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TVR 2013 Nr. 3

Familiennachzug für Kind über 12 Jahre


Art. 47 AuG, Art. 8 EMRK, Art. 73 VZAE


Kein Familiennachzug der 15-jährigen Tochter, die fast das ganze Leben vom gesuchstellenden Vater getrennt gelebt hat, auch wenn der Mutter und der jüngeren Schwester der Aufenthalt zu bewilligen ist.


V, aus dem Kosovo stammend, geboren am 4. September 1967, reiste im Juni 1989 in die Schweiz ein. Am 1. Oktober 1991 heiratete er seine Landsfrau F, die am 17. Januar 1993 im Rahmen des Familiennachzugs ebenfalls in die Schweiz einreisen konnte. Am 14. November 1993 kam die gemeinsame Tochter T zur Welt. Im März 1994 reiste F zusammen mit der Tochter wieder zurück in den Kosovo, um die kranken Eltern von V zu pflegen. Im Mai 1996 kam die Tochter R zur Welt. Im September 1998 ersuchte dann V um Familiennachzug für seine Ehefrau samt den beiden Töchtern. Mangels bedarfsgerechter Wohnung und genügender finanzieller Verhältnisse wurde das Gesuch jedoch abgewiesen. Im Mai 2001 wurde die Tochter L geboren.

Im September 2011 stellte V ein Gesuch um Familiennachzug für seine Ehefrau und die drei Töchter. Das Migrationsamt teilte ihm mit, die beiden ältesten Töchter seien bereits 15 bzw. 17 Jahre alt, weshalb die Fristen für einen Familiennachzug verpasst seien. Das Migrationsamt lehnte das Gesuch ab, wogegen V beim DJS Rekurs erhob. Dieser wurde teilweise gutgeheissen und das Migrationsamt wurde angewiesen, der Ehefrau die Aufenthaltsbewilligung und der jüngsten Tochter die Niederlassungsbewilligung zu erteilen, nicht jedoch für die zweitälteste Tochter R. Gegen diesen Entscheid liess V Beschwerde erheben. Das Verwaltungsgericht weist ab.

Aus den Erwägungen:

2.
2.1 Unbestritten ist, dass die Ehefrau des Beschwerdeführers sowie seine jüngste Tochter Anspruch auf Familiennachzug haben. Unbestritten ist ebenso, dass für R die Frist für das Familiennachzugsgesuch im Sinne von Art. 47 Abs. 1 AuG verpasst wurde. Zu prüfen ist demnach, ob der Familiennachzug für R unter dem Gesichtspunkt von Art. 47 Abs. 4 AuG zu bewilligen ist. Diese Bestimmung lautet wie folgt:
„Ein nachträglicher Familiennachzug wird nur bewilligt, wenn wichtige familiäre Gründe geltend gemacht werden. Kinder über 14 Jahre werden zum Familiennachzug angehört, sofern dies erforderlich ist.“
Art. 75 VZAE umschreibt die Voraussetzungen von Art. 47 Abs. 4 AuG etwas näher mit folgender Regelung:
„Wichtige familiäre Gründe nach Art. 47 Abs. 4 AuG und Art. 73 Abs. 3 und Art. 74 Abs. 4 liegen vor, wenn das Kindeswohl nur durch einen Nachzug in die Schweiz gewahrt werden kann.“
Das AuG und mit ihm Art. 47 ist auf den 1. Januar 2008 in Kraft getreten. Art. 47 AuG ist aus Art 46 des Entwurfs hervorgegangen. Der 2. Satz von Abs. 1, gemäss welchem die Frist für den Nachzug von älter als zwölfjährigen Kindern zwölf Monate beträgt, wurde von den Eidgenössischen Räten eingefügt. Gleiches gilt für den 2. Satz von Abs. 4, wonach Kinder über 14 Jahre, sofern erforderlich, anzuhören sind. Der Gesetzgeber wollte mit der Einführung dieser Fristen erreichen, dass Kinder möglichst früh nachgezogen werden, um ihre Integration in der Schweiz zu erleichtern. Durch eine genügend lange Schulzeit hierorts erwerben sie denn auch die für die Integration unerlässlichen Sprachkenntnisse. Die fraglichen Fristen sollen im Übrigen verhindern, dass Familiennachzugsgesuche für kurz vor dem Erwerbsalter stehende Kinder und insofern rechtsmissbräuchlich gestellt werden (BBl 2002 3754 Ziff. 1.3.7.7; BGE 136 II 78 E. 4.3 = Pra 2010 Nr. 70).
Das Bundesamt für Migration hat im Bericht zur VZAE (http://www.admin.ch/ch/d/gg/pc/documents/1394/Bericht_VZAE.pdf) mit Bezug auf Art. 75 VZAE Folgendes ausgeführt:
„Werden die vorgesehenen Fristen für den Familiennachzug nicht eingehalten, ist im Interesse einer möglichst frühen Integration ein Nachzug nur noch möglich, wenn wichtige familiäre Gründe dafür bestehen. Dieser allgemeine Grundsatz wird hier konkretisiert. Bei dieser Ausnahmeregelung muss das Kindeswohl ausschlaggebend sein; ist es im Herkunftsland ernsthaft gefährdet, soll ein verspäteter Nachzug möglich bleiben. Diese Ausgangslage entspricht auch der heutigen Praxis des EGMR zu Art. 8 EMRK. Persönliche Motive etwa der Eltern sind nicht massgebend, etwa wenn das fast volljährige Kind nun in der Schweiz einen Verdienst nachgehen oder die kleineren Geschwister beaufsichtigen und den Haushalt führen soll.
Der wichtige Grundsatz, wonach im Interesse einer besseren Integration der Familiennachzug innerhalb einer bestimmten Frist erfolgen muss, erfordert eine zurückhaltende Ausnahmeregelung.“
Das Bundesgericht hat sodann zu Art. 75 VZAE in BGE 137 I 284 E. 2.3.1, in fine, festgehalten, was folgt:
„Ausserhalb der Nachzugsfristen des Art. 47 Abs. 1 AuG ist der Familiennachzug bloss noch möglich, wenn hierfür wichtige familiäre Gründe sprechen (Art. 47 Abs. 4 AuG). Solche liegen etwa dann vor, wenn das Kindswohl letztlich nur durch einen Nachzug in die Schweiz sachgerecht gewahrt werden kann. Insoweit kann die frühere Praxis zum Nachzug bei getrennten Eltern noch zum Tragen kommen, wobei diese dann neuerdings grundsätzlich auch für zusammenlebende Eltern gilt.“

