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RBOG 2024 Nr. 33

Anforderungen an den Tatverdacht für die polizeiliche Anordnung einer verdeckten Fahndung im Bereich der Kommunikation in Chat-Räumen zur Verhinderung von sexuellen Handlungen mit Kindern; Dokumentations- und Protokollierungspflicht der Polizei betreffend Herkunft des Anfangsverdachts

Art. 298b Abs. 1 lit. a StPO Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO Art. 100 StPO


Zusammenfassung des Sachverhalts:

Die Kantonspolizei ordnete für die Dauer von einem Monat gegen Unbekannt beziehungsweise den Nutzer "X." auf einer Chatplattform wegen des Verdachts der strafbaren Handlungen gegen die sexuelle Integrität und sexuelle Handlungen mit Kindern eine verdeckte Fahndung an. In der Folge chattete und mailte der Nutzer "X." (nachfolgend Beschwerdeführer) mit dem verdeckten Fahnder in der Meinung, bei diesem handle es sich um ein 13-jähriges Mädchen. Daraufhin eröffnete die Staatsanwaltschaft gegen den Beschwerdeführer eine Strafuntersuchung wegen Pornografie und sexueller Handlungen mit Kindern. Sodann verfügte sie die Anordnung einer verdeckten Fahndung für einstweilen drei Monate und die Observation des Beschwerdeführers, um ihn auf dem Weg zu einem allfälligen Treffen mit dem vermeintlichen Mädchen beobachten und einen allfälligen Zugriff unterstützen zu können.

Aus den Erwägungen:

[…]

2.

2.1.

Die Beschwerde ist gemäss Art. 393 Abs. 1 lit. a StPO zulässig gegen die Verfügungen und die Verfahrenshandlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft.

2.2.

Beschwerdeobjekte sind drei Verfügungen: die polizeiliche Anordnung einer verdeckten Fahndung, die staatsanwaltliche Anordnung einer verdeckten Fahndung und die staatsanwaltliche Anordnung einer Observation.

2.3.

Zentral ist vorliegend die Frage, ob für die polizeiliche Anordnung einer verdeckten Fahndung ein hinreichender Tatverdacht im Sinn von Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO vorlag, zumal es sich dabei um eine Zwangsmassnahme einer Strafbehörde handelt, die in die Grundrechte des Beschwerdeführers eingriff[1] und dazu diente, Beweise zu sichern[2]. Formell ist die Anordnung rechtmässig, zumal sie auf die Dauer von einem Monat[3] beschränkt war[4].

War die polizeiliche Anordnung einer verdeckten Fahndung rechtmässig, gilt dies ohne Weiteres auch für die staatsanwaltlichen Anordnungen einer verdeckten Fahndung und einer Observation. In Bezug auf Letztere ganz offensichtlich auch deshalb, weil diese dazu diente, den Beschwerdeführer auf dem Weg zum Treffen mit Kindern zwecks Vornahme sexueller Handlungen an allgemein zugänglichen Orten verdeckt beobachten zu können, zumal aufgrund konkreter Anhaltspunkte anzunehmen war, dass Verbrechen oder Vergehen begangen worden sind oder noch begangen würden, und die Ermittlungen andernfalls zumindest unverhältnismässig erschwert würden[5]. In diesem Fall kann auch die Frage, ob überhaupt auf die entsprechende Beschwerde einzutreten wäre, grundsätzlich offengelassen werden.

Waren die polizeiliche Anordnung einer verdeckten Fahndung und infolgedessen auch die staatsanwaltlichen Anordnungen einer verdeckten Fahndung und einer Observation rechtmässig, entfällt die Prüfung ausnahmsweiser Verwertbarkeit nach Art. 141 Abs. 2 StPO. Andernfalls ist später darauf einzugehen.

Nicht weiter einzugehen ist auf die Vorbringen des Beschwerdeführers zur präventiven verdeckten Fahndung (Vorermittlung) nach dem (a)PolG, da die Staatsanwaltschaft dafür zu Recht keinen Anwendungsbereich sieht und geltend macht, die verdeckte Fahndung sei allein strafprozessual motiviert gewesen.

