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TVR 2017 Nr. 11

Entscheid über eine Sonderschulbedürftigkeit; behinderten Kindern muss nicht ungeachtet von Kostenüberlegungen ein individuell optimiertes Schulangebot zur Verfügung gestellt werden


§ 16 Abs.1 VSG, § 41 VSG, Art. 2 Abs. 1 BehiG, Art. 8 Abs. 2 BehiG, Art. 10 Abs. 1 BehiG, Art. 20 BehiG, Art. 19 BV, § 2 SonderschulV, § 3 Abs. 2 SonderschulV, § 6 Abs. 1 SonderschulV, § 11 SonderschulV


1. Verfahren nach Art. 7 und 8 BehiG sind im Grundsatz unentgeltlich (E. 4).

2. Das Amt für Volksschule entscheidet bei einer separativen oder integrativen Sonderschulung über die Sonderschulbedürftigkeit. Die Eltern und die Schulgemeinde sind bei einer separativen Sonderschulung anzuhören. Es besteht kein Wahlrecht auf eine bestimmte Sonderschule (E. 5).

3. Es ist zwar gerechtfertigt bzw. geboten, für behinderte Kinder einen höheren Schulungsaufwand zu betreiben als für nichtbehinderte, um die behinderungsbedingten Nachteile auszugleichen und eine elementare Chancengleichheit herzustellen. Indes wäre es rechtsungleich, den Behinderten mehr als das für sie Erforderliche zu gewähren, wenn die Nichtbehinderten bloss das für sie Erforderliche erhalten. Behinderten Kindern muss nicht ungeachtet von Kostenüberlegungen ein individuell optimiertes Schulangebot zur Verfügung gestellt werden, wenn gleichzeitig für nichtbehinderte Kinder bloss ein standardisiertes, nicht individuell optimiertes Angebot zur Verfügung gestellt wird (E. 6).


A, geboren 2008, leidet unter dem Down-Syndrom (Trisomie 21). Er wurde während drei Jahren integrativ im Kindergarten in B beschult. Mit Entscheid vom 26. Januar 2016 wies ihn das Amt für Volksschule für die erste Klasse der Sonderschule C zu. Gegen diesen Entscheid erhoben die Eltern von A am 16. Februar 2016 Rekurs beim DEK und beantragten, dass ihr Sohn vollintegriert mit der nötigen Anzahl Assistenzstunden in der Regelschule in B einzuschulen sei. Mit Entscheid vom 14. Juli 2016 wies das DEK den Rekurs unter Auferlegung von Verfahrenskosten vollumfänglich ab. Die dagegen von den Eltern von A erhobene Beschwerde heisst das Verwaltungsgericht teilweise gut und stellt fest, dass dem Beschwerdeführer gemäss Art. 10 Abs. 1 BehiG weder im Rekursverfahren noch im Beschwerdeverfahren Kosten auferlegt werden dürften. In der Hauptsache weist es die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.

Aus den Erwägungen:

4. Das Bundesgericht hat im Bereich der Schulbildung entschieden, dass eine Behinderung im Sinne von Art. 2 Abs. 1 BehiG vorliegt, wenn eine Schulung in der Regelschule nicht möglich ist (vgl. Urteil 2C_588/2011 vom 16. Dezember 2011 E. 3.6), ebenso bei einer stärkeren Defizienz (etwa der Hörfähigkeit), die nicht einfach ausgeglichen werden kann (vgl. Urteil 2C_154/2009 vom 28. September 2009 E. 4). Der Beschwerdeführer leidet am Down-Syndrom. Damit gilt er als Mensch mit Behinderung im Sinne von Art. 2 Abs. 1 BehiG (vgl. dazu auch Entscheid des Zürcher Verwaltungsgerichts VB.2012.00301 vom 24. Oktober 2012, E. 4). Das Behindertengleichstellungsgesetz vermittelt Behinderten gewisse Rechtsansprüche bei Bauten, Einrichtungen oder Fahrzeugen (Art. 7 BehiG) und Dienstleistungen (Art. 8 BehiG). So kann etwa, wer durch das Gemeinwesen im Sinne von Art. 2 Abs. 5 BehiG (also bei der Inanspruchnahme von Aus- und Weiterbildung) benachteiligt wird, verlangen, dass das Gemeinwesen die Benachteiligung beseitigt oder unterlässt (Art. 8 Abs. 2 BehiG). Entsprechende Verfahren nach Art. 7 und 8 BehiG sind im Grundsatz unentgeltlich (Art. 10 Abs. 1 BehiG). Vom Geltungsbereich des Behindertengleichstellungsgesetzes erfasst wird auch die Aus- und Weiterbildung (Art. 3 lit. f BehiG), und zwar in erster Linie mit Bezug auf die Angebote des Bundes. Für die Kantone beschränkt sich der Geltungsbereich des Gesetzes auf den Bereich der Grundschule (Urteil des Bundesgerichts 2D_7/2011 vom 19. Mai 2011 E. 2.4).