2.2 Die EMRK garantiert grundsätzlich keinen Anspruch auf Aufenthalt in einem Konventionsstaat. Es ergibt sich daraus weder ein Recht auf Einreise noch auf Wahl des für das Familienleben am geeignetsten erscheinenden Orts. Das in Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Familienlebens kann nur angerufen werden, wenn eine staatliche Entfernungs- oder Fernhaltemassnahme zur Trennung von Familienmitgliedern führt. Selbst dann gilt der Anspruch jedoch nicht absolut. Vielmehr ist nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK ein Eingriff in das durch Ziff. 1 geschützte Rechtsgut statthaft, soweit er eine Massnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesellschaft und Moral sowie der Rechte und Pflichten anderer notwendig erscheint. Die Konvention verlangt eine Abwägung der sich gegenüberstehenden individuellen Interessen an der Erteilung der Bewilligung einerseits und der öffentlichen Interessen an deren Verwendung andererseits; diese müssen jene in dem Sinne überwiegen, dass sich der Eingriff in das Privat- und Familienleben als notwendig erweist.
Als zulässiges öffentliches Interesse fällt dabei grundsätzlich auch das Durchsetzen einer restriktiven Einwanderungspolitik in Betracht. Eine solche ist im Hinblick auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen schweizerischer und ausländischer Wohnbevölkerung, auf die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für die Eingliederung der in der Schweiz bereits ansässigen Ausländer und die Verbesserung der Arbeitsmarktstruktur sowie auf eine möglichst ausgeglichene Beschäftigung im Lichte von Art. 8 Ziff. 2 EMRK zulässig. Muss ein Ausländer, dem eine ausländerrechtliche Bewilligung verweigert worden ist, das Land verlassen, haben dies seine Angehörigen grundsätzlich hinzunehmen, wenn es ihnen „ohne Schwierigkeiten“ möglich ist, mit ihm auszureisen; eine Interessenabwägung nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK erübrigt sich in diesem Fall (BGE 137 I 247 E. 4.1.1 und 4.1.2).

2.3 Der Beschwerdeführer und seine Ehefrau haben bereits einmal, nämlich von 1993 bis 1994, zusammen in der Schweiz gelebt. Es wäre also ohne weiteres möglich gewesen, das Familienleben hier in der Schweiz zu vollziehen, zusammen mit den (bei der Rückkehr 1994 allerdings noch nicht geborenen) zwei weiteren Kindern. Der Beschwerdeführer und seine Ehefrau haben jedoch freiwillig einen anderen Weg gewählt. Die Ehefrau ist wieder zurück in den Kosovo gezogen und für 4 bzw. 17 weitere Jahre geblieben, um dort, gemäss den Aussagen des Beschwerdeführers, seine Eltern zu pflegen. Im Gegensatz zu denjenigen Fällen, in denen ein Familiennachzug erstmals beantragt wird, präsentiert sich die Situation demnach vorliegend unterschiedlich. Zwar hatte der Beschwerdeführer im Jahre 1998 versucht, seine Familie nachzuziehen, doch wurde dieses Gesuch mangels bedarfsgerechter Wohnung und genügender finanzieller Mittel abgewiesen.