3.

3.1.

Eine genehmigungspflichtige verdeckte Ermittlung im Sinn von Art. 285a StPO liegt vor, wenn Angehörige der Polizei oder Personen, die vorübergehend für polizeiliche Aufgaben angestellt sind, unter Verwendung einer durch Urkunden abgesicherten falschen Identität (Legende) durch täuschendes Verhalten zu Personen Kontakte knüpfen mit dem Ziel, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und in ein kriminelles Umfeld einzudringen, um besonders schwere Straftaten aufzuklären. Um eine nicht genehmigungsbedürftige[6] verdeckte Fahndung gemäss Art. 298a StPO handelt es sich hingegen, wenn Polizeiangehörige im Rahmen kurzer Einsätze ohne Erkennbarkeit ihrer wahren Identität und Funktion Verbrechen und Vergehen aufzuklären versuchen und dabei insbesondere Scheingeschäfte abschliessen oder den Willen zum Abschluss vortäuschen (Abs. 1). Verdeckte Fahnderinnen oder Fahnder werden nicht mit einer Legende ausgestattet (Abs. 2 Satz 1)[7]; sie bedienen sich jedoch einfacher Lügen, indem sie etwa über ihr Geschlecht, ihr Alter und ihren Wohnort unwahre Angaben machen oder in Chat-Räumen beispielsweise ein Pseudonym verwenden[8]. Die Voraussetzungen für diese verdeckte Fahndung finden sich in Art. 298b StPO.

3.2.

3.2.1.

Das entscheidende Abgrenzungskriterium für die Anwendbarkeit der StPO gegenüber der hier von der Staatsanwaltschaft ausgeschlossenen präventiven Vorermittlung nach kantonalem Polizeirecht ist der strafprozessuale Anfangsverdacht. Die Bestimmungen der StPO über die verdeckte (Ermittlung und) Fahndung finden nur Anwendung, wenn ein Tatverdacht vorliegt[9]. Verdeckte (Ermittlung und) Fahndung sind lediglich zur Abklärung bereits begangener oder in Ausführung begriffener Straftaten zulässig. Erfolgen Ermittlungshandlungen vor Vorliegen eines Tatverdachts im Rahmen einer Kontaktnahme oder Vorermittlung zur Verhütung künftiger Straftaten, handelt es sich nicht um Massnahmen des Strafprozessrechts, sondern um eine klassische präventive polizeiliche Tätigkeit. Die Kompetenz zu ihrer Regelung liegt bei den Kantonen[10]. In BGE 143 IV 27 ging es – anders als hier – um einen Fall präventiver Vorermittlung nach dem PolG ZH[11]. Gleichwohl interessant ist der folgende Passus: "Die Nennung der E-Mail-Adresse durch den Beschwerdegegner war zwar geeignet, dessen Identifikation zu ermöglichen, sie begründete jedoch (noch) keinen Anfangsverdacht. Der Polizeieinsatz im Chat richtete sich folglich entgegen der Ansicht des Beschwerdegegners noch nicht nach der StPO. Um 14.46 Uhr sandte der Beschwerdegegner "Sabrina" ein Bild seines nackten Penis per E-Mail, im vermeintlichen Wissen darum, dass das Mädchen (erst) 14 Jahre alt war. Die Vorinstanz nimmt an, dass dieser Bildversand durch den Beschwerdegegner einen (Anfangs-)Verdacht auf die Begehung eines Verbrechens oder Vergehens begründete, nämlich den Verdacht auf versuchte Pornographie gemäss aArt. 197 Ziff. 1 StGB. Sie geht deshalb davon aus, dass der zunächst präventiv-polizeiliche Internet-Einsatz nach § 32d PolG/ZH zu diesem Zeitpunkt in eine strafprozessuale Fahndung nach Art. 298a ff. StPO überging. Diese Annahme ist – auch nach der Ansicht der Beschwerdeführerin[12] – nicht zu beanstanden"[13].

3.2.2.

