RBOG 2024 Nr. 21
Der Entscheid betreffend Leistung eines Prozesskostenvorschusses stellt einen vorsorglichen Massnahmenentscheid dar; Anfechtbarkeit je nach Streitwert mit Berufung oder Beschwerde
Art. 276 Abs. 1 ZPO Art. 308 Abs. 1 lit. b ZPO Art. 159 Abs. 3 ZGB Art. 163 ZGB
Zusammenfassung des Sachverhalts:
1.
Der Berufungskläger und die Berufungsbeklagte installierten mit gerichtlich genehmigter Vereinbarung für die Dauer des Scheidungsverfahrens ein Besuchsrecht zwischen dem Berufungskläger und der gemeinsamen Tochter. Nachdem offenbar seit mehreren Monaten keine Besuchskontakte mehr stattgefunden hatten, ersuchte der Berufungskläger das Bezirksgericht um Vollstreckung des vorsorglichen Besuchsrechts. In der Folge ordnete die Einzelrichterin unter anderem ein kinderpsychiatrisches Gutachten an und verpflichtete die Eltern je zur hälftigen Kostentragung.
2.
Die Berufungsbeklagte ersuchte um Bezahlung eines Prozesskostenvorschusses durch den Berufungskläger für künftige Anwaltskosten und das kinderpsychiatrische Gutachten in der Höhe von insgesamt mehr als Fr. 10'000.00. Die Einzelrichterin hiess das Gesuch um Leistung eines Prozesskostenvorschusses gut. Als Rechtsmittel führte sie die Beschwerde an das Obergericht an. Gegen diesen Entscheid erhob der Berufungskläger Berufung und beantragte die Aufhebung des Entscheids und die Abweisung des Gesuchs um Leistung eines Prozesskostenvorschusses.
Aus den Erwägungen:
[…]
1.1.
Der Rechtsmittelkläger erhob Berufung. Er stellte sich auf den Standpunkt, bei einem Entscheid über einen Prozesskostenvorschuss handle es sich um einen vorsorglichen Massnahmeentscheid nach Art. 276 ZPO. Vorsorgliche Massnahmen im Scheidungsverfahren könnten gemäss Art. 308 Abs. 1 lit. b ZPO mit Berufung angefochten werden. Sofern eine vermögensrechtliche Streitigkeit vorliege, sei die Berufung nur zulässig, wenn der Streitwert der zuletzt aufrechterhaltenen Rechtsbegehren mindestens Fr. 10'000.00 betrage. Vorliegend werde der Berufungskläger zu einem Prozesskostenvorschuss von insgesamt Fr. 15'500.00 verpflichtet, womit der Streitwert über Fr. 10'000.00 liege.
1.2.
Mit Berufung sind erstinstanzliche End- und Zwischenentscheide (lit. a.) und erstinstanzliche Entscheide über vorsorgliche Massnahmen (lit. b) anfechtbar[1]. In vermögensrechtlichen Angelegenheiten ist die Berufung nur zulässig, wenn der Streitwert der zuletzt aufrechterhaltenen Rechtsbegehren mindestens Fr. 10'000.00 beträgt[2]. Mit Beschwerde anfechtbar sind nicht berufungsfähige erstinstanzliche Endentscheide, Zwischenentscheide und Entscheide über vorsorgliche Massnahmen (lit. a), andere erstinstanzliche Entscheide und prozessleitende Verfügungen in den vom Gesetz bestimmten Fällen oder wenn durch sie ein nicht leicht wiedergutzumachender Nachteil droht (lit. b) sowie Fälle der Rechtsverzögerung (lit. c)[3].
Damit unterscheidet die Zivilprozessordnung zwischen Endentscheiden, Zwischenentscheiden, Entscheiden über vorsorgliche Massnahmen sowie anderen Entscheiden und prozessleitenden Verfügungen. Ein Endentscheid beendet das Verfahren[4], während ein Zwischenentscheid einen Teilaspekt des Rechtsbegehrens oder eine Zwischenfrage abschliessend regelt[5]. Entscheide über vorsorgliche Massnahmen enthalten materielle Anordnungen, mit denen vor oder während der Rechtshängigkeit eines Prozesses vorläufiger Rechtsschutz gewährt wird[6]. Bei prozessleitenden Verfügungen handelt es sich bildlich gesprochen um eine Art gerichtlicher Regieanweisungen während des Verfahrens. Gemeint sind damit jegliche gerichtliche Anordnungen, die dem formellen Ablauf des Verfahrens und dem Beschleunigungsgebot dienen, ohne jedoch selbst zur Begründetheit oder Zulässigkeit der Klage in einem Zusammenhang zu stehen[7]. Als Beispiele für prozessleitende Verfügungen gelten Fristansetzungen, Kostenvorschüsse im Sinn von Art. 222 Abs. 1 ZPO beziehungsweise Art. 98 ZPO, die Vorladung zur Verhandlung gemäss Art. 133 ZPO, Massnahmen zur Vereinfachung des Prozesses im Sinn von Art. 125 ZPO, die Beweisverfügung nach Art. 154 ZPO sowie die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege nach Art. 117 ff. ZPO[8]. Unter den ʺanderen erstinstanzlichen Entscheidenʺ versteht ein Teil der Lehre Entscheide über rein verfahrensrechtliche Zwischenfragen, soweit es sich dabei nicht um prozessleitende Anordnungen handelt[9]. Ein anderer Teil der Lehre vertritt die Ansicht, dass der Passus ʺandere erstinstanzliche Entscheideʺ keine selbstständige Bedeutung hat, ausser bei Anfechtung der Gegenstandslosigkeit[10].
