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RBOG 2024 Nr. 30

Anwendbarkeit des TG DSG auf Gesuche um Einsicht in rechtskräftige verfahrensabschliessende Entscheide der Staatsanwaltschaft; Überweisung des Rechtsmittels von Amtes wegen an die zuständige Behörde (Ergänzung zu RBOG 2023 Nr. 52)

Art. 99 Abs. 1 StPOArt. 30 Abs. 3 BV Art. 91 Abs. 4 StPO


Zusammenfassung des Sachverhalts:

1.

Die Staatsanwaltschaft stellte das gegen den Beschwerdegegner geführte Strafverfahren ein. Diese Einstellungsverfügung ist rechtskräftig. Das Strafverfahren ging zurück auf eine Strafanzeige, die eine Rechtsanwältin für die Beschwerdeführerin erhoben hatte.

2.

Später ersuchte die Rechtsanwältin die Staatsanwaltschaft um Zustellung der Einstellungsverfügung. Die Staatsanwaltschaft verweigerte die Einsicht in die Einstellungsverfügung. Gegen diese Verfügung erhoben die Beschwerdeführerin, deren Schwager und die Rechtsanwältin selbst fristgerecht beim Obergericht Beschwerde. Sie beantragten, es sei ihnen in Aufhebung der angefochtenen Verfügung die Einstellungsverfügung zuzustellen.

Aus den Erwägungen:

1.

Die Beschwerdeführer machten geltend, sie würden die Beschwerde gemäss der Rechtsmittelbelehrung in der angefochtenen Verfügung beim Obergericht erheben. Der Hinweis der Staatsanwaltschaft auf BGE 136 I 80, wonach die Einsicht in rechtskräftige Einstellungsverfügungen eine Frage verwaltungsrechtlicher Natur sei, sei nicht nachvollziehbar. Der zitierte Bundesgerichtsentscheid datiere vom 14. Januar 2010 und sei somit vor Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung ergangen. In jenem Fall sei das Zürcher Verwaltungsgericht zum Entscheid über ein Einsichtsgesuch zuständig gewesen. Dies sei unter Einschränkungen mit Inkrafttreten der StPO nicht mehr relevant.

Damit nahmen die Beschwerdeführer Bezug auf die Erwägung der Staatsanwaltschaft, wonach im Einzelfall die Relevanz des Datenschutzgesetzes zu prüfen sei. Nach BGE 136 I 80 sei die Einsicht in rechtskräftig abgeschlossene Straffälle, hier in eine Einstellungsverfügung, eine Frage verwaltungsrechtlicher Natur.

2.

2.1.

Das Obergericht entschied in RBOG 2023 Nr. 52, nach Abschluss des Verfahrens richteten sich das Bearbeiten von Personendaten, das Verfahren und der Rechtsschutz gemäss Art. 99 Abs. 1 StPO nach den Bestimmungen des Datenschutzrechts von Bund und Kantonen. Der Verweis in Art. 99 Abs. 1 StPO habe zur Folge, dass ein Entscheid über die Einsicht in Personendaten bei abgeschlossenen Strafverfahren keine Verfügung im Sinn von Art. 393 Abs. 1 lit. a StPO darstelle. Es fehle somit die Möglichkeit, ihn mit strafprozessualer Beschwerde anzufechten. Es liege eine durch den Gesetzgeber vorgesehene Ausnahme vom Rechtsmittelsystem der StPO vor. Zum Zug kämen die Rechtsmittel der einschlägigen Erlasse, denn mit Art. 99 StPO werde bezüglich der Bearbeitung und Aufbewahrung von Personendaten nach Abschluss des Verfahrens den Kantonen explizit die Kompetenz erteilt, in diesem Bereich zu legiferieren[1].