Gemäss dem Urteil des Bundesgerichts 1B_404/2021 vom 19. Oktober 2021 E. 3.2[14] regelt die StPO die verdeckte Fahndung, wenn ein vager Verdacht besteht, dass eine Straftat begangen wurde. Art. 298b Abs. 1 lit. a StPO setze jedoch nicht voraus, dass die Straftat bereits abgeschlossen sei, da verdeckte Ermittlungen auch dann begründet werden könnten, wenn nur ein Verdacht bestehe, dass die Straftat noch nicht abgeschlossen sei.

Das Kantonsgericht Freiburg führte in seinem Urteil 502 2023 77 vom 17. Mai 2023 in E. 3.2.1.4 aus, das Kriterium, anhand dessen bestimmt werde, ob die von der Polizei durchgeführten Handlungen unter das kantonale oder das Bundesrecht fallen würden, sei das Vorliegen eines Verdachts, der auf eine begangene Straftat hindeute. Die von der Polizei durchgeführten Handlungen könnten nur dann als verdeckte Überwachungsmassnahmen im Sinn der StPO eingestuft werden, wenn sie der Aufklärung einer bereits begangenen Straftat dienten. Die StPO regle die verdeckte Fahndung, wenn ein vager Verdacht bestehe, dass eine Straftat begangen worden sei. Art. 298b Abs. 1 lit. a StPO setze jedoch nicht voraus, dass die Straftat bereits abgeschlossen sei, da eine verdeckte Ermittlung auch dann begründet sein könne, wenn nur ein Verdacht bestehe, dass die Straftat noch nicht abgeschlossen sei.

3.2.3.

Gemäss Literatur und Lehre ist ein Tatverdacht erforderlich, der sich auf ein begangenes oder in der Ausführung begriffenes Verbrechen oder Vergehen, nicht aber auf eine Übertretung bezieht. Ein gewöhnlicher, aber hinreichender Tatverdacht ist erforderlich, der gegen eine bekannte oder unbekannte Täterschaft gerichtet ist. Nach der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats und den Äusserungen im Parlament genügt ein "vager Tatverdacht". Nicht zulässig ist eine präventive Zielsetzung[15].

Die Formulierung, ein Verbrechen oder Vergehen sei begangen worden, legt nahe, dass die verdeckte Fahndung nur zur Aufklärung begangener Delinquenz zur Verfügung steht. Weitaus häufiger sind allerdings Einsätze zur Aufklärung laufender Delinquenz, vor allem bei Seriendelikten. Die verdeckte Fahndung wird bei dieser Situation aufgrund des konkreten Verdachts, dass eine Zielperson strafbare Handlungen begangen habe, angeordnet; sie dient aber nicht dem Beweis bereits abgewickelter Geschäfte, sondern hat zum Ziel, mit der beschuldigten Person ein weiteres Geschäft abzuwickeln und sie dabei festzunehmen. Rein präventive Einsätze verdeckter Fahnder sind unter dem Geltungsbereich der StPO nicht zulässig[16]. Die Auffassung, dass bei Kommunikation in Chaträumen zur Verhinderung von sexuellen Handlungen mit Kindern zu Beginn in der Regel noch kein Tatverdacht vorliege, ist zu eng. Die verdeckte Fahndung kann auch im polizeilichen Ermittlungsverfahren verfügt werden, zu dessen Eröffnung ein bloss vager Tatverdacht genügt und insbesondere noch nicht bekannt sein muss, gegen wen sich dieser Tatverdacht richtet. Die gewonnenen Erkenntnisse begründen bereits den vagen Verdacht, es würden Straftaten begangen, sodass ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt nach StPO eröffnet und ein verdeckter Fahnder gestützt auf Art. 298a StPO eingesetzt werden kann[17].

