RBOG 2024 Nr. 08
Zulässige fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses nach zweimaliger Verletzung der Treuepflicht zur umgehenden, kontinuierlichen und vollständigen Informationen über die Arbeitsunfähigkeit
Zusammenfassung des Sachverhalts:
Die Berufungsklägerin war seit dem 1. August 2020 bei der Berufungsbeklagten angestellt. Am 27. Oktober 2021 löste die Berufungsbeklagte den Arbeitsvertrag unter Einhaltung der dreimonatigen Kündigungsfrist ordentlich per 31. Januar 2022 auf. Als Begründung führte sie an, die Situation im Team sei unhaltbar geworden und sie sei nicht bereit, die von der Berufungsklägerin verlangten Änderungen vorzunehmen. Nach einem weiteren Schreiben der Berufungsbeklagten vom 9. November 2021 kündigte diese am 15. November 2021 das Arbeitsverhältnis fristlos. Im Berufungsverfahren ist strittig, ob die fristlose Kündigung vom 15. November 2021 nach vorgängiger Verwarnung am 9. November 2021 gerechtfertigt ist und das Bezirksgericht die Klage der Berufungsklägerin auf Bezahlung von Lohn und einer Entschädigung dementsprechend zu Recht abwies.
Aus den Erwägungen:
[…]
5.5.
Die Vorinstanz führte zutreffend aus, dass einzig der Ablauf zwischen der ordentlichen und der fristlosen Kündigung entscheidend ist. Gemäss der Vorinstanz ist die Berufungsklägerin nach der ordentlichen Kündigung am Mittwoch, 27. Oktober 2021, für zwei Tage freigestellt worden. Am Montag, 1. November 2021, sei sie am Arbeitsplatz erschienen, habe diesen aber vorzeitig verlassen. Am Dienstag, 2. November 2021, habe sich die Berufungsklägerin bei der Berufungsbeklagten krankgemeldet. Für die darauffolgenden zwei Tage, Mittwoch, 3. November 2021, und Donnerstag, 4. November 2021, liege keine Korrespondenz im Recht. Am Freitag, 5. November 2021, habe die Berufungsklägerin dem Betriebsverantwortlichen der Berufungsbeklagten per WhatsApp eine Nachricht geschickt und ihm mitgeteilt, dass sie mit dem Arzt in Kontakt stehe, aber anscheinend alle überlastet seien und sie frühestens am Montag – 8. November 2021 – zum Arzt gehen könne, da sie kein Notfall sei.
Insofern kam die Vorinstanz zutreffend zum Schluss, dass die Berufungsklägerin der Arbeit während zweier Tage ohne Nachricht über ihre Arbeitsunfähigkeit respektive ihren Verbleib fernblieb. Unbestrittenermassen liegt für die Zeit von Dienstag, 2. November, bis Freitag, 5. November 2021, bis heute kein Arztzeugnis betreffend die Arbeitsunfähigkeit der Berufungsklägerin im Recht.
5.6.
5.6.1.
Mit E-Mail vom Montag, 8. November 2021, wies der Verwaltungsratspräsident der Berufungsbeklagten die Berufungsklägerin darauf hin, dass er sie mit Schreiben vom 29. Oktober 2021 aufgefordert habe, zu einer ordentlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses beizutragen und ihren Verpflichtungen gemäss Vertrag nachzukommen. Der Betriebsverantwortliche habe sie in der Vorwoche zweimal aufgefordert, ein Arztzeugnis beizubringen; dies sei Voraussetzung für die Anmeldung bei der Versicherung. Er habe jedoch erfahren, dass sie bis Freitag keinen Arzt gefunden habe, der Zeit gehabt habe, weshalb sie das "heute Montag" nachholen wolle. Er erwarte sie mit Arztzeugnis am Folgetag – Dienstag, 9. November 2021 –, um 11.00 Uhr, am Arbeitsplatz zur Klärung verschiedener Punkte[1]. Falls sie verhindert sei, erwarte er bis am Abend desselben Tages, 19.00 Uhr, "Bericht mit Beilage/Kopie des Arztzeugnisses".