Weil die Staatsanwaltschaft ein kantonales Organ sei, komme das im Kanton Thurgau geltende TG DSG[2] zur Anwendung. Das kantonale Datenschutzgesetz regle die Bearbeitung von Daten durch öffentliche Organe respektive durch den Staat, also auch durch die Staatsanwaltschaft[3]. Seine Bestimmungen würden für jedes Bearbeiten von Personendaten gelten, unabhängig von den verwendeten Mitteln oder Verfahren, soweit nicht andere Gesetze besondere Vorschriften enthielten[4]. Die StPO und dessen Rechtsmittelsystem seien – wie dargelegt – gerade nicht anwendbar. Aber auch die von der Staatsanwaltschaft angeführte InfoV[5] enthalte für die Einsicht in ein ausschliesslich bei der Staatsanwaltschaft geführtes Strafverfahren keine Vorschriften; die Staatsanwaltschaften fielen gemäss § 1 Abs. 1 InfoV nicht unter den Geltungsbereich der InfoV. Andere, besondere Vorschriften, die dem TG DSG vorgingen, seien nicht ersichtlich; auch das ZSRG[6] enthalte keine entsprechenden Bestimmungen. Anwendbar bleibe somit allein das TG DSG[7].

Personendaten seien gemäss § 3 Abs. 1 TG DSG Angaben über natürliche oder juristische Personen, wobei besonders schützenswerte Personendaten Angaben – unter anderem – über Straftaten und die dafür verhängten Strafen oder Massnahmen seien[8]. Die Bearbeitung von Personendaten umfasse gemäss § 3 Abs. 3 TG DSG gerade auch das hier in Frage stehende Bekanntgeben von Personendaten. Gegen Entscheide aufgrund des TG DSG könne beim in der Sache zuständigen Departement Rekurs erhoben werden. Entscheide der Departemente unterlägen der Beschwerde an das Verwaltungsgericht[9], wobei sich das Verfahren nach dem VRG[10] richte[11]. Daher sei das Obergericht als Beschwerdeinstanz im Sinn von Art. 13 lit. c StPO zur Beurteilung der von der Beschwerdeführerin gegen die Verfügung der Staatsanwaltschaft erhobenen Beschwerde nicht zuständig. Auf die Beschwerde sei daher nicht einzutreten[12].

2.2.

2.2.1.

Anders als in RBOG 2023 Nr. 52 geht es hier, worauf die Beschwerdeführer in ihrer Beschwerde zutreffend hinwiesen, nicht um die Einsicht in die Akten eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens, sondern um die Einsichtnahme in eine rechtskräftige Einstellungsverfügung, somit also allein in einen verfahrensabschliessenden Entscheid. Die Kenntnisnahme von Urteilen beschlägt eine andere Ebene als die Einsicht in Prozessakten und den vom Archivierungsreglement erfassten Bereich. Die Justizöffentlichkeit ist für den spezifischen Bereich der Justiz ein spezielles Mittel zur Gewährleistung von Transparenz in der Rechtsprechung und betrifft insoweit nicht das Archivierungsrecht. Von Urteilen kann Kenntnis gegeben werden, ohne gleichzeitig auch Einsicht in die Prozessakten zu gewähren. Die Möglichkeit der Kenntnisnahme von Urteilen wird verfassungsrechtlich mit Umfang und Grenzen von Art. 30 Abs. 3 BV bestimmt. Somit ist die Einsicht in die Prozessakten von der Kenntnisnahme von Urteilen zu trennen. Es folgt daraus, dass die vorliegende Angelegenheit ausschliesslich unter dem Gesichtswinkel der genannten Verfassungsbestimmung zu beurteilen ist[13]. Das Gesagte gilt gemäss BGE 137 I 16 auch für Einstellungsverfügungen, wobei das Bundesgericht bereits in BGE 134 I 286 erwogen hatte, soweit in Nichteintretens- und Einstellungsverfügungen die Tatverantwortung des Beanzeigten verneint werde, seien auch diese zu den strafprozessualen Sachentscheiden zu zählen. In den übrigen Fällen stellten sie verfahrenserledigende Prozessentscheide dar[14].

2.2.2.