Knodel führt diesbezüglich wörtlich aus: "Die Straftat, zu deren Aufklärung eine verdeckte Fahndung angeordnet wird, muss bereits begangen worden sein, was nicht bedeutet, dass das Delikt beendet sein muss. Eine verdeckte Fahndung ist beim Verdacht, eine strafbare Handlung sei im Gange, zulässig. Die präventive verdeckte Fahndung zum Zweck der Verhinderung oder Erkennung zukünftiger möglicher Delikte fällt nicht unter den Anwendungsbereich der StPO. In zahlreichen Fällen, zum Beispiel bei der Kommunikation in Chat-Räumen zur Verhinderung von sexuellen Handlungen mit Kindern (…) besteht zu Beginn der verdeckten Ermittlungshandlung in der Regel kein Tatverdacht"[18]. Und weiter: "Die Anordnung einer verdeckten Fahndung setzt einen Tatverdacht voraus, der hinreichend sein muss, was sich aus Art. 197 Abs. 1 lit. b ergibt. Die verdeckte Fahndung wird in der Regel in einem frühen Stadium des Verfahrens eingesetzt und dient dazu, einen bereits bestehenden Tatverdacht zu konkretisieren. Insofern darf der Tatverdacht auch ein bloss vager sein. Der Verdacht muss aber so hinreichend sein, dass sich eine verdeckte Fahndung rechtfertigt. Ob er sich als Folge der verdeckten Fahndung oder aufgrund anderer Ermittlungsmassnahmen derart konkretisiert, dass gegen die Zielperson ein Verfahren eröffnet werden muss, ist in einem zweiten Schritt zu prüfen"[19].

3.2.4.

Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass ein vager Anfangsverdacht auf eine oder mehrere begangene oder in Ausführung begriffene Straftaten notwendig, aber auch hinreichend ist. Ziel der verdeckten Fahndung ist sodann, mit der bekannten oder unbekannten Täterschaft ein weiteres illegales Geschäft respektive eine illegale (sexuelle) Handlung abzuwickeln und sie dabei (davor) festzunehmen. Daran ändert auch der soeben publizierte BGE 150 IV 239 nichts. Vielmehr stellt dieser klar, dass bei nichtfreiheitsentziehenden strafprozessualen Zwangsmassnahmen nicht die gleich hohe Intensität eines Tatverdachts erforderlich ist wie bei Untersuchungs- und Sicherheitshaft. Für die Annahme eines hinreichenden Tatverdachts ist nur, aber immerhin das Vorliegen erheblicher und konkreter Hinweise auf eine strafbare Handlung verlangt. Zudem spricht sich das Bundesgericht darin nicht zum Verdacht als Voraussetzung der verdeckten Fahndung aus.

4.

4.1.

Nach Art. 100 StPO ist für jede Strafsache ein Aktendossier anzulegen. Dieses enthält a. die Verfahrens- und die Einvernahmeprotokolle; b. die von der Strafbehörde zusammengetragenen Akten; c. die von den Parteien eingereichten Akten. Die Verfahrensleitung sorgt für die systematische Ablage der Akten und für deren fortlaufende Erfassung in einem Verzeichnis; in einfachen Fällen kann sie von einem Verzeichnis absehen.

Das Aktendossier muss alles enthalten, was mit dem Schuldvorwurf und der Strafzumessung in einen Zusammenhang gebracht werden kann und für das Verständnis des Verfahrensgangs erforderlich ist[20]. Damit überprüfbar ist, ob die in die Akten aufgenommenen Beweismittel inhaltliche oder formelle Mängel aufweisen und gegebenenfalls Einwände gegen deren Verwertbarkeit erhoben werden können, muss aktenmässig belegt sein, wie die Beweismittel produziert wurden[21]. Die Vollständigkeit der Akten ist Voraussetzung dafür, dass die beschuldigte Person ihre Verteidigungsrechte wahrnehmen kann[22]. Im Zweifelsfall hat eine Aufnahme in die Akten zu erfolgen[23], und Geheimakten darf es nicht geben[24]. Allerdings greift das Bundesgericht nicht in die Aktenführung ein, soweit trotz suboptimaler Aktenführung das rechtliche Gehör, die Verteidigungsrechte und Verfahrensfairness gewährleistet erscheinen[25].

