RBOG 2024 Nr. 13
Verhältnis unentgeltliche Rechtspflege zu Kostenerlass (Bestätigung von RBOG 2015 Nr. 29 unter Berücksichtigung von RBOG 2020 Nr. 31)
Art. 112 Abs. 1 ZPO Art. 29 Abs. 3 BV
Aus den Erwägungen:
[…]
2.1.
Gemäss Art. 112 Abs. 1 ZPO können Gerichtskosten gestundet oder bei dauernder Mittellosigkeit erlassen werden. Aufgrund dieser Kann-Vorschrift besteht grundsätzlich kein gesetzlicher Anspruch auf einen Erlass oder eine Stundung[1]. Vielmehr liegen Stundung und Erlass im Ermessen der zuständigen Behörde[2]. Die Ausübung des Ermessens hat jedoch pflichtgemäss, das heisst insbesondere unter Beachtung des Rechtsgleichheitsgebots, zu erfolgen[3].
2.2.
Die Möglichkeit des Erlasses von Gebühren hat einen anderen Zweck als die unentgeltliche Rechtspflege. Diese soll allen Bürgern den Zugang zum Gericht ermöglichen und ist daher gestützt auf Art. 29 Abs. 3 BV als verfassungsmässiger Anspruch des Einzelnen gewährleistet. Beim Kostenerlass hingegen geht es im Sinn von Art. 5 Abs. 2 BV und § 2 Abs. 2 KV um die Umsetzung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit bei der staatlichen Interessendurchsetzung. Eine solche Interessendurchsetzung sollte insbesondere unterbleiben, wenn die verfolgten fiskalischen Interessen sowie das Interesse an einer rechtsgleichen Durchsetzung der Kostenfolgen in keiner Art und Weise die Opfer und Belastungen des Pflichtigen zu rechtfertigen vermögen. Dem unterschiedlichen Zweck des Kostenerlasses und der unentgeltlichen Rechtspflege entspricht, dass die unentgeltliche Prozessführung in aller Regel ausschliesslich für die Zukunft gewährt und zudem eine Nachforderung der Kosten ausdrücklich vorbehalten wird; es geht im eigentlichen Sinn um eine "Prozesshilfe". Demgegenüber ist ein Erlassgesuch erst nach Ende eines Verfahrens zu stellen. Seine Gutheissung wirkt auf den Beginn des Verfahrens zurück und lässt die staatlichen Ansprüche gegenüber dem Pflichtigen definitiv untergehen; eine spätere Nachforderung der Gebühren ist mithin ausgeschlossen[4]. Die unentgeltliche Rechtspflege ist im Gegensatz zum Erlass der Verfahrenskosten somit eine blosse Kostenstundung und nicht eine Kostenbefreiung im Sinn eines Kostenerlasses[5].
2.3.
Aufgrund des unterschiedlichen Zwecks von unentgeltlicher Rechtspflege und Gerichtskostenerlass ergibt sich grundsätzlich, dass die Voraussetzungen für einen Erlass der Gerichtskosten nicht ohne Weiteres den Voraussetzungen für die Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung nachgebildet werden können[6].
2.4.
Bezüglich des Kriteriums der Aussichtslosigkeit des geführten Prozesses kommt ein Erlass nicht in Betracht, wenn in einem früheren Entscheid betreffend unentgeltliche Rechtspflege die Aussichtslosigkeit bejaht wurde und der Gesuchsteller den Prozess trotzdem weiterführte, beziehungsweise wenn die betroffene Partei den Prozess wider besseres Wissen über die kaum bestehenden Gewinnchancen angehoben und weitergeführt hat. Ebenso wenig darf es sein, dass eine Partei in einem aussichtslosen Prozess nur deshalb auf ein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung verzichtet, um in einem späteren Zeitpunkt ihre Chancen auf Kostenerlass nicht zu schmälern[7].
2.5.
Wurde im Prozess ein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung wegen fehlender Mittellosigkeit abgelehnt, kommt ein späterer Erlass der Gerichtskosten nur in Betracht, wenn sich die finanziellen Verhältnisse der betroffenen Person mittlerweilen nachgewiesenermassen verschlechtert haben. Angesichts des unterschiedlichen Zwecks von unentgeltlicher Prozessführung und Kostenerlass sind sodann beim Erlass sowohl in zeitlicher als auch in quantitativer Hinsicht strengere Massstäbe an die Mittellosigkeit anzulegen, als bei der Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege[8]. Das gilt insbesondere auch, weil im Gegensatz zur unentgeltlichen Rechtspflege beim Erlass die Möglichkeit der Nachforderung nicht (mehr) besteht[9].