2.4 Der Beschwerdeführer hat sein zweites Gesuch um Familiennachzug nach der Rückkehr der Ehefrau 1994 erst im September 2011 erneuert. In jenem Zeitpunkt war aber die Frist für R gemäss Art. 47 Abs. 1 AuG bereits abgelaufen. Es stellt sich die Frage, weshalb der Beschwerdeführer sein Gesuch nicht bereits im Jahre 2008 stellte, also noch innerhalb der ordentlichen Frist. Ein Familiennachzugsgesuch im heutigen Zeitpunkt insbesondere betreffend R stellt genau den Fall dar, den die Eidgenössischen Räte mit der Einführung der Fristen nach Art. 47 Abs. 1 AuG verhindern wollten. Auch wenn R in der Zwischenzeit einen Deutschkurs besucht, so hat sie doch die wesentlichen und prägenden Jugendjahre im Kosovo verbracht und hat dort als heute fast 17-jähriges Mädchen praktisch ihr gesamtes soziales Beziehungsnetz. Daran ändert ein Deutschkurs nichts. Auch die Anhörung von R kann unterbleiben, da sie einerseits ihre Meinung mit einem Brief bereits dargelegt hat und andererseits davon ausgegangen werden kann, dass ihre anwaltlich vertretenen Eltern ihre Ansicht auch in diesem Verfahren genügend Ausdruck verleihen können.
Auch die heutige schwierige Betreuungssituation ist letztlich durch den Beschwerdeführer bzw. seine Ehefrau selbst herbeigeführt worden. Nach so langer Trennung wäre es ohne weiteres zumutbar gewesen, dass die Ehefrau des Beschwerdeführers mit den Kindern noch so lange im Kosovo bleibt, bis diese selbständig genug sind, um alleine oder allenfalls unter Beaufsichtigung durch ihre Grosseltern oder andere Verwandte leben zu können. Abgesehen davon aber scheint sich für R doch eine Betreuungssituation ergeben zu haben, soweit dies für eine Siebzehnjährige überhaupt noch notwendig ist. Auch wenn der Beschwerdeführer behaupten lässt, dass seine Schwiegereltern, die aber notabene die Grosseltern von R sind, die Betreuung ablehnten, scheinen sie diese Aufgabe nun doch übernommen zu haben. Dass den Grosseltern diese Betreuung etwa aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich sein sollte, wurde von Seiten des Beschwerdeführers nicht nachgewiesen. Letztlich ist bei den bekanntermassen viel stärkeren Familienbanden, die im Kosovo herrschen, nicht anzunehmen, dass die Grosseltern eine Betreuung verweigern würden.
Es ist sicher nicht Sinn von Art. 47 Abs. 4 AuG, wenn durch den freiwilligen und zeitnahen Wegzug von Mutter und Geschwister vollendete Tatsachen geschaffen werden, um einem fast erwachsenen Kind den Familiennachzug trotz abgelaufener Nachzugsfrist aus familiären Gründen zu ermöglichen.
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers wäre es aber auch ihm selbst zuzumuten, nach 19-jähriger räumlicher Trennung von seiner Familie und 23-jährigem Aufenthalt in der Schweiz wieder in den Kosovo zurückzukehren, um dort die Familienzusammenführung mit allen Familienmitgliedern zu ermöglichen. Bei dieser Betrachtung dürfen wirtschaftliche Gründe letztlich keine Rolle spielen, sei es mit Bezug auf das Einkommen des Beschwerdeführers oder mit Bezug auf die bessere Ausbildungsmöglichkeit von R in der Schweiz. Aus integrationspolitischer Sicht ist der Familiennachzug von R sicher nicht erwünscht. Wenn der Beschwerdeführer geltend macht, durch den Entscheid des Migrationsamtes bzw. des DJS werde seine Familie auseinandergerissen, so ist darauf hinzuweisen, dass diese Situation seit rund 17 bzw. 19 Jahren besteht und vom Beschwerdeführer selbst gewählt wurde. Eine Integration von R in der Schweiz wäre sicher mit ganz erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Zwar weist der Beschwerdeführer auf die in der Schweiz vorhandenen Cousins und Cousinen hin, mit denen R aber albanisch und nicht deutsch sprechen würde. Ein Jahr Deutschkurs genügt nicht, um sich ohne weiteres in der Schweiz zu integrieren. Auch eine Trennung von den Geschwistern, wie dies dargestellt wird, hat bereits stattgefunden, indem das Gesuch für die älteste Tochter bereits zurückgezogen wurde und diese offenbar mit ihrem Verlobten oder Ehemann nun in Italien lebt. Die Entstehungsgeschichte von Art. 47 Abs. 4 AuG sowie Art. 75 VZAE verlangen, dass diese Bestimmung nur äussert zurückhaltend angewandt wird, was in den Weisungen des Bundesamtes auch entsprechend zum Ausdruck kommt. Vorliegend ist kein Fall gegeben, der zwingend gebieten würde, eine Ausnahmebewilligung nach verpasster Frist nach Art. 47 Abs. 1 AuG zu erteilen, auch nicht unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls, weshalb die Beschwerde abzuweisen ist.

Entscheid VG.2012.163/E vom 10. April 2013

Das Bundesgericht hat eine gegen diesen Entscheid erhobene Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit Urteil 2C_485/2013 vom 6. Januar 2013 abgewiesen.

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