Die Dokumentations- und Protokollierungspflicht der Polizei setzt mit der Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens ein. Polizeiliche Massnahmen, die vorher getroffen werden, unterstehen als Vorermittlungen oder als sicherheitspolizeiliche Vorkehren dem jeweiligen Polizeirecht und fallen nur dann unter die Dokumentations- und Protokollierungspflicht gemäss der StPO, wenn sie zur Eröffnung eines polizeilichen Ermittlungsverfahrens führen[26]. Die Dokumentationspflicht gilt auf allen Verfahrensstufen, auch bereits im polizeilichen Ermittlungsverfahren. Polizeiliche Vorermittlungen fallen dann unter die strafprozessuale Dokumentationspflicht, wenn sie zur Eröffnung eines polizeilichen Ermittlungsverfahrens führen. Die Polizei kommt ihrer Dokumentationspflicht mit schriftlichen Berichten oder Rapporten nach, in denen sie laufend ihre Feststellungen und die von ihr getroffenen Massnahmen festhält. Dabei ist die Polizei indessen nicht gehalten, alle Details ihrer Ermittlungstätigkeiten offenzulegen oder ihre Arbeitsgrundlagen und taktischen Grundlagen zu offenbaren (Einsatzdispositive, Sicherheits- und Überwachungskonzepte und so weiter). Auch polizeiliche Handnotizen und das Polizeijournal sind als reines Arbeitsinstrument nicht Bestandteil der Strafuntersuchungsakten. Ein Beizug nach Art. 194 Abs. 1 StPO wäre indes dann zu erwägen, wenn es darum geht, Widersprüche oder Unklarheiten in Berichten oder Rapporten wie auch bei den Aussagen von Tatbeteiligten zu bereinigen oder aber um Zeugenaussagen von Polizistinnen und Polizisten zu überprüfen beziehungsweise zu bekräftigen. Im Bedarfsfall sind diese bei der Polizei einzuverlangen und zu den Akten zu nehmen. Erst dann sind sie Bestandteil der Strafakten im Sinn von Art. 100 StPO[27].

Die polizeiliche Vorfeldarbeit hat zum Ziel, Straftaten überhaupt erst zu erkennen, insbesondere durch das Zusammentragen und Auswerten von Hinweisen und Informationen. Dieser Bereich entzieht sich strafprozessualer Regelung und Kontrolle. Hauptkriterium für den Beginn der Dokumentations- und Protokollierungspflicht ist, ob ein ausreichender Verdacht auf eine bereits begangene, allenfalls auch nur vermutlich begangene, oder versuchte Straftat durch bekannte oder unbekannte Täterschaft besteht[28].

4.2.

Auch der besondere Status der Polizei dispensiert diese nicht davon, wenn auch nur kurz, die Herkunft ihres Verdachts (Anzeigeerstatter, Urkunde, eigene Beobachtungen) darzulegen. Die Staatsanwaltschaft muss angesichts des frühen Stadiums der Ermittlungen, bei Fehlen von Hinweisen auf einen Verstoss gegen Art. 140 Abs. 1 StPO oder Art. 282 Abs. 2 StPO, davon ausgehen können, dass die in den Berichten der Polizei über die Anzeige einer Straftat enthaltenen Elemente in einer Weise gesammelt wurden, die den Pflichten der Polizei entspricht. Daraus folgt aber auch, dass die Feststellungen der Polizei in ihren Berichten auch ohne weitere Unterlagen grundsätzlich ausreichen, um die Eröffnung einer Untersuchung zu rechtfertigen. Um zu bestimmen, ob gewisse Indizien eine verdeckte Überwachung erlauben oder ob sie vorher belegt werden sollten, darf das Verfahrensstadium zu dem Zeitpunkt, an dem eine solche Massnahme beantragt wird, nicht ignoriert werden[29].