5.
5.1 Für das Schulwesen sind die Kantone zuständig (Art. 62 Abs. 1 BV). Sie sorgen für einen ausreichenden, an öffentlichen Schulen unentgeltlichen Grundschulunterricht, der obligatorisch ist und allen Kindern offen steht (Art. 19 und Art. 62 Abs. 2 BV). Die Kantone sorgen sodann für eine ausreichende Sonderschulung aller behinderten Kinder und Jugendlichen bis längstens zum vollendeten 20. Lebensjahr (Art. 62 Abs. 3 BV). Gemäss Art. 20 BehiG sorgen die Kantone dafür, dass behinderte Kinder und Jugendliche eine Grundschulung erhalten, die ihren besonderen Bedürfnissen angepasst ist (Art. 20 Abs. 1 BehiG). Sie fördern, soweit dies möglich ist und dem Wohl des behinderten Kindes oder Jugendlichen dient, mit entsprechenden Schulungsformen die Integration behinderter Kinder und Jugendlicher in die Regelschule (Art. 20 Abs. 2 BehiG). Insbesondere sorgen sie dafür, dass wahrnehmungs- oder artikulationsbehinderte Kinder und Jugendliche und ihnen besonders nahestehende Personen eine auf die Behinderung abgestimmte Kommunikationstechnik erlernen können (Art. 20 Abs. 3 BehiG). Art. 20 BehiG konkretisiert die Grundsätze von Art. 19 und Art. 62 Abs. 3 BV, geht aber kaum über sie hinaus (BGE 138 I 162 E. 3.1). Im Rahmen dieser Grundsätze haben die Kantone einen erheblichen Gestaltungsspielraum (BGE 133 I 156 E. 3.1; 130 I 352 E. 3.2). Das gilt auch für die Sonderschulung. Der verfassungsrechtliche Anspruch umfasst nur ein angemessenes, erfahrungsgemäss ausreichendes Bildungsangebot an öffentlichen Schulen. Ein darüber hinausgehendes Mass an individueller Betreuung, das theoretisch immer möglich wäre, kann mit Rücksicht auf das staatliche Leistungsvermögen nicht gefordert werden (BGE 130 I 352 E. 3.3; 129 I 12 E. 6.4). Der verfassungsmässige Anspruch auf unentgeltlichen Grundschulunterricht ist - auch bei behinderten Kindern - nicht gleichbedeutend mit dem Anspruch auf die optimale bzw. geeignetste Schulung eines Kindes (BGE 138 I 162 E. 3.2). Wenn das an öffentlichen Schulen angebotene Bildungsangebot angemessen und ausreichend ist und die Integration des behinderten Kindes fördert, besteht kein bundesrechtlicher Anspruch auf Finanzierung einer privaten Sonderschulung (Urteil des Bundesgerichts 2C_686/2012 vom 13. Juni 2013 E. 4.1.1 mit Hinweisen).

5.2 Im Kanton Thurgau kann der Regierungsrat Bildungsaufgaben für Kinder mit besonderen Bedürfnissen, namentlich für behinderte oder für besonders begabte Kinder, kantonal selbst erfüllen oder einzelnen Gemeinden oder privaten Institutionen übertragen (§ 16 Abs. 1 VSG). Wird bei einem Kind ein besonderer Förder- oder Unterstützungsbedarf festgestellt, sind sonderpädagogische Massnahmen zu ergreifen. Soweit es möglich ist und dem Wohl des Kindes dient, sind sonderpädagogische Massnahmen im Rahmen der Regelschule integrativ oder separativ durchzuführen (§ 41 Abs. 1 und 2 VSG).

5.3 Die Sonderschulung umfasst namentlich die praktische bzw. theoretische Förderung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen (§ 2 SonderschulV). Das Amt für Volksschule entscheidet über die Massnahmen nach der SonderschulV (§ 3 Abs. 1 SonderschulV). Sonderschulen sorgen für eine den besonderen Bedürfnissen angepasste praktische, schulische und therapeutische Förderung und gewährleisten die erforderliche Betreuung und Erziehung (§ 6 Abs. 1 SonderschulV). Das Amt entscheidet bei einer separativen oder integrativen Sonderschulung über die Sonderschulbedürftigkeit (§ 11 Abs. 1 Ziff. 1 und Abs. 4 Ziff. 1 SonderschulV). Die Eltern und die Schulgemeinde sind bei einer separativen Sonderschulung anzuhören. Es besteht kein Wahlrecht auf eine bestimmte Sonderschule (§ 11 Abs. 2 SonderschulV).

6.
6.1 Das verfahrensbeteiligte Amt hat vorliegend zu Recht über die Sonderschulung des Beschwerdeführers entschieden, denn gemäss § 3 Abs. 1 und § 11 Abs. 1 Ziff. 1 SonderschulV ist das Amt dafür zuständig.

