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TVR 2015 Nr. 1

Öffentlichkeitsprinzip bei laufenden Verfahren, Feststellungsentscheid.


Art. 30 BV, Art. 320 Abs. 1 StGB, § 4 Abs. 1 Ziff. 2 VRG


1. Über die Frage, ob über ein laufendes Verfahren Auskunft erteilt wird, entscheidet das Verwaltungsgericht mittels anfechtbarem Feststellungsentscheid (E. 1.2).

2. Ob eine bestimmte Person an einem beim Verwaltungsgericht hängigen Verfahren beteiligt ist, stellt ein Geheimnis im Sinne von Art. 320 StGB dar (E. 2.1).

3. Das Öffentlichkeitsprinzip nach Art. 30 BV vermittelt keinen Anspruch auf Auskunft darüber, ob eine bestimmte Person an einem Verfahren beim Verwaltungsgericht beteiligt ist (E. 2.2).


Mit Fax-Schreiben vom 18. Februar 2015 ersuchte der Verein X um Auskunft, ob beim Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau ein Verfahren in Sachen A betreffend Tierhalteverbot hängig sei. Er berief sich dabei auf das Öffentlichkeitsgebot. Mit Schreiben vom 19. Februar 2015 wies der leitende Gerichtsschreiber des Verwaltungsgerichts den Verein X darauf hin, bereits die Tatsache, dass an einem Gericht ein Verfahren hängig sei, unterstehe grundsätzlich dem Amtsgeheimnis. Mit Fax-Schreiben vom 20. Februar 2015 ersuchte der Verein X diesbezüglich um eine anfechtbare Verfügung. Mit Feststellungsentscheid vom 1. April 2015 weist das Verwaltungsgericht das Gesuch des Vereins X ab.

Aus den Erwägungen:

1.
1.1 Der Gesuchsteller verlangt sinngemäss, dass das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau darüber befinde, ob er Anspruch auf Auskunft in Bezug auf die Rechtshängigkeit eines allfälligen Verfahrens in Sachen A habe.

1.2
1.2.1 Gemäss § 4 Abs. 1 Ziff. 2 VRG sind Entscheide unter anderem Anordnungen von Behörden im Einzelfall, welche die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens von Rechten zum Gegenstand haben. Dem Gesuchsteller wurde mit Schreiben vom 19. Februar 2015 formlos mitgeteilt, dass ihm aufgrund des Amtsgeheimnisses keine Auskunft gegeben werden könne. Eine solche Mitteilung erfüllt die Anforderungen von § 18 VRG nicht. Der Gesuchsteller verlangt jedoch eine anfechtbare Verfügung. Zu prüfen ist deshalb, ob der Gesuchsteller Anspruch hat auf die von ihm geforderte Verfügung bzw. auf einen diesbezüglichen Feststellungsentscheid.

1.2.2
1.2.2.1 Realakte sind diejenigen Verwaltungsmassnahmen, die nicht auf einen rechtlichen, sondern einen tatsächlichen Erfolg gerichtet sind. Sie begründen keine unmittelbaren Rechte und Pflichten von Privaten. Als Beispiele für Realakte werden behördliche Information bzw. Warnung, Strassenunterhalt, Kehrichtabfuhr, Betrieb von Elektrizitätswerken, polizeiliche Kontrollen, die Erstellung von Berichten und Vernehmlassungen, die Beantwortung von Fragen und Weiteres genannt (Häfelin/Müller/Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl., Zürich/St. Gallen 2010, Rz. 863 und 874c).

1.2.2.2 Die Mitteilung an den Gesuchsteller, dass seine Frage bezüglich Rechtshängigkeit eines allfälligen Verfahrens in Sachen A aufgrund des Amtsgeheimnisses nicht beantwortet werden könne, ist ein solcher Realakt.

1.2.2.3 Auch reales staatliches Handeln kann ein legitimes Rechtsschutzbedürfnis begründen. Der einzuschlagende Rechtsweg ist in Anbetracht von Realakten jedoch nicht immer einfach und klar vorgegeben, da eigentliche Rechtsmittel regelmässig eine Verfügung oder einen Erlass als Anfechtungsobjekt voraussetzen. Das Bundesgericht hat jedoch anerkannt, dass gewisse Realakte Anspruch auf ein Feststellungsurteil geben können. Ein Feststellungsanspruch kann im thurgauischen Verwaltungsverfahrensrecht aus § 4 Abs. 1 Ziff. 2 VRG abgeleitet werden (vgl. Fedi/Meyer/Müller, Kommentar zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege des Kantons Thurgau, Basel 2014, § 4 N. 11).