Sedes materiae ist, sei es, dass es um die Einsicht in ein Strafurteil geht, sei es, dass es – wie hier – um die Einsicht in eine Einstellungsverfügung geht, die Befugnis zur Einsicht in Entscheidungen rechtskräftig abgeschlossener Verfahren. Diese Frage ist in der StPO nicht geregelt. Auch der Rekurs auf Art. 29 Abs. 2 BV hilft nicht weiter, soweit diese Form der Akteneinsicht ein hängiges Verfahren voraussetzt. In abgeschlossene Verfahren Einsicht zu nehmen, bildet im Ausgangspunkt Gegenstand eidgenössischer und kantonaler Regelungen und ist in hohem Masse vom Verfassungsrecht vorgeprägt; das gilt insbesondere dort, wo solche Regelungen lückenhaft, nicht anwendbar oder gar bundesrechtswidrig sind. Soweit es um kantonale Strafverfahren geht, sind die kantonalen Gesetze über den Datenschutz und die Information samt Ausführungsbestimmungen, allenfalls auch über Archivierung, einschlägig. Insofern mag es als unbefriedigend erscheinen, dass die Einsicht in rechtskräftige Entscheidungen abgeschlossener Verfahren, die einheitlich nach Bundesrecht geführt wurden, nicht einheitlich geregelt ist. Doch ist dies die Situation auch bei anderen bundesweit geltenden Gesetzen, etwa dem Obligationenrecht oder dem Schuldbetreibungs- und Konkursrecht. Überdies ist der Umfang zulässiger Einsicht Dritter durch die bundesgerichtliche Praxis zumindest in den Grundzügen vorgezeichnet[15].

Zwar hält anders, als wenn es um die Einsicht in die Akten eines rechtskräftig erledigten Strafverfahrens geht, Art. 69 Abs. 2 StPO fest, dass bei ausbleibender öffentlicher Urteilsverkündung interessierte Personen in die Urteile und Strafbefehle Einsicht nehmen können, was – wie dargelegt – laut Bundesgericht ebenso für die Einsichtnahme des Publikums in Einstellungs- und Nichtanhandnahmeverfügungen gilt[16]. Nur, auch wenn sich die – inhaltliche – Frage, ob Einsicht in Einstellungsverfügungen zu gewähren ist, nebst oder vor dem Datenschutzrecht auch nach der Rechtsprechung zu Art. 30 Abs. 3 BV richtet, handelt es sich beim Verfahren betreffend Gesuche um Einsicht in abgeschlossene Strafverfahren, und sei es auch nur in den verfahrensabschliessenden Entscheid, um Akte der Justizverwaltung und somit um Fragen verwaltungsrechtlicher Natur. Entsprechende Verfügungen sind – wenn durch ein kantonal letztinstanzliches Gericht ergangen – mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (und nicht mit der Beschwerde in Strafsachen nach Art. 78 ff. BGG) an das Bundesgericht gemäss Art. 82 lit. a BGG anzufechten[17].

2.3.

Zusammenfassend handelt es sich nicht nur bei Gesuchen um Einsicht in die Akten abgeschlossener Strafverfahren, sondern auch bei solchen um Herausgabe von Gerichtsurteilen oder Einstellungsverfügungen um Akte der Justizverwaltung und um Fragen verwaltungsrechtlicher Natur[18]. Daraus ergibt sich, dass – entsprechend RBOG 2023 Nr. 52 – das Obergericht zur Beurteilung der von der Beschwerdeführerin gegen die Verfügung der Staatsanwaltschaft erhobenen Beschwerde nicht zuständig ist.

3.

Die Staatsanwaltschaft wies die Beschwerdeführer darauf hin, gegen die Verfügung könne innert zehn Tagen begründet Beschwerde beim Obergericht eingereicht werden. Diese Rechtsmittelbelehrung ist – wie dargelegt – unzutreffend.

3.1.

Art. 29 Abs. 1 BV verbietet überspitzten Formalismus als besondere Form der Rechtsverweigerung. Überspitzter Formalismus ist aber nur gegeben, wenn die strikte Anwendung der Formvorschriften durch keine schutzwürdigen Interessen gerechtfertigt ist, zum blossen Selbstzweck wird und die Verwirklichung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert oder verhindert. Einer Partei, die sich auf eine unzutreffende Rechtsmittelbelehrung verliess und verlassen konnte, darf daraus kein Nachteil erwachsen. Allerdings geniesst nur Vertrauensschutz, wer die Unrichtigkeit der Rechtsmittelbelehrung nicht kennt und sie auch bei gebührender Aufmerksamkeit nicht hätte erkennen können. Es besteht kein Anspruch auf Vertrauensschutz, wenn der Mangel für die Rechtssuchenden oder ihren Rechtsvertreter schon durch Konsultierung der massgebenden Verfahrensbestimmung ersichtlich ist. Dagegen wird nicht verlangt, dass neben den Gesetzestexten auch die einschlägige Rechtsprechung oder Literatur nachgeschlagen wird. Dies gilt nicht nur für das Verfahren vor Bundesgericht, sondern auch für das kantonale Verfahren. Wann der Prozesspartei, die sich auf eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung verlassen hat, eine als grob zu wertende Unsorgfalt vorzuwerfen ist, beurteilt sich nach den konkreten Umständen und nach ihren Rechtskenntnissen. Ist sie rechtsunkundig und auch nicht rechtskundig vertreten, darf sie nicht der anwaltlich vertretenen Partei gleichgestellt werden, es sei denn, sie verfüge namentlich aus früheren Verfahren über entsprechende Erfahrungen[19].

