sie mit den örtlichen Verhältnissen am besten vertraut ist. Würde man somit gestützt auf den bereits älteren Entscheid des Bundesgerichts BGE 129 I 419 von einem grundsätzlichen Vorrang des Wohnsitzprinzips ausgehen, wie dies die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde am Aufenthaltsort des Kindes sieht, würde dies zum sinnwidrigen Ergebnis führen, dass eine Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde zuständig wird, welche in keinerlei sachlicher oder örtlicher Nähe zum Kind steht. Dies würde auch den Kindesinteressen klar zuwiderlaufen. Hinzu kommt, dass im Gegensatz zum langfristigen Aufenthalt des Kindes an seinem aktuellen Aufenthaltsort angesichts der bisherigen Erkenntnisse nicht auszuschliessen ist, dass seine Mutter erneut den Wohnsitz wechseln wird und eine neue Zuständigkeit mit Beistandswechsel zu begründen wäre.

3.

Im Ergebnis ist daher gestützt auf Art. 444 Abs. 4 ZGB gerichtlich festzulegen, dass die Kindesschutzmassnahmen von der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde am Aufenthaltsort des Kindes zu übernehmen und weiterzuführen sind.

[…]

Obergericht, 1. Abteilung, 28. August 2024, JV.2024.43


[1]    Art. 315 Abs. 1 und 2 ZGB

[2]   Art. 444 Abs. 1-4 ZGB

[3]   § 11c Abs. 1 EG ZGB

[4]   Maranta/Auer/Marti, Basler Kommentar, 6.A., Art. 445 ZGB N. 15 f.

[5]   Art. 25 Abs. 1 ZGB

[6]   Staehelin, Basler Kommentar, 6.A., Art. 25 ZGB N. 4

[7]   Staehelin, Art. 25 ZGB N. 8 ff.

[8]   BGE 129 I 419

[9]   Cottier, in: Schweizerisches Zivilgesetzbuch, Kurzkommentar (Hrsg.: Büchler/Jakob), 2.A., Art. 315 N. 9; Affolter-Fringeli/Vogel, Berner Kommentar, Bern 2016, Art. 315-315b ZGB N. 50 mit Hinweisen

[10]  Breitschmid, Basler Kommentar, 6.A., Art. 315-315b ZGB N. 19 mit Verweis auf Hegnauer, Grundriss des Kindesrechts und des übrigen Verwandtschaftsrechts, 5.A., N. 27.60; Cottier, Art. 315 ZGB N. 9

[11]  Präsidienvereinigung der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden des Kantons Zürich, Empfehlungen zur Übertragung und Übernahme einer Massnahme vom 6. Dezember 2019, Version 2, S. 12

[12]  Vgl. auch Entscheid der Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen V-2018/267 vom 9. Mai 2019


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