Allerdings müssen Aussagen, auf die sich der Tatverdacht stützt, auf ihre Glaubwürdigkeit hin überprüft werden können. Blosse Behauptungen ohne Angabe der Quelle oder ohne besonderen Zeugnischarakter, Spekulationen, Gerüchte oder allgemeine Mutmassungen genügen grundsätzlich nicht. Wird der Tatverdacht aus einem Polizeibericht abgeleitet, muss berücksichtigt werden, dass darin möglicherweise die Herkunft von Informationen, etwa zum Schutz der Identität von Informanten, nicht preisgegeben werden kann. Solche Informationen können zur Begründung des Tatverdachts dennoch verwendet werden, wenn sie angesichts der die Untersuchung begleitenden Umstände objektiv plausibel erscheinen. Auf Dauer und insbesondere für die Verlängerung von laufenden Überwachungsmassnahmen reichen solche anonymen, vertraulichen Quellen als Grundlage für den Tatverdacht hingegen nicht aus[30].

5.

5.1.

Der von einer Drittperson bei der Kantonspolizei eingegangene Hinweis wurde nicht protokolliert. Dadurch wurde die Dokumentations- und Protokollierungspflicht an sich verletzt, zumal die Angaben der Drittperson zur Eröffnung eines polizeilichen Ermittlungsverfahrens führten. Wenn schon der Hinweisgeber nicht protokollarisch einvernommen wurde, hätte zudem wenigstens unmittelbar nach Eingang des Hinweises ein schriftlicher polizeilicher Bericht über dessen Angaben erstellt werden müssen.

Jedoch wurde in der polizeilichen Anordnung der Sachverhalt festgehalten, und somit insbesondere auch dokumentiert, dass aufgrund einer Information bekannt geworden sei, dass der Benutzer "X." auf einer Chat-Plattform den Kontakt zu Minderjährigen suche. Im Weiteren wurde die versäumte unmittelbare Protokollierung durch die spätere Stellungnahme oder Aktennotiz der Kantonspolizei in gewissem, hier relevanten Umfang geheilt. Dies, wenn einerseits beachtet wird, dass die Drittperson, die die Polizei auf eine mögliche Straftat hinwies (den Tatverdacht äusserte), anonym bleiben wollte und dementsprechend wohl auch nicht zu einer protokollarischen Befragung bereit war. Auch bei einer unmittelbar nach Eingang des Hinweises erstellten Aktennotiz wäre daher die Person des Hinweisgebers namentlich nicht bekannt und es wäre somit nicht abschliessend verifizierbar, ob es sich dabei um eine aussenstehende Drittperson oder um eine Polizistin oder einen Polizisten gehandelt hat. Der Beschwerdeführer wurde durch die fehlende Protokollierung daher insofern, als es um die Feststellung geht, ob im frühen Stadium der Ermittlungen ein vager Anfangsverdacht bestand, nicht von einer wirksamen Verteidigung abgehalten oder in seinen Verteidigungsrechten eingeschränkt. Im vorliegenden Verfahren geht es um die Frage, ob ein Tatverdacht im Sinn von Art. 298b Abs. 1 StPO bestand. Nicht zu beantworten ist hingegen, ob die Anonymität der Person des Hinweisgebers im weiteren Strafverfahren aufrechterhalten werden kann, oder ob, wie vom Beschwerdeführer gefordert, der Hinweisgeber als Zeuge oder Auskunftsperson einzuvernehmen sein wird. Mit der vorstehend referierten Rechtsprechung ist es zumindest fraglich, ob die anonymen, vertraulichen Quellen als Grundlage für den fortbestehenden Tatverdacht und schliesslich einer Verurteilung genügen. Das braucht hier aber nicht entschieden zu werden.

[…]

5.3.

Aufgrund des vorliegenden Sachverhalts sowie der vorerwähnten Rechtslage und Rechtsdogmatik begründete der anonyme Hinweis auf eine konkrete Straftat (sexuelle Handlungen mit Kindern unter Hinweis auf die Chat-Plattform, den Usernamen und einen Wohnort im Kanton Thurgau) gegen den Beschwerdeführer als im Kanton Thurgau wohnhaften Nutzer der fraglichen Chatplattform den Anfangsverdacht, dass er auf besagter Chatplattform offensiv den Kontakt zu Minderjährigen sucht, um allenfalls ein persönliches Treffen zu terminieren, anlässlich dessen es zu sexuellen Handlungen mit eben diesen Minderjährigen kommt. Allfällige sexuelle Handlungen mit Kindern gemäss Art. 187 StGB hatte er dabei im Sinn eines vagen Anfangsverdachts bereits begangen oder war zumindest im Begriff, sie zu begehen, was, wie vorstehend ausgeführt wurde, genügt. Zu berücksichtigen ist auch die Art der angezeigten Straftat[31], nämlich die massive Verletzung der sexuellen Integrität von Kindern und Jugendlichen.