3.2.

Es entspricht einem allgemeinen prozessualen Grundsatz, dass eine Frist auch dann als gewahrt gilt, wenn die Eingabe spätestens am letzten Tag der Frist bei einer nicht zuständigen schweizerischen Behörde eingeht. Diese leitet die Eingabe nach Art. 91 Abs. 4 StPO unverzüglich an die zuständige Strafbehörde weiter. Die Beschwerdeführer reichten ihre Eingabe innert der von der Staatsanwaltschaft angegebenen Beschwerdefrist bei der in der Rechtsmittelbelehrung bezeichneten – aber unzuständigen – Behörde (dem Obergericht) ein. Grobe Unsorgfalt ist ihnen offensichtlich nicht vorzuwerfen; im Gegenteil zeigen die vorstehenden Erwägungen, dass die Rechtslage nicht klar und einfach ist. Nachdem die unrichtige Rechtsmittelbelehrung den Beschwerdeführern nicht zum Nachteil gereichen darf, wird die Beschwerde in sinngemässer Anwendung von Art. 91 Abs. 4 StPO nach Eintritt der Rechtskraft dieses Entscheids zuständigkeitshalber an das Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau weitergeleitet[20].

4.

Zusammengefasst ist auf die Beschwerde nicht einzutreten, und sie ist an das Departement für Justiz und Sicherheit weiterzuleiten. Mit Blick auf die unzutreffende Rechtsmittelbelehrung rechtfertigt sich in diesem Beschwerdeverfahren die Kostentragung durch den Staat. Die Parteikosten[21] dagegen bleiben bei der überwiesenen Sache, beziehungsweise darüber haben die Verwaltungsrechtsorgane im zuständigen Verfahren zu befinden.

Obergericht, 2. Abteilung, 5. September 2024, SW.2024.67


[1]    RBOG 2023 Nr. 52 E. 3.4.2 mit Verweisen

[2]    Gesetz über den Datenschutz, RB 170.7

[3]    § 1 und § 2 Abs. 2 Ziff. 1 TG DSG

[4]    § 2 Abs. 1 TG DSG

[5]    Informationsverordnung, RB 271.31

[6]    Gesetz über die Zivil- und Strafrechtspflege, RB 271.1

[7]    RBOG 2023 Nr. 52 E. 3.4.3

[8]    § 3 Abs. 2 Ziff. 5 TG DSG

[9]    § 24 TG DSG

[10]  Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege, RB 170.1

[11]  RBOG 2023 Nr. 52 E. 3.4.4

[12]  RBOG 2023 Nr. 52 E. 3.4.5

[13]  BGE 139 I 129 E. 3.5

[14]  BGE 134 I 286 E. 6.2 und 6.4

[15]  Bommer, Einstellungsverfügung und Öffentlichkeit, in: forumpoenale 2011 S. 245 ff., insbesondere S. 247 f.

[16]  Brüschweiler/Nadig/Schneebeli, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Lieber/Summers/Wohlers), 3.A., Art. 69 N. 6; Hans/Wiprächtiger/Schmutz, Basler Kommentar, 3.A., Art. 103 StPO N. 2

[17]  Hans/Wiprächtiger/Schmutz, Art. 103 StPO N. 2. Gemäss Art. 82 Abs. 1 lit. a BGG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden gegen Entscheide in Angelegenheiten des öffentlichen Rechts. Eine Ausnahme im Sinn von Art. 83 BGG ist nicht gegeben.

[18]  Brüschweiler/Grünig, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Lieber/Summers/Wohlers), 3.A., Art. 101 N. 1b

[19]  RBOG 2023 Nr. 52 E. 4.1 mit Hinweisen

[20] Vgl. RBOG 2023 Nr. 52 E. 4.2

[21]  Vgl. dazu § 80 VRG


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