Am gleichen Abend, um 18.19 Uhr, teilte die Berufungsklägerin dem Verwaltungsratspräsidenten der Berufungsbeklagten per E-Mail mit, dass sie den Termin morgen – am Dienstag, 9. November 2021 – nicht wahrnehmen könne und "Arztzeugnis folgt". Es sei nicht richtig, dass sie keinen Arzt finde, ihre Aussage sei eine andere gewesen.
Als Antwort darauf verlangte der Verwaltungsratspräsident der Berufungsbeklagten mit E-Mail vom 8. November 2021, 18.55 Uhr, von der Berufungsklägerin bis am Dienstag, 9. November 2021, 08.00 Uhr, eine Erklärung für die Ursache ihres Fernbleibens von der Arbeit und die Terminabsage.
5.6.2.
In Übereinstimmung mit der seitens der Berufungsklägerin unwidersprochen gebliebenen Beurteilung der Vorinstanz ist unverständlich, warum die Berufungsklägerin der Berufungsbeklagten nicht spätestens in ihrer E-Mail von 8. November 2021, 18.19 Uhr, mitteilte, dass sie gleichentags eine telemedizinische Konsultation gehabt habe, worauf ihr eine Arbeitsunfähigkeit zu 100% von Montag, 8. November 2021, bis Donnerstag, 11. November 2021, bescheinigt worden sei. Das entsprechende Arbeitsunfähigkeitszeugnis trägt das Ausstellungsdatum und den Konsultationstermin vom 8. November 2021 sowie den Hinweis, dass es "dem Arbeitgeber unverzüglich zugestellt werden" soll. Dieses Arbeitsunfähigkeitszeugnis lag der Berufungsbeklagten jedoch erst zwei Tage später, am Mittwoch, 10. November 2021, vor.
Die Berufungsklägerin informierte ihre Arbeitgeberin nach der ärztlichen Konsultation am 8. November 2021 somit nicht von sich aus über ihre Arbeitsunfähigkeit, sondern erst auf entsprechende E-Mail-Nachfrage des Verwaltungsratspräsidenten vom gleichen Tag, wobei sie in einer äusserst kurz gehaltenen E-Mail lediglich mitteilte, dass das Arztzeugnis folge. In ihrer Rückmeldung verschwieg sie – wie die Vorinstanz richtig feststellte – somit wider besseres Wissen, dass sie für die nächsten drei Arbeitstage arbeitsunfähig geschrieben sei und nicht zur Arbeit erscheinen werde. Darüber hinaus leitete sie das Arztzeugnis auch nicht umgehend nach Erhalt per E-Mail (oder beispielsweise in Form eines Fotos per Whatsapp) an die Berufungsbeklagte weiter, obwohl der Verwaltungsratspräsident der Berufungsbeklagten sie in der E-Mail darauf hingewiesen hatte, dass ein Arztzeugnis für die Anmeldung bei der Versicherung vorausgesetzt werde.
In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass die Berufungsklägerin zu keinem Zeitpunkt weder vor Vorinstanz noch im Berufungsverfahren geltend machte, sie sei aus gesundheitlichen oder anderen Gründen nicht in der Lage gewesen, ihre Arbeitgeberin umgehend und kontinuierlich, beispielsweise per E-Mail oder über Whatsapp, über ihre Arbeitsunfähigkeit zu informieren.
Aufgrund ihrer Treueplicht war die Berufungsklägerin jedoch verpflichtet, ihre Arbeitgeberin unverzüglich, kontinuierlich und vollständig über ihre – augenscheinlich bereits bekannte – Abwesenheit zufolge Krankheit während der der Ausstellung des Arztzeugnisses folgenden drei Tage zu informieren. Indem sie erst auf Nachfrage reagierte und im – ohnehin stattfindenden – E-Mail-Verkehr vom 8. November 2021 wider besseres Wissen verschwieg, dass sie die nächsten drei Tage arbeitsunfähig sei, und sie auch das entsprechende Arztzeugnis nicht übermittelte, verletzte sie ihre Treuepflicht gegenüber der Berufungsbeklagten. So liess sie die Berufungsbeklagte betreffend ihren Arbeitseinsatz – in einer im Hinblick auf das nahende Weihnachtsgeschäft kritischen Phase – im Ungewissen und verunmöglichte beziehungsweise verzögerte die Anmeldung bei der Taggeldversicherung.