1.2.2.4 Durch einen Feststellungsentscheid nach § 4 Abs. 1 Ziff. 2 VRG werden keine neuen Rechte und Pflichten begründet, geändert oder aufgehoben, sondern es wird lediglich die Rechtslage geklärt, indem unter anderem das Nichtbestehen von verwaltungsrechtlichen Rechten und Pflichten verbindlich festgestellt wird. Dem Begehren um Erlass eines Feststellungsentscheides ist zu entsprechen, wenn der Gesuchsteller ein schutzwürdiges Interesse an der Feststellung nachweist. Ein rechtlich geschütztes Interesse ist nicht erforderlich, es genügen tatsächliche, wirtschaftliche oder ideelle Interessen. Zudem muss über den Nichtbestand des Rechts oder der Pflicht Unklarheit bestehen, das Feststellungsinteresse muss aktuell sein und ein konkretes Rechtsverhältnis betreffen (Fedi/Meyer/Müller, a.a.O., § 4 N. 8). Das schutzwürdige Interesse fehlt immer dann, wenn genügender Rechtsschutz gegenüber dem Realakt auf andere Weise möglich ist (Weber-Dürler, in: Auer/Müller/Schindler [Hrsg.], Kommentar zum Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren [VwVG], Zürich/St. Gallen 2008, Art. 25a N. 31).

1.2.2.5 Dem Gesuchsteller wurde die Antwort auf seine Frage bezüglich Rechtshängigkeit eines Verfahrens in Sachen A verweigert. Er hat ein Interesse daran, dass darüber in einem Feststellungsentscheid befunden wird. Dies insbesondere, da ein genügender Rechtsschutz auf andere Weise nicht möglich ist. Vorliegend ist zudem ein ausreichend konkretes Rechtsverhältnis betroffen, das Feststellungsinteresse ist aktuell und es besteht Unklarheit darüber, ob der Gesuchsteller Anspruch darauf hat, die gewünschte Auskunft zu erhalten.

1.2.3 Dem Begehren des Gesuchstellers um Erlass eines Feststellungsentscheides ist damit zu entsprechen.

1.3 (…)

2.
2.1
2.1.1 Nach Art. 320 Abs. 1 StGB ist strafbar, wer das Amtsgeheimnis verletzt, das heisst, wer ein Geheimnis offenbart, das ihm in seiner Eigenschaft als Mitglied einer Behörde oder als Beamter anvertraut worden ist oder das er in seiner amtlichen oder dienstlichen Stellung wahrgenommen hat.

2.1.2 Als Geheimnis gilt jede Tatsache, die nur einem beschränkten Personenkreis bekannt ist und an deren Geheimhaltung der Geheimnisherr ein berechtigtes Interesse hat. Es ist nicht entscheidend, ob die betreffende Tatsache von der zuständigen Behörde geheim erklärt worden ist oder nicht. Entscheidend ist allein, dass es sich um eine Tatsache handelt, die weder offenkundig noch allgemein zugänglich ist (Oberholzer, in: Niggli/Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar zum Strafrecht II, 3. Aufl., Basel 2013, Art. 320 N. 8). Unbeachtlich ist das Interesse Dritter und insbesondere der Öffentlichkeit an der Bekanntgabe der geheimen Tatsache (BGE 127 IV 122 E. 3b/cc). Ein privates Geheimhaltungsinteresse besteht, wenn die Bekanntgabe dem Betroffenen nachteilig sein kann (Trechsel, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, Zürich 2008, Art. 320 N. 5). Geheim sind beispielsweise in der Regel Informationen aus hängigen Strafverfahren (BGE 116 IV 56 E. II.1/a).

Ob ein Verfahren in Sachen A beim Verwaltungsgericht hängig ist, ist eine Tatsache, die nur einem beschränkten Personenkreis bekannt ist. Die Tatsache ist weder offenkundig noch allgemein zugänglich. Nach Angaben des Gesuchstellers würde ein entsprechendes Verfahren ein Tierhalteverbot betreffen. A hat ein berechtigtes Interesse daran, dass ein allfällig gegen ihn laufendes Verfahren betreffend Tierhalteverbot geheim bleibt. Zwar ist bekannt, dass A bereits wegen Tierquälerei und mehrfachem Verstoss gegen das Tierschutzgesetz verurteilt wurde. Dennoch ist nicht auszuschliessen, dass die Bekanntgabe eines laufenden Verfahrens betreffend Tierhalteverbot für ihn nachteilig wäre. Ob ein diesbezügliches Verfahren beim Verwaltungsgericht hängig ist, ist damit ein Geheimnis im Sinne von Art. 320 StGB.

2.1.3 Den Mitgliedern sowie den Angestellten des Verwaltungsgerichts ist es ohne weiteres möglich, in ihrer amtlichen oder dienstlichen Stellung die Rechtshängigkeit eines Verfahrens wahrzunehmen.

2.1.4 Würde damit ein Mitglied oder Angestellter des Verwaltungsgerichts dem Ersuchen des Gesuchstellers nachkommen und ihm Auskunft über die Rechtshängigkeit eines allfälligen Verfahrens in Sachen A geben, so würde derjenige dadurch ein Geheimnis offenbaren, welches dem Amtsgeheimnis untersteht. Die Auskunft erteilende Person würde sich damit strafbar machen.