1.3.
Das Gesuch um einen Prozesskostenvorschuss von der Gegenpartei ist abzugrenzen von einem vom Gericht verfügten Prozesskostenvorschuss. Letzteres betrifft eine prozessuale Anordnung des Gerichts gegenüber einer Partei zur Bezahlung der mutmasslichen Gerichtskosten im Sinn von Art. 98 ZPO. Beim Gesuch um einen Prozesskostenvorschuss von der Gegenpartei geht es dagegen um die Finanzierung des Prozesses aus Sicht der Partei. Das Institut des Prozesskostenvorschusses von der Gegenpartei (sogenannte ʺprovisio ad litemʺ) und das prozessuale Armenrecht sind – trotz unterschiedlicher Rechtsnatur – eng miteinander verknüpft. Während der Anspruch auf Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege verfahrensrechtlicher Natur ist und sich in erster Linie gegen den Staat richtet, gründet der Anspruch auf Zusprache eines Prozesskostenvorschusses auf einer familienrechtlichen Pflicht und richtet sich gegen eine andere, am Prozess beteiligte, natürliche Person. Die Zwecksetzung ist die gleiche: Dem Vorschussempfänger, der selbst nicht über die nötigen Mittel verfügt, soll die Wahrnehmung seiner Interessen vor Gericht ermöglicht werden[11]. Der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege ist nach konstanter Rechtsprechung gegenüber dem materiell-rechtlichen Anspruch auf Bevorschussung der Prozesskosten durch eine Partei subsidiär[12].
Die Pflicht eines Ehegatten, dem andern in Rechtsstreitigkeiten durch Leistung von Prozesskostenvorschüssen beizustehen, ist im materiellen Eherecht verankert[13]. Wer selbst nicht über ausreichend Mittel für die Kosten des Scheidungsverfahrens verfügt, hat Anspruch auf einen Prozesskostenvorschuss von seinem Ehegatten, sofern dieser zu dessen Bezahlung in der Lage ist. Die Grundlage dieser Pflicht ‒ Art. 159 Abs. 3 oder Art. 163 ZGB ‒ ist umstritten, wobei diese Frage nicht von Belang ist für die Voraussetzungen, unter denen ein solcher Prozesskostenvorschuss geschuldet ist[14]. Der Entscheid über einen solchen Prozesskostenvorschuss betrifft weder den formellen Ablauf des Verfahrens, noch richtet er sich gegen den Staat. Es geht auch nicht darum, dass das Gericht einstweilen im Sinn der unentgeltlichen Rechtspflege für die Prozesskosten aufzukommen hat. Vielmehr handelt es sich um einen vorläufigen materiellen Anspruch der bedürftigen Person gegenüber der Gegenpartei auf finanzielle Unterstützung während der Rechtshängigkeit eines Prozesses. Mit dem formellen Verfahrensablauf hat diese Anordnung demnach nichts zu tun, weshalb sie auch keine verfahrensleitende Verfügung darstellt. Gemäss der Rechtsprechung und Lehre erfolgt eine entsprechende Anordnung während eines hängigen Scheidungsverfahrens als vorsorgliche Massnahme im Sinn von Art. 276 ZPO[15]. Der Streit um den Prozesskostenvorschuss betrifft eine Frage vermögensrechtlicher Natur[16].
Während Entscheide betreffend die (vollständige oder teilweise) Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege gemäss Art. 121 ZPO mittels Beschwerde anfechtbar sind, handelt es sich beim Prozesskostenvorschuss von der Gegenpartei gemäss den vorstehenden Ausführungen um eine vorsorgliche Massnahme während des Scheidungsverfahrens nach Art. 276 ZPO. Dabei sind erstinstanzliche Entscheide über einen Prozesskostenvorschuss im Sinn von Art. 308 ZPO mit Berufung anfechtbar, sofern der Streitwert mindestens Fr. 10'000.00 beträgt. Zur Ermittlung des Streitwerts ist nicht auf die Hauptsache abzustellen, sondern nur auf die umstrittene vorsorgliche Massnahme und somit auf die Höhe des von der Vorinstanz gesprochenen Vorschusses[17].
1.4.
Vorliegend angefochten ist der Entscheid der Vorinstanz über das Gesuch um Leistung eines Prozesskostenvorschusses durch den Berufungskläger im Rahmen des vorsorglichen Scheidungsverfahrens. Dabei handelt es sich um eine vorsorgliche Massnahme betreffend die Unterstützungspflicht im vorsorglichen Massnahmenverfahren betreffend Vollstreckung des vorsorglichen Besuchsrechts. Der Berufungskläger wehrte sich gegen den ihm auferlegten Prozesskostenvorschuss an die Berufungsbeklagte im Umfang von insgesamt Fr. 15'500.00. Damit liegt eine vermögensrechtliche Streitigkeit mit einem Streitwert über Fr. 10'000.00 vor, wogegen das Rechtsmittel der Berufung offensteht.