5.6.3.
Die Berufungsklägerin informierte den Verwaltungsratspräsidenten der Berufungsbeklagten am Donnerstag, 11. November 2021, um 21.00 Uhr, über einen Arzttermin am folgenden Vormittag und stellte anschliessend das weitere Vorgehen in Aussicht. Tatsächlich liegt denn auch ein undatiertes Arztzeugnis im Recht, das eine Arbeitsunfähigkeit von 100% ab Freitag, 12. November 2021, bescheinigt, welches nach übereinstimmenden Aussagen der Parteien erst knapp eine Woche später, am Donnerstag, 18. November 2021, bei der Berufungsbeklagten eintraf. Somit reichte die Berufungsklägerin – mindestens bis zur fristlosen Kündigung per E-Mail am 15. November 2021, um 23.35 Uhr – weder ein aktualisiertes Arztzeugnis ein noch gab sie Rückmeldung zu den vom Verwaltungsratspräsidenten der Berufungsbeklagten aufgeworfenen Themen. Die Berufungsklägerin teilte mit anderen Worten weder ihre neue Postanschrift mit noch signalisierte sie Einverständnis zur Abklärung durch einen Vertrauensarzt, obwohl sie im Berufungsverfahren eingestand, dass mindestens diese Fragen auf dem Korrespondenzweg, somit per E-Mail, hätten geklärt werden können.
Richtig ist, dass die anderen Themen – die Abrechnung der Ferientage und der Über- beziehungsweise Minusstunden, die Ausgestaltung der Arbeit bis am 31. Januar 2022 sowie der Schlüsselwechsel – nicht vordringlich waren.
5.6.4.
Augenscheinlich war das Vertrauensverhältnis zwischen den Parteien bereits zuvor belastet. Darauf weisen die Ausführungen in der ordentlichen Kündigung vom 27. Oktober 2021 und insbesondere der ausdrückliche Hinweis des Verwaltungsratspräsidenten in der E-Mail vom 8. November 2021, die Berufungsklägerin sei bereits mit Schreiben vom 29. Oktober 2021 aufgefordert worden, zu einer ordentlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses beizutragen und ihren Verpflichtungen gemäss Vertrag nachzukommen, deutlich hin. In jenem Schreiben vom 29. Oktober 2021 hatte die Berufungsbeklagte von der Berufungsklägerin für die Zeit bis Ende Januar 2022 korrekte Arbeit und korrektes Verhalten gegenüber dem Betriebsverantwortlichen, Team und Kunden gefordert. Gleichzeitig hatte sie ihr Bedauern ausgedrückt für den Fall, dass sie, die Berufungsbeklagte, die Zusammenarbeit vorzeitig abbrechen müsse.
Die Berufungsklägerin hatte am 1. November 2021 ihren Spind im Betrieb geräumt und die Arbeitsstelle zufolge Unwohlseins verlassen, sich am 2. November 2021 krankgemeldet und in der Folge lediglich auf den 8. November 2021 einen Arzttermin in Aussicht gestellt. Insofern erscheint es ohne Weiteres gerechtfertigt, dass die Berufungsbeklagte die Berufungsklägerin am 8. November 2021 aufforderte, zur Arbeit zu erscheinen oder aber unverzüglich ein Arztzeugnis vorzulegen. Die E-Mail vom 8. November 2021 enthielt somit keine Einberufung in den Betrieb während eines bescheinigten Krankenstandes, zumal der Verwaltungsratspräsident der Berufungsbeklagten ausdrücklich darauf hinwies, dass er bei Verhinderung ein Arztzeugnis oder eine Erklärung über die Ursache des Fernbleibens von der Arbeit und die Terminabsage erwarte.