2.2 Die Strafbarkeit entfiele, wenn ein Gesetz die Offenbarung des Geheimnisses erlauben würde. Nachfolgend ist deshalb zu prüfen, ob ein solches Gesetz existiert.

2.2.1 Nach Art. 30 Abs. 3 BV sind Gerichtsverhandlungen und Urteilsverkündungen öffentlich. Der Grundsatz der Öffentlichkeit bezieht sich sowohl auf die Parteiöffentlichkeit als auch auf die Publikums- und Presseöffentlichkeit (BGE 122 V 47 E. 2c). Entsprechend der Marginalie von Art. 30 BV gilt dies auch für Verfahren vor dem Verwaltungsgericht. Art. 30 Abs. 3 BV garantiert jedoch nicht, dass in allen Verfahren Anspruch auf eine Gerichtsverhandlung besteht (BGE 128 I 288 E. 2.6). Selbst bei Bestehen eines Anspruchs verzichten die Parteien zudem oftmals explizit oder stillschweigend auf eine Verhandlung.

Wie bereits dargelegt, beinhaltet Art. 30 Abs. 3 BV auch die Öffentlichkeit der Urteilsverkündung. Der Teilgehalt der öffentlichen Urteilsverkündung garantiert, dass nach dem Verfahrensabschluss vom Urteil als Ergebnis des gerichtlichen Verfahrens Kenntnis genommen werden kann. Der Anwendungsbereich der Garantie öffentlicher Urteilsverkündung bestimmt sich damit formal nach dem Vorliegen von gerichtlichen Urteilen. Von Art. 30 Abs. 3 BV nicht erfasst sind gerichtliche Verfügungen. Der Anspruch auf Öffentlichkeit bezieht sich zudem einzig auf die Verhandlung und die Urteilsverkündung, das Vorverfahren ist davon ausgeschlossen (Steinmann, in: Ehrenzeller et al. [Hrsg.], St. Galler Kommentar, Die schweizerische Bundesverfassung, 3. Aufl., Zürich/St. Gallen 2014, Art. 30 N. 51 und N. 64).

Der Gesuchsteller verlangt Auskunft über die Hängigkeit eines Verfahrens. Sein Ersuchen betrifft damit nicht das Ergebnis eines allfälligen Verfahrens, sondern bezieht sich auf dessen Vorverfahren. Das Vorverfahren ist jedoch von Art. 30 Abs. 3 BV nicht erfasst. Art. 30 Abs. 3 BV ist damit kein gesetzlicher Rechtfertigungsgrund, welcher die Strafbarkeit der Verletzung des Amtsgeheimnisses bei Auskünften über die Rechtshängigkeit eines Verfahrens ausschliessen würde.

2.2.2 Das vom Gesuchsteller erwähnte Öffentlichkeitsprinzip besagt, dass jede Person grundsätzlich das Recht hat, amtliche Dokumente einzusehen und von den Behörden Auskünfte über den Inhalt amtlicher Dokumente zu erhalten (vgl. Art. 6 Abs. 1 BGÖ). Die Kantone unterstehen dem BGÖ jedoch nicht, unabhängig davon, ob sie Aufgaben wahrnehmen, die ihnen das Bundesrecht überträgt (Stamm-Pfister, in: Maurer-Lambrou/Blechta [Hrsg.], Basler Kommentar zum Datenschutzgesetz und zum Öffentlichkeitsgesetz, 3. Aufl., Basel 2014, Art. 2 BGÖ N. 14). Für das vorliegende Verfahren vor dem Verwaltungsgericht ist damit das BGÖ nicht anwendbar, zumal es gemäss Art. 3 Abs. 1 lit. a Ziff. 5 BGÖ ohnehin nicht gilt für den Zugang zu amtlichen Dokumenten betreffend Verfahren der Staats- und Verwaltungsrechtspflege. Der Kanton Thurgau kennt kein dem BGÖ entsprechendes Gesetz. Das Öffentlichkeitsprinzip gilt vor dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau damit grundsätzlich nicht. Auch das Öffentlichkeitsprinzip ist damit kein Rechtfertigungsgrund, welcher die Strafbarkeit der Verletzung des Amtsgeheimnisses bei Auskünften über die Rechtshängigkeit eines Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht ausschliessen würde.

2.3 Weitere mögliche Gesetze, welche die Offenbarung des Amtsgeheimnisses erlauben würden, sind nicht ersichtlich. Zusammengefasst ist deshalb festzuhalten, dass Auskünfte über die Rechtshängigkeit eines Verfahrens strafbar sind.

2.4 Aufgrund des Amtsgeheimnisses ist dem Gesuchsteller deshalb keine Auskunft über die Rechtshängigkeit eines allfälligen Verfahrens in Sachen A zu erteilen.

Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2015.51/E vom 1. April 2015

Das Bundesgericht hat eine dagegen erhobene Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit Urteil 1C_290/2015 vom 15. Oktober 2015 abgewiesen.

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