Das Gericht hat den Entscheid im Sinn von Art. 238 lit. f. ZPO mit einer Rechtsmittelbelehrung zu versehen, sofern die Parteien auf die Rechtsmittel nicht verzichtet haben. Aus dem Grundsatz, dass einer Partei aus einer mangelhaften Eröffnung keine Nachteile erwachsen dürfen, folgt, dass dem beabsichtigten Rechtsschutz auch dann Genüge getan ist, wenn eine objektiv mangelhafte Eröffnung trotz des Mangels ihren Zweck erreicht[18]. Das bedeutet nichts anderes, als dass im konkreten Einzelfall zu prüfen ist, ob die betroffene Partei durch den gerügten Eröffnungsmangel tatsächlich irregeführt und dadurch benachteiligt worden ist[19]. Im vorliegenden Fall war der Rechtsmittelkläger offensichtlich in der Lage, gegen den Entscheid rechtzeitig und gesetzeskonform eine Berufung zu ergreifen. Damit ist ihm aus der fehlerhaften Rechtsmittelbelehrung kein Nachteil erwachsen und dieser Mangel ist nicht weiter von Relevanz.
Die weiteren Prozessvoraussetzungen geben keinen Anlass zu Bemerkungen und auf die im übrigen frist- und formgerecht eingereichte Berufung ist einzutreten.
[…]
Obergericht, 2. Abteilung, 5. September 2024, ZBS.2024.25
[1] Art. 308 Abs. 1 ZPO
[2] Art. 308 Abs. 2 ZPO
[3] Art. 319 ZPO
[4] Art. 236 Abs. 1 ZPO
[5] Art. 237 ZPO; Steck/Brunner, Basler Kommentar, 3.A., Art. 237 ZPO N. 2 und 4
[6] Art. 261 ZPO; Spühler, in: Schweizerische Zivilprozessordnung (Hrsg.: Spühler), Zürich/Genf 2023, Art. 261 N. 1; Sutter-Somm/Seiler, in: Handkommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (Hrsg.: Sutter-Somm/Seiler), Zürich/Basel/Genf 2021,Art. 261 N. 1
[7] Art. 124 ZPO; Art. 246 ZPO; Müller, Prozessleitende Entscheide im weiteren Sinn, in: zzz 2014 S. 248; Gasser/Rickli, Schweizerische Zivilprozessordnung, Kurzkommentar, 2.A., Art. 124 N. 1; Urteil des Bundesgerichts 5D_160/2014 vom 26. Januar 2015 E. 2.3
[8] Müller, S. 248
[9] Blickenstorfer, in: Schweizerische Zivilprozessordnung (Hrsg.: Brunner/Gasser/Schwander), 2.A., Art. 319 N. 11
[10] Spühler, Basler Kommentar, 3.A., Art. 319 ZPO N. 2; Müller, S. 248
[11] Maier, Die Finanzierung von familienrechtlichen Prozessen, in: FamPra.ch - Die Praxis des Familienrechts 2019 S. 831 f.
[12] BGE 138 III 672 E. 4.2.1; Urteil des Bundesgerichts 5A_811/2022 vom 21. Februar 2023 E. 3.1.2
[13] Urteil des Bundesgerichts 5A_786/2021 vom 18. März 2022 E. 3.3.2
[14] Urteile des Bundesgerichts 5A_482/2019 vom 10. Oktober 2019 E. 3.1; 5D_30/2013 vom 15. April 2013 E. 2.1
[15] Urteile des Bundesgerichts 5A_786/2021 vom 18. März 2022 E. 2; 5A_716/2021 vom 7. März 2022 E. 2; 5A_482/2019 vom 10. Oktober 2019 E. 2.1; 5A_422/2018 vom 26. September 2019 E. 2.1; Weingart, Provisio ad litem - Der Prozesskostenvorschuss für eherechtliche Verfahren, in: Zivilprozess und Vollstreckung national und international - Schnittstellen und Vergleiche, Festschrift für Jolanta Kren Kostkiewicz, Bern 2018, S. 698
[16] Urteile des Bundesgerichts 5A_786/2021 vom 18. März 2022 E. 1.1; 5A_447/2012 vom 27. August 2012 E. 1.2
[17] Weingart, S. 698 f.; Urteile des Obergerichts Zürich LY210055 vom 17. Juni 2022 E. 2; LY210055 vom 17. Juni 2022 E. 2; Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau ZSU.2022.174 vom 27. September 2022 E. 1.2
[18] Urteile des Bundesgerichts 5D_22/2012 vom 21. Juni 2012 E. 3.1; 8C_485/2018 vom 11. Februar 2019 E. 5.4
[19] Urteil des Bundesgerichts 5D_22/2012 vom 21. Juni 2012 E. 3.1