Damit kommt in der E-Mail vom 8. November 2021 zum Ausdruck, dass die Berufungsbeklagte Zweifel an einer unverschuldeten Arbeitsunfähigkeit der Berufungsklägerin hatte und deswegen ein Arztzeugnis verlangte. Dies ist nicht zu beanstanden, nachdem die Berufungsklägerin als Arbeitnehmerin diesbezüglich die Beweislast trägt. Auch enthielt die E-Mail vom 8. November 2021 nicht – wie dies die Berufungsklägerin in der Berufungsschrift sinngemäss behauptete – eine Aufforderung zur sofortigen Klärung der weiteren Themen. Somit ist in der E-Mail des Verwaltungsratspräsidenten der Berufungsbeklagten vom 8. November 2021, wonach die Berufungsklägerin am Folgetag um 11.00 Uhr im Betrieb erscheinen solle, keine unzulässige Ausübung von Druck gegenüber der Berufungsklägerin oder eine Verletzung der Fürsorgepflicht durch die Berufungsbeklagte ersichtlich.
5.7.
5.7.1.
Mit E-Mail vom Dienstag, 9. November 2021, teilte der Verwaltungsratspräsident der Berufungsbeklagten der Berufungsklägerin mit, sie sei dazu verpflichtet, entweder eine korrekte Arbeitsleistung zu erbringen oder eine ärztliche Begründung zu liefern, weshalb sie der Arbeit fernbleibe. Er erwarte ein Arztzeugnis "bis morgen Mittwoch 12.00 Uhr bzw. eine klare Ansage, ob überhaupt bzw. ab wann" die Berufungsklägerin wieder für die Arbeit zur Verfügung stehe. Zugleich hielt er fest, dass "diese Aufforderung als letzte Nachfrist und Warnung vor weiteren Massnahmen" wie das Einstellen der Lohnzahlung für die Fehltage beziehungsweise die fristlose Kündigung sei.
5.7.2.
Diese E-Mail ist – in Übereinstimmung mit der Vorinstanz – als Verwarnung der Berufungsklägerin zu verstehen. Die Berufungsbeklagte forderte die Berufungsklägerin unmissverständlich auf, zeitnah und vollständig über ihre Arbeitsfähigkeit zu informieren, das heisst, eine allfällige Arbeitsunfähigkeit mittels Arztzeugnis zu belegen oder aber zur Arbeit zu erscheinen. Andernfalls habe sie insbesondere mit der fristlosen Kündigung zu rechnen. Eine unzulässige Ausübung von Druck beziehungsweise eine Verletzung der Fürsorgepflicht seitens der Berufungsbeklagten kann daraus abermals nicht gefolgert werden.
5.8.
5.8.1.
Am Mittwoch, 10. November 2021, 10.21 Uhr, bedankte sich der Verwaltungsratspräsident der Berufungsbeklagten per E-Mail bei der Berufungsklägerin für die Zustellung des Arztzeugnisses und fragte nach, ob sie demnach ab Freitag, 12. November 2021, wieder einsatzfähig sei. Am Donnerstag, 11. November 2021, 21.00 Uhr, antwortete die Berufungsklägerin, dass sie morgen Vormittag, das heisse am Freitag, 12. November 2021, einen Arzttermin habe, und sie dann weitersehen würden.
5.8.2.
Somit informierte die Berufungsklägerin die Berufungsbeklagte erst spätabends am Vortag über den Arzttermin vom 12. November 2021, obwohl im Arbeitsunfähigkeitszeugnis vom 8. November 2021 ausdrücklich festgehalten ist, dass die "Wiederaufnahme der Arbeit zu 100% ab 12.11.2021" erfolge respektive möglich sei. Die Berufungsbeklagte durfte aufgrund des bestehenden Arztzeugnisses und der Meldung eines weiteren Arzttermins am 12. November 2021, vormittags, davon ausgehen, dass die Berufungsklägerin entweder am Nachmittag des 12. November 2021 zur Arbeit erscheinen oder umgehend über eine weitere Arbeitsunfähigkeit informieren und diese entsprechend belegen würde.