6.2 Das verfahrensbeteiligte Amt hat entschieden, dass der Beschwerdeführer nicht in einer integrativen Regelklasse mit Assistenzstunden (wie beantragt), sondern in einer Sonderschule beschult werden muss. Dabei hat es insbesondere auf den Abklärungsbericht der Schulpsychologin D vom 8. Januar 2016 abgestellt. Daraus geht hervor, dass beim Beschwerdeführer gewisse Entwicklungsschritte in den Bereichen Sprache, Feinmotorik und Kognition erreicht werden konnten. Im Bereich der Selbständigkeitsentwicklung und den Sozialkompetenzen habe er aber immer wieder viel Anleitung und Unterstützung gebraucht. Die Integration in die Gruppe sei insgesamt nicht wunschgemäss gelungen. Es seien wiederholt Anpassungen und Interventionen notwendig geworden, um das Miteinander zwischen dem Beschwerdeführer und den anderen Kindern zu begleiten. Es sei auch zu krisenhaften Situationen gekommen, in denen das Wohl des Beschwerdeführers und jenes der anderen Kinder in Gefahr gewesen sei. Der Beschwerdeführer sei mit verschiedenen Massnahmen (heilpädagogische Früherziehung, Logopädie, SHP, Physiotherapie) unterstützt worden. Es wurde zudem festgestellt, dass der Beschwerdeführer (weiterhin) sonderschulbedürftig sei. Er müsse sehr eng betreut und auch regelmässig separiert werden. In diesem Setting sei der Aufbau von bereichernden Kontakten zu Gleichaltrigen nicht möglich. Es werde deshalb empfohlen, den Beschwerdeführer einer geeigneten Sonderschule zuzuweisen.

6.3 Die Schulpsychologin D hat sich individuell mit dem Beschwerdeführer befasst, die Vorgeschichte aufgearbeitet und eine entsprechende Empfehlung abgegeben. Die Vorinstanzen durften somit ohne weiteres auf den Bericht abstellen und von weiteren Erhebungen absehen. Massgebend ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Schulbehörde B (…) in ihrer Vernehmlassung vom 23. September 2016 klar ausgeführt hat, dass einstimmig entschieden worden sei, die weitere Vorbereitung der integrativen Sonderbeschulung des Beschwerdeführers ab dem Schuljahr 2016/17 in der ersten Klasse zu stoppen und den Entscheid in Richtung Sonderbeschulung mitzutragen. Aus dieser eindeutigen Stellungnahme ist ersichtlich, dass die involvierten Personen den Entscheid der Sonderbeschulung akzeptieren und eine integrative Beschulung im vorliegenden Fall nicht als sinnvoll erachten. Auch aus dem Bericht des Therapiezentrums E zeigt sich im Übrigen dass beim Beschwerdeführer eine extrem ausgeprägte verbale Dyspraxie vorliegt, und dass die Leistungen konsequent eingefordert werden müssen. Wie dies im Rahmen einer integrativen Beschulung möglich sein sollte, wird im Bericht nicht weiter ausgeführt und es ist auch nicht ersichtlich, inwiefern eine gezielte separative Sonderbeschulung den Beschwerdeführer in seiner Entwicklung hemmen sollte. Auch die Integration im Kindergarten funktionierte denn nur teilweise und nur durch eine sehr enge Betreuung und regelmässige Separierung, weshalb eine separative Sonderschulung angezeigt ist. Dies einerseits, um den Beschwerdeführer bestmöglich zu fördern, und um andererseits den Unterricht in der Regelschule nicht zu stören. Die für den Beschwerdeführer in Berücksichtigung seiner Behinderung angeordnete separative Sonderschulung erweist sich als angemessen. Die Eltern des Beschwerdeführers haben dem Gericht denn auch kein anderslautendes entwicklungspädiatrisches Gutachten mehr eingereicht. Gründe, die gegen die Sonderschule C als solche sprechen, werden vom Beschwerdeführer im Übrigen nicht geltend gemacht. Für jeden Schüler wäre im Übrigen ein individualisierter Unterricht wünschenswert, doch besteht nur Anspruch auf eine angemessene Schulung. Mit der Rechtsgleichheit wäre es nicht vereinbar, ohne sachlichen Grund den einen wesentlich mehr Leistungen zu erbringen als anderen. Es ist zwar gerechtfertigt bzw. geboten, für behinderte Kinder einen höheren Schulungsaufwand zu betreiben als für nichtbehinderte, um die behinderungsbedingten Nachteile auszugleichen und eine elementare Chancengleichheit herzustellen. Indes wäre es rechtsungleich, den Behinderten mehr als das für sie Erforderliche zu gewähren, wenn die Nichtbehinderten bloss das für sie Erforderliche erhalten. Behinderten Kindern muss nicht ungeachtet von Kostenüberlegungen ein individuell optimiertes Schulangebot zur Verfügung gestellt werden, wenn gleichzeitig für nichtbehinderte Kinder bloss ein standardisiertes, nicht individuell optimiertes Angebot zur Verfügung gestellt wird (BGE 138 I 162 E. 4.6.1 f.).

Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2016.126/E vom 21. Dezember 2016

Das Bundesgericht hat eine dagegen erhobene Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit Urteil 2C_154/2017 vom 23. Mai 2017 abgewiesen, soweit es darauf eingetreten ist. Dabei hat es insbesondere auch die Unentgeltlichkeit des Rekursverfahrens bestätigt.

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