Für den Erlass der Gerichtskosten wird vorausgesetzt, dass die Mittellosigkeit voraussichtlich länger andauern wird und damit in absehbarer Zeit keine Aussicht auf Besserung der finanziellen Lage der betroffenen Partei besteht[10]. Massgeblich ist, ob man davon ausgehen kann, dass die Gerichtskosten auch noch während der Verjährungsfrist von zehn Jahren[11] nicht beglichen werden können. Es sind somit auch Einkünfte und Vermögenswerte zu berücksichtigen, die erst innerhalb der nächsten zehn Jahre verfügbar sein werden oder kapitalisiert werden können[12]. Wenn die Mittellosigkeit durch eigene Anstrengungen (Erwerbstätigkeit, Veräusserung von Vermögenswerten oder wegfallende Kosten) oder einen absehbaren Vermögenszufluss (Erbteilung, güterrechtliche Auseinandersetzung, Versicherungsleistungen wie etwa bei einem hängigen Gesuch an die Invalidenversicherung) voraussichtlich beseitigt werden kann, kommt kein Erlass in Betracht. Angesichts der gesetzlichen Möglichkeit, die Kosten auch nur zu stunden, ist im Zweifel nur zu stunden und die Entwicklung abzuwarten, insbesondere wenn es um höhere Beträge geht[13].
2.6.
Der Erlass der Gerichtskosten ist ferner auch von einer Interessenabwägung abhängig: Abzuwägen sind die schutzwürdigen Interessen des Pflichtigen, die durch ein Weiterbestehen der Forderung betroffen werden, gegenüber den öffentlichen Interessen an einer gleichmässigen, konsequenten, aber auch kostendeckenden Durchsetzung staatlicher Ansprüche[14].
2.7.
Es ist ohne Weiteres zulässig, einen teilweisen Erlass zu verfügen[15]. Ebenso kommt neben der Stundung nach der Praxis auch die Vereinbarung von Ratenzahlungen in Betracht[16].
[…]
Obergericht, 1. Abteilung, 7. August 2024, ZR.2024.30
[1] Urteil des Bundesgerichts 5D_222/2023 vom 12. Dezember 2023 E. 4 mit weiteren Hinweisen; RBOG 2015 Nr. 29 E. 3.b; Urteil des Appellationsgerichts Basel-Stadt VD.2023.2 (AG.2023.201) vom 16. März 2023 E. 3.3.5; Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau JG/2016/02 vom 15. Juli 2017 E. 6; Urteil des Kantonsgerichts Graubünden ZK1 2022 16 vom 18. Februar 2022 E. 2.1; Urteil des Kantonsgerichts Freiburg 101 2016 437 + 449, 101 2017 51 vom 20. Februar 2017 E. 5; vgl. Sterchi, Berner Kommentar, Bern 2012, Art. 112 ZPO N. 2; Jenny, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (Hrsg.: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger), 3.A., Art. 112 N. 2; Schmid/Jent-Sørensen, in: Schweizerische Zivilprozessordnung, Kurzkommentar (Hrsg.: Oberhammer/Domej/Haas), 3.A., Art. 111/112 N. 13; Sutter-Somm/Seiler, in: Handkommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (Hrsg.: Sutter-Somm/Seiler), Zürich/Basel/Genf 2021, Art. 112 N. 1
[2] RBOG 2015 Nr. 29 E. 3.b mit weiteren Hinweisen; Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau JG/2016/02 vom 15. Juli 2017 E. 6; Urteil des Kantonsgerichts Freiburg 101 2016 437 + 449, 101 2017 51 vom 20. Februar 2017 E. 5
[3] Vgl. BGE 140 III 159 E. 4.2; RBOG 2015 Nr. 29 E. 3.b mit weiteren Hinweisen; Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau JG/2016/02 vom 15. Juli 2017 E. 6; vgl. Rüegg/Rüegg, Basler Kommentar, 3.A., Art. 112 N. 1