5.8.3.
In der Folge meldete sich die Berufungsklägerin weder am Freitag, 12. November 2021, noch am Montag, 15. November 2021, bei ihrer Arbeitgeberin. Wiederum ist festzuhalten, dass sie nicht geltend machte, sie sei zufolge Krankheit oder anderer unverschuldeter Gründe nicht in der Lage gewesen, sich an einem dieser zwei Tage oder über das Wochenende bei ihrer Arbeitgeberin zu melden, sei dies per E-Mail oder zu Bürozeiten per Telefon. Auch machte sie nicht geltend, dass sie trotz Rücksprache mit ihrem Arzt anlässlich des Termins vom 12. November 2021 (noch) nicht gewusst habe, wie es, zumindest am Freitag, 12. November, und am Montag, 15. November 2021, um ihre Arbeitsfähigkeit stehe.
Damit verletzte sie ein weiteres Mal ihre Treuepflicht, wonach sie die Berufungsbeklagte umgehend, kontinuierlich und vollständig über ihre Arbeitsunfähigkeit zu informieren und eine allfällige Arbeitsunfähigkeit sofort zu belegen hat, obwohl am 9. November 2021 sogar eine entsprechende Verwarnung durch die Berufungsbeklagte vorangegangen war. Folglich verletzte die Berufungsklägerin ihre Treuepflicht in Kenntnis der möglichen Konsequenzen, mithin einer fristlosen Kündigung.
Androhungsgemäss kündigte der Verwaltungsratspräsident der Berufungsbeklagten mit E-Mail von Montag, 15. November 2021, 23.35 Uhr, das Arbeitsverhältnis mit der Berufungsklägerin fristlos.
5.9.
Die Berufungsklägerin verletzte somit ihre Treuepflicht zur umgehenden, kontinuierlichen und vollständigen Informationen über ihre Arbeitsunfähigkeit, einschliesslich ihre Pflicht zur umgehenden Bescheinigung einer allfälligen Arbeitsunfähigkeit, innert kürzester Zeit zwei Mal. Isoliert betrachtet handelt es sich bei diesen Pflichtverletzungen jeweils nicht um besonders schwerwiegende, aber doch in Anbetracht der Stellung der Berufungsklägerin im Betrieb der Berufungsbeklagten, im Hinblick auf das bevorstehende Weihnachtsgeschäft und im Wissen um die klar geäusserte Erwartungshaltung der Berufungsbeklagten um beachtliche Verfehlungen. Die zweite Treuepflichtverletzung erfolgte ausserdem nur kurz nach einer entsprechenden Verwarnung und der Androhung von Massnahmen, insbesondere der fristlosen Entlassung, durch die Arbeitgeberin. In dieser Situation konnte die Berufungsklägerin nicht erwarten, dass bei erneuter Säumnis ihrerseits nochmals eine Verwarnung mit Fristansetzung ergehen würde. Aufgrund der ersten Verwarnung wäre bei der Berufungsklägerin vielmehr bereits ein klares Bewusstsein über die Konsequenzen ihres Verhaltens zu erwarten gewesen.
Nach der ordentlichen Kündigung am 27. Oktober 2021 und der Aufforderung der Arbeitgeberin vom 29. Oktober 2021 zu einer "anständigen Beendigung der Zusammenarbeit" und zur Befolgung der vertraglichen Pflichten räumte die Berufungsklägerin bereits am 1. November 2021 ankündigungslos ihren Spind im Betrieb und verliess die Arbeitsstelle, wobei sie angab, es sei ihr unwohl. Es ist nachvollziehbar, dass dieses Verhalten bei der Berufungsbeklagten einen unguten Anschein betreffend die Leistungsbereitschaft der Berufungsklägerin erweckte. Sie war – wie bereits von der Vorinstanz festgehalten – eine von nur zwei fest angestellten Arbeitnehmenden. Daneben gab es lediglich Teilzeitmitarbeitende und Verkaufshilfen an den Wochenenden, weshalb die Berufungsbeklagte nicht auf einen umfangreichen Mitarbeiterstock zurückgreifen konnte.