6.

6.1.

Damit bestand ein für die polizeiliche Anordnung einer verdeckten Fahndung hinreichender Tatverdacht gegen den Beschwerdeführer und es handelt sich nicht um eine unzulässige Beweisausforschung ("fishing expedition"). Dementsprechend rechtmässig waren auch die Anordnungen einer verdeckten Fahndung und einer Observation durch die Staatsanwaltschaft.

Zusammenfassend ist die Beschwerde somit abzuweisen.

[…]

Obergericht, 2. Abteilung, 5. Dezember 2024, SW.2024.100


[1]    Etwa das Recht auf persönliche Freiheit gemäss Art. 10 BV und insbesondere wohl den Schutz der Privatsphäre gemäss Art. 13 BV

[2]   Art. 196 lit. a StPO

[3]   Art. 198 Abs. 1 lit. c i.V.m. Art. 298b Abs. 2 StPO

[4]   Die verdeckte Fahndung wird von der Polizei angeordnet und bedarf nur dann der Genehmigung der Staatsanwaltschaft, wenn sie länger als einen Monat dauert (BGE 148 IV 82 E. 5.1.1).

[5]   Art. 282 StPO

[6]   Vgl. Art. 298b Abs. 2 StPO

[7]   BGE 143 IV 27 E. 2.3

[8]   BGE 143 IV 27 E. 2.4

[9]   Art. 298b Abs. 1 lit. a StPO; vgl. auch Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO

[10]  BGE 143 IV 27 E. 2.5

[11]  BGE 143 IV 27 E. 3.1

[12]  Dabei handelt es sich um die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich.

[13]  BGE 143 IV 27 E. 3.2

[14]  Mit Hinweisen

[15]  Jositsch/Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 4.A., Art. 298b N. 3

[16]  Hansjakob/Pajarola, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Lieber/Summers/Wohlers), 3.A., Art. 298b N. 3

[17]  Hansjakob/Pajarola, Art. 298b StPO N. 4

[18]  Knodel, Basler Kommentar, 3.A., Art. 298b StPO N. 6

[19]  Knodel, Art. 298b StPO N. 7

[20]  Brüschweiler/Grünig, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Lieber/Summers/Wohlers), 3.A., Art. 100 N. 1; Hans/Wiprächtiger/Schmutz, Basler Kommentar, 3.A., Art. 100 StPO N. 14

[21]  Hans/Wiprächtiger/Schmutz, Art. 100 StPO N. 10

[22]  Urteil des Bundesgerichts 7B_253/2022 vom 8. Februar 2024 E. 2.2.2 mit Verweis auf die Rechtsprechung

[23]  Hans/Wiprächtiger/Schmutz, Art. 100 StPO N. 14

[24]  Hans/Wiprächtiger/Schmutz, Art. 100 StPO N. 10

[25]  Urteil des Bundesgerichts 6B_1095/2019 vom 30. Oktober 2019 E. 3.3.2

[26]  Hans/Wiprächtiger/Schmutz, Art. 100 StPO N. 15

[27]  Brüschweiler/Grünig, Art. 100 StPO N. 1b; Hans/Wiprächtiger/Schmutz, Art. 100 StPO N. 15 ff.

[28]  Hans/Wiprächtiger/Schmutz, Art. 100 StPO N. 16

[29]  BGE 142 IV 289 E. 3.1

[30]  Urteil des Bundesgerichts 1B_49/2022 vom 29. August 2022 E. 3.1

[31]  BGE 142 IV 289 E. 3.2


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