[4] RBOG 2015 Nr. 29 E. 3.c mit weiteren Hinweisen; Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau JG/2016/02 vom 15. Juli 2017 E. 6.3; vgl. Urteil des Kantonsgerichts Graubünden ZK1 2022 16 vom 18. Februar 2022 E. 2.1; Schmid/Jent-Sørensen, Art. 111/112 ZPO N. 10
[5] RBOG 2015 Nr. 29 E. 3.c mit weiteren Hinweisen
[6] RBOG 2015 Nr. 29 E. 3.d mit weiteren Hinweisen
[7] Vgl. Urteil des Bundesgerichts 5D_222/2023 vom 12. Dezember 2023 E. 4; RBOG 2015 Nr. 29 E. 3.e.aa mit weiteren Hinweisen; Urteil des Obergerichts des Kantons Bern ZK 2017 71 vom 21. Februar 2017 E. 5; Urteil des Appellationsgerichts Basel-Stadt VD.2023.2 (AG.2023.201) vom 16. März 2023 E. 3.3.5; Urteil des Kantonsgerichts Graubünden ZK1 2022 16 vom 18. Februar 2022 E. 2.2; GVP 2013 Nr. 57; Urteil des Kantonsgerichts Freiburg 101 2016 437 + 449, 101 2017 51 vom 20. Februar 2017 E. 5; Sterchi, Art. 112 ZPO N. 2 und 4; Jenny, Art. 112 ZPO N. 2; Urwyler/Grütter, in: Schweizerische Zivilprozessordnung (Hrsg.: Brunner/Gasser/Schwander), 2.A., Art. 112 N. 4; Sutter-Somm/Seiler, Art. 112 ZPO N. 3; vgl. Schmid/Jent-Sørensen, Art. 111/112 ZPO N. 12; a.M. Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau JG/2016/02 vom 15. Juli 2017 E. 6.1-6.5
[8] RBOG 2020 Nr. 31 E. 2.b.aa mit Verweis auf RBOG 2015 Nr. 29 E. 3.f.aa mit weiteren Hinweisen
[9] RBOG 2015 Nr. 29 E. 3.f.aa m.w.H.; Urteil des Obergerichts des Kantons Bern ZK 2017 71 vom 21. Februar 2017 E. 4.2; Rüegg/Rüegg, Art. 112 ZPO N. 1; Schmid/Jent-Sørensen, Art. 111/112 ZPO N. 12; Urwyler/Grütter, Art. 112 ZPO N. 4: Sutter-Somm/Seiler, Art. 112 ZPO N. 3
[10] RBOG 2020 Nr. 31 E. 2.b.aa mit Verweis auf RBOG 2015 Nr. 29 E. 3.f.bb mit weiteren Hinweisen; Urteil des Obergerichts des Kantons Bern ZK 2017 71 vom 21. Februar 2017 E. 4.2
[11] Art. 112 Abs. 2 ZPO
[12] RBOG 2015 Nr. 29 E. 3.f.bb mit weiteren Hinweisen; Urteil des Obergerichts des Kantons Bern ZK 2017 71 vom 21. Februar 2017 E. 4.2; Urteil des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt BEZ.2015.13 (AG.2021.610) vom 29. Oktober 2021 E. 2.2; Urteil des Kantonsgerichts Graubünden ZK1 2022 16 vom 18. Februar 2022 E. 2.1; Urteil des Kantonsgerichts Freiburg 101 2016 437 + 449, 101 2017 51 vom 20. Februar 2017 E. 5; Urwyler/Grütter, Art. 112 ZPO N. 4; Sutter-Somm/Seiler, Art. 112 ZPO N. 3
[13] RBOG 2015 Nr. 29 E. 3.f.bb; Urteil des Obergerichts des Kantons Bern ZK 2017 71 vom 21. Februar 2017 E. 4.2; Urteil des Kantonsgerichts Graubünden ZK1 2022 16 vom 18. Februar 2022 E. 2.1; Urteil des Kantonsgerichts Freiburg 101 2016 437 + 449, 101 2017 51 vom 20. Februar 2017 E. 5; Jenny, Art. 112 ZPO N. 5; Sutter-Somm/Seiler, Art. 112 ZPO N. 3
[14] RBOG 2020 Nr. 31 E. 2.b.aa mit Verweis auf RBOG 2015 Nr. 29 E. 3.j
[15] RBOG 2015 Nr. 29 E. 3.k; Urteil des Kantonsgerichts Graubünden ZK1 2022 16 vom 18. Februar 2022 E. 2.1; vgl. Urteil des Kantonsgerichts Freiburg 101 2016 437 + 449, 101 2017 51 vom 20. Februar 2017 E. 5; Sutter-Somm/Seiler, Art. 112 ZPO N. 3
[16] RBOG 2015 Nr. 29 E. 3.k; Urteil des Kantonsgerichts Graubünden ZK1 2022 16 vom 18. Februar 2022 E. 2.1; Schmid/Jent-Sørensen, Art. 111/112 ZPO N. 11