5.10.
Richtig ist, dass das Arbeitsverhältnis zufolge der bereits ausgesprochenen, ordentlichen Kündigung per 31. Januar 2022 nur noch ungefähr zweieinhalb Monate gedauert hätte. Auf der anderen Seite handelte es sich nicht um ein langjähriges Arbeitsverhältnis, denn die Berufungsklägerin hatte ihre Stelle erst am 1. August 2020 und somit knapp 15 Monate vor der ordentlichen Kündigung angetreten. Ferner durfte die Berufungsbeklagte von der Berufungsklägerin aufgrund ihrer Stellung im Betrieb mehr Disziplin und Loyalität erwarten als von einem Mitarbeitenden ohne diesen Verantwortungsbereich.
Aufgrund der gesamten Umstände ist erstellt, dass durch das Verhalten der Berufungsklägerin die wesentliche Vertrauensgrundlage für eine geordnete Beendigung des Arbeitsverhältnisses tatsächlich tiefgreifend erschüttert war. Das Verhalten der Berufungsklägerin war auch objektiv dazu geeignet. In Übereinstimmung mit der Vorinstanz ist deshalb davon auszugehen, dass der Berufungsbeklagten die Fortführung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigung am 31. Januar 2022 nicht mehr zumutbar war.
5.11.
Nach der am 15. November 2021 ausgesprochenen fristlosen Kündigung reichte die Berufungsklägerin der Berufungsbeklagten am 18. November 2021 ein Arztzeugnis ein, wonach sie vom 12. November bis und mit 23. November 2021 zu 100% arbeitsunfähig sei. Ob dieser Arzttermin bereits am 12. November 2021 stattfand, geht aus dem Arztzeugnis nicht hervor, auch wenn es rückwirkend ab dem 12. November 2021 ausgestellt wurde. Die Vorinstanz hielt dazu richtigerweise fest, dass die nach der fristlosen Kündigung eingereichten Arztzeugnisse nicht zu beachten seien.
5.12.
Zusammenfassend erweist sich die fristlose Kündigung der Berufungsklägerin vom 15. November 2021 nach vorgängiger Verwarnung am 9. November 2021 als gerechtfertigt. Die fristlose Kündigung erfolgte nicht wegen der Arbeitsunfähigkeit der Berufungsklägerin, sondern wegen zweimaliger Verletzung ihrer Treuepflicht gegenüber der Berufungsbeklagten innert kürzester Zeit, wobei eine dieser Treuepflichtverletzungen kurz nach der vorgängigen Verwarnung am 9. November 2021 erfolgte. Damit ist das Arztzeugnis vom 18. November 2021 insofern nicht weiter relevant, als dass keine ungerechtfertigte Kündigung gemäss Art. 337 Abs. 3 OR vorliegt.
Die Berufungsklägerin hat folglich keinen Anspruch auf Lohnersatz oder eine Entschädigung.
Die Berufung ist unbegründet, und der angefochtene Entscheid ist zu bestätigen.
[…]
Obergericht, 2. Abteilung, 6. Juni 2024, ZBR.2024.4
Eine dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesgericht am 15. Januar 2025 ab, soweit es darauf eintrat (4A_486/2024).
[1] Themen waren die vermutliche Dauer der Krankheit und die Anmeldung bei der Versicherung, das Einverständnis für die Abklärung durch einen Vertrauensarzt, die Abrechnung der Ferientage und der Über- beziehungsweise Minusstunden, die Mitteilung der neuen Postadresse der Berufungsklägerin an die Berufungsbeklagte, die Ausgestaltung der Arbeit bis am 31. Januar 2022 sowie der Schlüsselwechsel.